KAPITEL 12

Am darauffolgenden Tag - Morgenandacht und Frühstück lagen hinter ihnen - stand Bruder Chilperic vor dem Refektorium und passte Fidelma und Eadulf ab. Er war merklich nervös.

»Bischof Leodegar wünscht euch so bald wie möglich in seinen Gemächern zu sehen.« Auch sein Tonfall war aufgeregt.

»Dem hat die Äbtissin zugesetzt«, murmelte Eadulf.

Der Bischof empfing sie verstimmt.

»Äbtissin Audofleda hat sich bei mir beschwert.«

Fidelma ließ sich von seiner missmutigen Art nicht einschüchtern, machte eher ein besorgtes Gesicht und schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ich wollte ohnehin mit dir über diese Frau sprechen, ehe wir unseren Bericht nach Rom senden.«

»Beleidigt hättet ihr sie und vergessen, dass ...«, legte er los, hielt aber im gleichen Moment erschrocken inne. »Bericht nach Rom? Das bedarf einer Erklärung.«

»An sich wollte ich unverzüglich mit dir über sie reden, aber dann lief ich einem alten Freund von mir in die Arme, dem Emissär des Bischofs von Rom.«

»Dem Nuntius Peregrinus?« Bischof Leodegars Ton wurde etwas verbindlicher. »Du kennst ihn? Davon hat er mir nichts gesagt.«

»Selbstverständlich kenne ich ihn. Wie gesagt, ich wollte dir mein Befremden über das Gebaren der abbatissa nicht vorenthalten, aber nachdem ich ihm wiederbegegnete, fand ich es richtiger, ihn davon in Kenntnis zu setzen und meine Beschwerde an Rom zu richten.«

Bischof Leodegar war bestürzt. »Beschwerde? Wieso Beschwerde? Beschwert hat sich Äbtissin Audofleda, und zwar über euch.«

Gleichgültig zuckte Fidelma mit den Schultern. »Das wundert mich nicht. Für sie ist Angriff die beste Verteidigung. Aber was mich betrifft, kann ich nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Es gibt Dinge, über die ich nicht hinwegsehen kann.«

»Nicht darüber hinwegsehen? Was soll das heißen?« »Wenn ich mich recht erinnere, hast du davon gesprochen, dass diese Abtei - genau genommen beide Gemeinschaften, die der Ordensbrüder und Ordensschwestern - die Regel des Benedikt angenommen haben.«

Er nickte langsam.

»Dann solltest du von Äbtissin Audofleda verlangen, dass sie sich daran hält. Schließlich heißt es dort, eine abbatissa dürfe nicht vergessen, dass sie im Namen Christi handelt, stets eingedenk des höchsten Richterspruchs, der sie erwartet, wenn sie ihre Arbeit nicht wie ein armer und demütiger Landmann, der sich auf dem Acker plagt, verrichtet. Von Anfang an behandelte sie uns mit einer unbeschreiblichen Herablassung. Und als ich ihr sagte, wir würden in deinem Auftrag sprechen, denn du hättest uns die Befugnis erteilt, dem unnatürlichen Tod von Abt Dabhoc nachzugehen, lehnte sie jegliche Hilfestellung ab. Ich frage mich, wer leitet eigentlich die Gemeinschaft? Du oder Äbtissin Audofleda?«

Bischof Leodegar wurde rot. »Äbtissin Audofleda leitet das domus feminarum, aber unter meiner Zuständigkeit«, erwiderte er, in seinem Eifer gedämpft. »Sie hat mir die Sache anders dargestellt.«

»Das war zu erwarten. Ich lege Wert darauf, dass man ihr ihre Rolle und den Sinn der Regula in aller Deutlichkeit klarmacht, denn sie hat dich als ihren Vorgesetzten übergangen.«

Darauf bedacht, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, versuchte Bischof Leodegar, wieder auf seine eigentliche Beschwerde zurückzukommen. »Äbtissin Au-dofleda hat gesagt .«

»Wie sie es dir dargestellt hat, interessiert mich wenig«, fiel ihm Fidelma ins Wort. »Es ist ärgerlich genug, dass sie als Leiterin der Schwesternschaft Stellung und Pflichten derart missachtet, dass sie sich der Befugnis, die du uns erteilt hast, einfach widersetzt. Ist es eine kluge Entscheidung, eine Frau mit ihrem Hintergrund, ohne jede Ausbildung oder frühere Erfahrung im Klosterleben, mit der Leitung des domus feminarum zu betrauen?« Eigentlich äußerte sich Fidelma nie in einer solchen Art und Weise über die Vergangenheit einer Frau, aber wenn sie es tat, dann hatte es seinen Grund. Sie hatte Bischof Leodegar aufgerüttelt, und er war nun bemüht, mit der für ihn unerquicklichen Situation fertig zu werden.

»Äbtissin Audofleda sagt .«, fing er wieder an.

»Und ich sage, dass mich ihre Vorwürfe nicht weiter treffen. Was mich erzürnt, ist ihre Handlungsweise, und für mich steht fest, dass sie einen schwerwiegenden Fehler begeht. Wenn Nuntius Peregrinus nach Rom zurückkehrt, werde ich ihn bitten, meinem guten Freund, dem nomenclatorSeiner Heiligkeit, über die Situation hier Bericht zu erstatten.«

Bischof Leodegar blieb der Mund offen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Dem nomenclator?«, krächzte er.

»Ja, dem Ehrwürdigen Gelasius. Als ich in Rom war, habe ich Ermittlungen für ihn geführt. Ich dachte, das wäre dir bekannt. Ich werde Nuntius Peregrinus bitten, einen Brief an den Ehrwürdigen Gelasius mitzunehmen, der ihn über die Verhältnisse informiert, die ich hier vorgefunden habe und die meiner Meinung nach überprüft werden sollten.« Bischof Leodegar war betroffen.

»Der Ehrwürdige Gelasius«, murmelte er. Ganz offensichtlich wusste er um den Ruf des nomenclator im LateranPalast.

»Ich nehme an, du kennst ihn?«, forschte Fidelma.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe von ihm Anweisungen bekommen, wie das Konzil abzuhalten ist ... Sendschreiben, die er im Auftrag des Heiligen Vaters geschickt hat.« »Als nomenclator ist er derjenige, der alle Beschwerden und Bittschriften erhält und den Bischof von Rom berät, wie er mit ihnen verfahren sollte. Meiner Meinung nach sollte der Ehrwürdige Gelasius wissen, wie das Oberhaupt einer der Gemeinschaften seine Arbeit tut, besonders wenn es um die Abtei geht, die gegenwärtig das Zentrum einer entscheidenden Debatte über die Zukunft der westlichen Kirchen ist. Wüsste man um die Tatsache, könnte es durchaus sein, dass man die Weisungskraft des Konzils in Frage stellt.«

Verzweifelt rang Leodegar die Hände. Ganz gegen seine Gewohnheit schlug er einen versöhnlichen Ton an.

»Da muss ein Missverständnis vorliegen, Schwester. Könntest du die Haltung der Äbtissin nicht falsch verstanden haben?«

Fidelma gab sich überrascht. »Im Gegenteil. Deutlicher konnte Äbtissin Audofleda ihre Auffassung gar nicht zum Ausdruck bringen.«

»Vielleicht war sie einem Irrtum erlegen. Ich hatte nicht persönlich mit ihr gesprochen, und mein Verwalter, Bruder Chilperic, hat ihr die Sachlage möglicherweise nicht deutlich genug erklärt.«

Fidelma blieb hart.

»Für meine Begriffe wusste sie sehr wohl Bescheid und brachte das auch mehr als deutlich zum Ausdruck. Außerdem hattest du am Tage unserer Ankunft den Sinn und Zweck unseres Aufenthaltes beim Abendgebet erläutert.« Wie die meisten selbstherrlichen Menschen hatte auch der Bischof gewaltigen Respekt vor Leuten, die ihm an Macht und Einfluss überlegen waren.

»Ich könnte doch Äbtissin Audofleda den Sachverhalt noch einmal darlegen«, schlug er einlenkend vor. »Ich würde es diesmal auch persönlich tun. Könnten wir das mit dem Brief an den Ehrwürdigen Gelasius nicht sein lassen? Angesichts dessen, was sich Rom von dem Konzil hier erhofft, könnte der Zeitpunkt für ein solches Schreiben gar nicht unpassender sein. Ich schlage vor, wir warten mit der Entscheidung darüber, bis der Nuntius sich auf den Weg nach Rom macht. Was hältst du davon?«

Eadulf, der das Gespräch mit stillem Vergnügen verfolgt hatte, sah jetzt den Moment für gekommen, seine Rolle in dem Spiel zu übernehmen. »Vielleicht hat Bischof Leode-gar recht«, sagte er mit Nachdruck. »Vielleicht hat sich die Äbtissin tatsächlich aus Unwissenheit falsch verhalten, dann wäre es nicht richtig, die ganze Gemeinschaft deswegen zu maßregeln. Ich denke, wir könnten es dem Bischof anheimstellen, sie wegen ihrer Verhaltensweise zur Rechenschaft zu ziehen.«

Bischof Leodegars Gesichtszüge hellten sich auf. »Ich bin zuversichtlich, sie zu einer bereitwilligen Mitarbeit zu gewinnen, und werde sie in eurem Sinne tadeln.«

»Das heißt, sie wird Bruder Eadulf und mir den Zugang zum domus feminarum gestatten, um auch dort unsere Nachforschungen zu betreiben?«, vergewisserte sich Fidelma.

Zum Einverständnis neigte er ergeben den Kopf.

Fidelma zögerte noch ein wenig, gab dann aber aufseufzend nach.

»Also gut. Das mit dem Beschwerdebrief stelle ich einstweilen zurück. Wir werden die Angelegenheit erneut überdenken, wenn die Zeit gekommen ist, Rom über den Ausgang des Konzils Bericht zu erstatten. Da fällt mir ein, einer der Zeugen, die ich befragt habe, ist der Schreiber Bruder Sigeric. Er war ausgesprochen hilfreich. Ich lege Wert darauf, dass ihm kein Ungemach widerfahrt.« Bischof Leodegar kniff die Augen zusammen. »Ihm kein Ungemach widerfährt?«, fragte er vorsichtig.

Fidelma machte eine Geste, die alles und nichts bedeuten konnte. »Vielleicht habe ich mich ein wenig grob ausgedrückt. Ich wollte lediglich sagen, dass für meinen Abschlussbericht sein Wohlbefinden von Bedeutung ist.«

Sie sahen sich in die Augen, und ohne Frage verstand der Bischof, was sie gemeint hatte. Er war der Erste, der den Blick abwandte.

»Es gibt keinen Anlass zu befürchten, dass Bruder Sigeric etwas zustoßen könnte«, sagte er entschieden. »Ich werde dafür Sorge tragen.«

»Das ist gut. Damit wäre alles gesagt.«

Sie drehte sich um und wollte gehen, aber der Bischof hielt sie zurück.

»Ich bitte um einen weiteren Moment, Fidelma. Da ist noch eine andere Sache. Gräfin Beretrude hat alle Teilnehmer des Konzils zu einem Empfang in ihre Villa gebeten, nur ein kurzes Stück Fußweg von hier. Sie ist die Mutter von Graf Guntram, unserem Gaugrafen. Natürlich hätte es sich gehört, dass Guntram die ausländischen Gäste zum Empfang lädt, aber .« Er zuckte mit den Schultern. »Graf Guntram nimmt derartige Aufgaben nicht gerade ernst, und oft empfängt seine Mutter herausragende Gäste in seinem Namen. Auch du und Bruder Eadulf, ihr seid beide geladen.«

»Wir nehmen die Einladung mit Freuden an. Wann soll der Empfang sein?«

»Heute am späten Nachmittag. Ich habe alle gebeten, sich im anticum einzufinden, sowie sie die Glocke läuten hören.«

»Dann würden wir gern noch vorher mit Äbtissin Audofleda sprechen.«

Prompt setzte er eine bedauernde Miene auf.

»Zuvor müsste ich sie selbst sehen, um ihr den Vorfall zu erklären, aber vor heute Abend ist das nicht möglich, da sie sich anderen Aufgaben widmen muss. Lässt sich eure Begegnung bis morgen früh verschieben? Ich versichere, dass es dann in Ordnung geht.«

Fidelma sah ein, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mit dem Aufschub einverstanden zu erklären.

»Ich kümmere mich darum«, versprach der Bischof. »Gräfin Beretrude wird es ein Vergnügen sein, euch heute Abend willkommen zu heißen. Als sie von eurer Ankunft in Autun hörte und davon, dass ihr in Sachen Abt Dabhoc ermittelt, hat sie ausdrücklich auf eure Gegenwart Wert gelegt. Auch hat sie ihre Einladung auf alle Frauen ausgedehnt, die in Begleitung der Gesandten angereist sind. Sie ist sich wohl bewusst, dass in anderen Ländern andere Sitten herrschen, und hat äußerst liberale Vorstellungen.« »Wir werden sie nicht enttäuschen.«

Draußen vor dem Gemach des Bischofs musste Eadulf lachen. »Das war ein gekonntes Stück Diplomatie«, sagte er anerkennend.

Fidelma spielte die Sache mit einem alten Sprichwort ihres Volkes herunter: »Cain cach sai, discir cach dai.« Eadulf hatte Schwierigkeiten, es richtig zu deuten.

»Der kluge Mann ist höflich, der Tor spuckt große Töne.« »Du hältst den Bischof für einen Toren?«

»Für töricht genug, nicht zu begreifen, dass ein kluger Mensch ihn in seiner Anmaßung durchschaut. Doch das lässt mich meine bisherige Einschätzung seiner Person überdenken .«

»Inwiefern?«

»Ich hatte das Gefühl, so, wie sich der Bischof gab, machte er sich äußerst verdächtig, in die Geschichte mit verwickelt zu sein. Wenn ich es mir aber recht überlege .« »Kommt dir was anderes in den Sinn?«

»Wenn er mit drinsteckt, würde er sich anders verhalten und vermeiden, irgendeinen Verdacht zu erregen. Also ist er entweder tatsächlich ein Tor, oder er ist .«, sie suchte nach dem passenden Wort, « ... aneladnach.« »Ungehobelt? Ohne Geschick im Umgang?« Eadulf versuchte, eine lateinische Entsprechung dafür zu finden. »Oder meinst du arglos? Das wäre nicht dasselbe wie töricht.«

»Für manche Leute vielleicht nicht», entgegnete Fidelma. »Was ich damit sagen will ist, er spürt vielleicht gar nicht, dass er sich falsch verhält. Vielleicht hat das etwas mit seinem kulturellen Hintergrund zu tun.«

Eadulf krauste die Nase, denn die Sitten und Anschauungen der Franken waren denen seines Volkes nicht unähnlich.

Sie durchquerten das anticum, wo Eadulf Bruder Chilpe-ric, den Verwalter, entdeckte, der sich mit einem Möbelstück abmühte.

»Da hätten wir einen, der über Leodegars Kultur Bescheid wissen dürfte«, sagte er.

Auch Bruder Chilperic hatte sie bemerkt und sah überrascht auf. Zweifelsohne ging er davon aus, dass der Bischof sie energisch zurechtgewiesen hatte, und war nun unsicher, wie er ihnen begegnen sollte.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte er sich, als sie auf ihn zukamen.

»Gibt es einen Grund, etwas anderes zu denken?«, entgegnete Fidelma unschuldig.

»Ich hatte den Eindruck, der Bischof war über irgendetwas verärgert, deshalb habe ich gefragt«, erwiderte der Verwalter, jetzt schon etwas lockerer.

»Grund zur Verärgerung hatten wir«, erklärte Eadulf.

»Wir hatten das Gefühl, dass man unseren Nachforschungen nicht den nötigen Ernst entgegenbringt.«

»Das glaube ich nicht«, beeilte sich Bruder Chilperic zu sagen. »Die Gemeinschaft ist ehrlich besorgt und erwartet nichts sehnlicher als eure Ergebnisse. Bischof Ordgar schreitet in seinem Zimmer wie ein eingesperrter Löwe rastlos auf und ab, und Abt Cadfan verfügt in mehreren Sprachen über ein erstaunliches Vokabular; ich danke Gott, dass keine Frauen da sind, die das mit anhören müssen . Da kann ich dich nur um Nachsicht bitten, Schwester«.

Fidelma lachte. »Ich kann mir Abt Cadfans Wortwahl gut vorstellen, egal in welcher Sprache. Es ist ja auch nicht leicht, unter Verdacht zu stehen und die ganze Zeit in einem einzigen Raum festgehalten zu werden. Wenn ich die Sache anders handhaben könnte, würde ich es gern tun. Aber was würde dabei herauskommen, wenn die beiden Prälaten sich frei bewegen könnten? Dass sie aufeinandertreffen, ließe sich kaum vermeiden, und nach dem, was sich vorher zwischen ihnen abgespielt hat, dürfte die Begegnung nicht gerade freundschaftlich ausfallen.«

Bruder Chilperic hing eine Weile dem Gedanken nach und nickte dann.

»Vermutlich würden sie aufeinander losgehen, und wir hätten den nächsten Toten. Bischof Ordgar ist übrigens außer sich, dass man ihm die Teilnahme an Gräfin Beret-rudes Empfang verwehrt.«

»Solange die Untersuchung nicht abgeschlossen ist, scheint es mir nicht ratsam, sie gemeinsam irgendwohin einzuladen. Und nur einen von beiden zum Empfang gehen zu lassen, würde unweigerlich den Eindruck erwecken, dass man den anderen für schuldig hält«, legte Fidelma dar. »Ist denn der Empfang von so großer Bedeutung?«

Eadulf durchschaute sofort, worauf sie aus war. Sie wollte Näheres erfahren.

»Gräfin Beretrude hält es als Mutter unseres Gaufürsten für angemessen, dass die Gäste, die sich hier versammeln, um Fragen des Glaubens zu erörtern, offiziell begrüßt werden.«

»Wird Graf Guntram bei dieser Begrüßungsfeier ebenfalls zugegen sein?«

Der Verwalter war peinlich berührt.

»Graf Guntram ist ein junger Mann, der, wie ich leider zugeben muss, seine Herrscherpflichten nicht gerade ernst nimmt. Man wird über seine Abwesenheit hinwegsehen müssen. Von den Jahren her ist er erwachsen genug, aber seine Leidenschaft gilt der Jagd, dem Wein und .« Er dämpfte seine Stimme. »Er ist leider kein guter Vertreter der Burgunden.«

»Seit wann steht Burgund unter der Herrschaft der Franken?«, wollte Eadulf wissen. »Man spürt immer noch einen gewissen Groll zwischen den Burgunden und Franken.«

»Unsere Unabhängigkeit haben wir erst vor wenigen Generationen verloren.«

»Du bist demnach selbst Burgunde?«, vergewisserte sich Fidelma.

Bruder Chilperic streckte sich selbstbewusst. »Ich bin stolz darauf, dass ich von Gundahar abstamme, dem Begründer unserer Nation«, bekannte er feierlich.

»Jetzt werdet ihr aber von den Franken regiert.«

»Das Heer der Franken hat Gudomar, unseren letzten König, und unsere Kämpfer besiegt. Aber unseren Namen und unsere Identität haben wir uns erhalten. Wir sind Burgunden.«

Fidelma überlegte. »Willst du damit sagen, dass ihr - die Burgunden - lieber eigenständig, unabhängig von den fränkischen Herrschern leben würdet?«

»Vita non est vivere, sedvalere vita est!«, erklärte Bruder Chilperic mit fester Stimme. Das Leben besteht nicht nur darin zu leben, sondern auch stark und tatkräftig zu sein. »Und du hast das Gefühl, die Burgunden können unter der Herrschaft der Franken nicht gut leben und tatkräftig sein?«

»Nicht ich allein empfinde das so, sondern die Mehrheit meines Volkes. Unser Problem ist, dass Burgund schon so lange unter dem Joch der fränkischen Könige sein Dasein fristet, dass wir fast vergessen haben, dass wir Burgunden sind. Das Volk braucht etwas Symbolträchtiges, das es wieder aufrichtet.«

»Glaubst du, so etwas wird geschehen?«, fragte Eadulf. Bruder Chilperic machte eine wenig zuversichtliche Geste. »Wer weiß das schon? Es geht da ein Gerücht um .« Er blickte verstohlen in die Runde. »Ihr müsst das für euch behalten, Bischof Leodegar ist Franke und steht der königlichen Familie der Franken sehr nahe.«

»Wir möchten nur die Dinge verstehen lernen«, versicherte ihm Fidelma. »Leodegar wird nichts von dem, was du uns erzählst, erfahren. Was ist das also für ein Gerücht?« »Vielleicht habt ihr schon von dem heiligen Benignus gehört, der den Glauben hierherbrachte und als Märtyrer starb«, flüsterte er. »Vor ein paar Monaten vernahm ich zum ersten Mal ein Gerücht, das unter den Bauern von Mund zu Mund ging: Der wahre König der Burgunden würde eines Tages wieder auferstehen mit dem Symbol des Benignus und das Volk darin bekräftigen, seine Freiheit wiederzuerlangen.«

»Und das Gerücht hält sich hartnäckig?« Fidelma war bemüht, nicht erkennen zu lassen, dass sie die Sache brennend interessierte.

»Es ist nur eins von vielen. Bauern träumen immer ein wenig.« Er lachte bitter auf. »Aber wir müssen die Wirklichkeit im Auge haben.«

»Und die sieht wie aus?«

»Wir sind nur ein kleines Volk. Die Franken sind viele -Austrasien und Neustrien umzingeln und überfluten uns wie ein Meer. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Los hinzunehmen.«

»Hast du uns nicht erzählt, dass du schon hier in der Abtei gelebt hast, bevor Bischof Leodegar kam?«

»Ich bin in dieser Stadt geboren und mit fünfzehn Jahren in das Kloster eingetreten. Hier habe ich meine .« Er verstummte, und leichte Röte stieg in seine Wangen. »Zur Verschwiegenheit besteht kein Grund«, half Fidelma verständnisvoll nach. »Es ist kein Verbrechen, geheiratet zu haben. Nur in den Augen von Bischof Leodegar und nach der von ihm eingeführten neuen Regel ist das so. Du wolltest gewiss sagen, du hättest hier im Kloster deine Frau kennengelernt?«

Er nickte langsam.

»Und ihr wart als Mann und Frau miteinander zufrieden und dientet dem Glauben in der Gemeinschaft hier, bis Bischof Leodegar erschien?«

»Wir waren zufrieden, weil wir nichts von unserem Fehlverhalten ahnten.«

»Und wer hat euch von dem Fehlverhalten gesprochen?« Ihre Frage erstaunte den jungen Mann. »Bischof Leodegar natürlich, der hat uns die Ordensregel auseinandergesetzt.« »Die Regula ist das eine, aber wer hat euch gesagt, dass es der einzige Weg ist, den Glauben zu leben?« Bruder Chilperic zögerte von neuem. »Du musst wissen, der Bischof rief uns zusammen, unterwies uns in dem einzig wahren Weg und vollzog unsere Trennung; wir mussten uns von unseren Frauen scheiden lassen, damit sie im domus feminarum Aufnahme fanden.«

»Und Gott sagte: >Wer hat euch gesagt, ihr wäret nackt?<«, murmelte Eadulf vor sich hin.

»Was?«, fragte Bruder Chilperic und runzelte die Stirn. »Mir kam nur eine Zeile aus der Heiligen Schrift in den Sinn«, bekannte Eadulf, »nichts weiter von Belang.«

»Als man euch so belehrt hatte, haben du und deine Frau beschlossen, euch scheiden zu lassen«, nahm Fidelma den Faden wieder auf.

»Was blieb uns denn weiter übrig.«

»Und deine Frau ging ins domus feminarum?«

»Ja.«

»Und ist noch immer dort?«

»O ja.«

»Und du hast sie seither nicht mehr gesehen, obwohl sie ganz in deiner Nähe ist?«

»O doch, ich sehe sie hin und wieder, weil unsere Aufgaben es erforderlich machen, gelegentlich etwas abzusprechen.«

»Ich dachte, zwischen den beiden Gemeinschaften ist jeder Verkehr untersagt?«, fragte Fidelma erstaunt nach. »Ich bin hier Verwalter.«

»Und deine Frau?«

»Ist die Verwalterin des domus feminarum.«

»Schwester Radegund ist deine Frau?« Fidelma gelang es nicht, ihre Überraschung zu verbergen.

Er senkte den Kopf. »Sie heißt Radegund, ja, aber ich muss darauf verweisen, dass sie nicht mehr meine Frau ist und dass ich mich auf Weisung des Bischofs von ihr losgesagt habe.«

Fidelma atmete laut und deutlich aus.

»Eins möchte ich wissen, Bruder Chilperic, du sagtest, Bischof Leodegar ist Franke. Bist du ihm nicht gram?« Verwundert über die Frage, erklärte er bestimmt: »Er ist Franke und, wie ich erwähnt habe, eng mit der königlichen Familie verbunden. Ehe ihm das Bischofsamt in Au-tun übertragen wurde, hat er lange Zeit am Hof verbracht. Er ist ein mächtiger Mann.«

»Und du dienst ihm gern?«

»Ich bin sein Verwalter.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Als Burgunde und bei deiner Einstellung zu den Franken muss es dich doch wurmen, dass er mit dem Amt betraut wurde und er die Lebensweise in der Abtei so drastisch verändert hat.« Bruder Chilperic stand betroffen da.

»Ich stehe im Dienst dieser Abtei, Schwester. Hier gilt die Benediktinische Regula, und ich habe geschworen, sie zu befolgen. Du musst mich jetzt entschuldigen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon.

Kopfschüttelnd wandte sich Eadulf an Fidelma. »Worauf willst du hinaus? Willst du Unruhe stiften und Feindseligkeit schüren?«

»Manchmal muss man nur einen Anstoß geben und bewirkt kleine Wunder.«

»Ach komm, du glaubst doch nicht etwa, dass die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, etwas mit der Feindschaft zwischen Burgunden und Franken zu tun haben?«

Sie sah ihn an und meinte dann nach einem Stoßseufzer: »Der Probleme gibt es viele, das siehst du vollkommen richtig. Wenn du mich fragst, dann gärt es in der ganzen Gemeinschaft hier unter dem zur Schau getragenen Gehorsam. Weshalb man in Rom ausgerechnet dieses Kloster als Tagungsstätte für ein Konzil gewählt hat, in dem es um die Zukunft der Glaubenslehre geht, ist mir ein Rätsel. Langsam denke ich, der Tod des armen Dabhoc ist nur ein harmloses Vorkommnis an der Oberfläche; das eigentliche Problem liegt tiefer.« »Aber worin besteht es?«

»Keine Ahnung. Ich habe nur so ein Gefühl - mehr nicht.« »Schau, da kommt der Kämmerer von Bischof Ordgar. Er hat uns bemerkt und steuert auf uns zu.«

Eine hochgewachsene Gestalt überquerte das anticum. Es war in der Tat der junge Bruder Benevolentia, der zielgerichtet auf sie zukam.

»Bischof Ordgar hat mir aufgetragen, falls ich euch sehe, zu fragen, wie lange sich eure Nachforschungen noch hinziehen«, sagte er statt einer Begrüßung.

»Ich könnte wetten, er hat das anders formuliert«, bemerkte Eadulf amüsiert.

Diese Art Humor hatte Bruder Benevolentia nicht erwartet.

»Ich gebe zu, er hat das etwas direkter ausgedrückt, Bruder.« »Du kannst ihm zur Antwort geben, sie werden so viel Zeit wie nötig in Anspruch nehmen«, erwiderte Fidelma ungerührt.

Bruder Benevolentia zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Mir ist das ohnehin egal.«

»Wie das, Bruder?«, fragte Eadulf, den seine Bemerkung aufhorchen ließ. »Du bist schließlich sein Kämmerer.« »Bischof Ordgar hat euch doch selbst erzählt, dass sein voriger Kammerherr auf ihrer Reise nach Divio verstorben ist.

Und da ich dort gerade Dienst tat und auch etwas von deiner angelsächsischen Sprache verstand, habe ich ihn ersetzt, aber nur vorübergehend. Ich habe nicht die Absicht, ihm länger als nötig zu dienen. Ich will in meine Heimatstadt zurück, und sobald der Bischof in sein Königreich Kent zurückkehrt, gehe auch ich wieder dahin, wo ich hingehöre.«

»Vorausgesetzt, dem Bischof ist freigestellt, wieder nach Kent zurückzukehren«, erinnerte ihn Eadulf.

Bruder Benevolentia nickte. »Es sieht nicht gut für ihn aus«, meinte er. »Du glaubst also, er hat Abt Dabhoc auf-dem Gewissen?«

»Zumindest ist er einer der Verdächtigen«, mischte sich Fidelma ein, ehe Eadulf antworten konnte. »Aber noch sind wir weit davon entfernt, uns zu dem wahren Tatbestand äußern zu können.«

»Wie dem auch sei, ich habe die Botschaft, die mir Bischof Ordgar aufgetragen hat, übermittelt. Er ist ohnehin dabei, Nuntius Peregrinus zu ersuchen, ihm mehr Bewegungsfreiheit zu bewilligen und somit Abt Leodegars und eure Entscheidung zurückzunehmen.«

»Deine Offenheit in Ehren, Bruder. Stehst du gern in Bischof Ordgars Diensten?«

»Ich kann weder behaupten, dass ich ihn mag noch dass ich ihn nicht mag«, bekannte Bruder Benevolentia freimütig. »Ich bin ja erst wenige Wochen bei ihm und bleibe auch nur für die Dauer des Konzils.«

»Danach gehst du nach Divio zurück?«

»Ich war dort als Schreiber tätig, ich kenne mich in den Schriftzeichen des Griechischen und Lateinischen aus.« »Du bist noch jung. Wo hast du dir dein Wissen angeeignet?«

»Meine Familie .« Er hielt inne.

»Deine Familie?«, ermunterte ihn Fidelma.

»Meine Familie im Kloster Divio hat mich unterrichtet; schon als Junge begann meine Ausbildung dort. In der Bibliothek lehrte man mich das Kopieren.«

»Da kannst du aber von Glück sagen; die Gabe, in mehreren Sprachen zu lesen und zu schreiben, ist eine ausgezeichnete Sicherung fürs zukünftige Leben«, kommentierte Fidelma wohlwollend. »Das gilt nicht nur für die Klöster, auch viele bedeutende Familien halten sich Schreiber.«

»Das stimmt«, bestätigte Eadulf. »Wenn die Regeln von Bischof Leodegar dir nicht zusagen, finden sich bestimmt weltliche Herrscher, die derartige Fähigkeiten zu schätzen wissen.«

Bruder Benevolentia sah ihn einen Moment mit eiskalter Miene an. »Weltliche Herscher?«

»Guntram zum Beispiel könnte vielleicht einen guten Schreiber gebrauchen.«

»Guntram ist der Gaugraf hier.«

»Er ist dir demnach nicht unbekannt?«

»Natürlich nicht. Ich bin Burgunde. Seine Mutter, Gräfin Beretrude, entstammt einer adligen Burgundenfamilie. Sie gehören zum Geschlecht Gundahars, des ersten großen Königs der Burgunden. Ein jeder in Burgund kennt die Familie.«

»Dann ist Gräfin Beretrude eine mächtige und einflussreiche Dame?«

»Sie ist ihrem Volk gegenüber großherzig und wohltätig«, erwiderte Bruder Benevolentia lebhaft. »Zumindest nach dem, was ich über sie gehört habe.«

»Ist dir auch mehr über Gaugraf Guntram, ihren Sohn, bekannt?«

»Er ist nicht so großartig wie ...«

»Wie seine Mutter?«, half Eadulf ihm.

»Genau das wollte ich sagen.«

»Es heißt ja oft, Kinder müssen im Schatten ihrer Eltern wandeln«, merkte Eadulf an.

Bruder Benevolentia konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, aber launig war es nicht. »Ebenso gut könnte es heißen, jeder große Mann überschattet seine Eltern.« »Dem ist nichts entgegenzusetzen.«

»Wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt, es warten noch andere Pflichten auf mich.« Der junge Mann neigte kurz den Kopf und eile davon.

Sie schauten ihm nach. »Das Schlimme an der Sache ist, dass er recht hat«, meinte Eadulf.

»Recht hat? Womit?«

»Wir können nicht darauf bestehen, dass Bischof Ordgar oder auch Abt Cadfan auf Dauer festgehalten werden.« »Wir halten sie nicht auf Dauer fest, nur so lange, bis wir zu einem Ergebnis gekommen sind.«

»Aber wie lange wird uns das möglich sein?«

»Wir sollten Nuntius Peregrinus aufsuchen. Wenn Ordgar bei ihm vorstellig wird, ist es besser, wir sorgen dafür, dass sein Bittgesuch zu Zugeständnissen führt, die in unserem Sinne sind.«

Schon wandte sie sich zum Gehen, und Eadulf folgte ihr leicht verwirrt. Als er wieder neben ihr ging, sagte er: »Eine Sache wundert mich, nämlich die, dass Bruder Chilperic mit Schwester Radegund verheiratet war. Sie sieht älter aus als er, und eine Schönheit ist sie auch nicht gerade.«

Fidelma bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Du vergisst, sua cuique voluptas - jeder hat seine eigenen Vorlieben.«

Sie fanden den Nuntius im calefactorium. Als Fidelma auf ihn zustrebte, erhob er sich.

»Ich benötige deine Hilfe«, begann sie ohne weitere Vorrede.

Er machte eine einladende Handbewegung. »Du brauchst dich nur zu äußern.«

»Hast du schon mit Bischof Ordgar gesprochen?«

»Das wollte ich gerade tun, da ich hörte, dass er mich zu sehen wünschte.«

»Wie du weißt, hielt ich es ursprünglich für ratsam, Bischof Ordgar und Abt Cadfan nicht zu gestatten, ihre Zimmer zu verlassen, solange wir nicht mit unseren Untersuchungen zu Ende gekommen sind. Bischof Leodegar hatte sich mit einer solchen Vorgehensweise einverstanden erklärt.«

»Eine weise Vorsichtsmaßnahme«, stimmte ihr der Nuntius zu.

»Es bleibt jedoch noch eine Menge zu tun, und ich bin nicht sicher, wann wir mit Ergebnissen aufwarten können.«

»Und das bedeutet?«

»Bischof Ordgar will dich dazu bewegen, unsere Festlegung aufzuheben. Ich bin mir der Stellungen, die Ordgar und Cadfan innehaben, bewusst. Wenn beide ihr Ehrenwort geben, sich voneinander fernzuhalten, bis die Sache geklärt ist, könnte man sie freilassen.«

»Und wenn sie darauf eingehen?«

»Sie müssten dir ihr Wort geben, und du als oberster Beauftragter der Kirche erzwingst, dass sie es halten.«

»Ich werde es ihnen vorschlagen, und wenn sie einverstanden sind, müssen sie auf das heilige Kreuz einen Eid schwören«, erklärte der Nuntius nach kurzem Nachdenken.

»Großartig. Dann sind ihre Beschwerden aus dem Wege geräumt, und wir können unseren Nachforschungen nachgehen, ohne von ihnen behelligt zu werden.«

»Ist ihnen damit gestattet, zu Gräfin Beretrudes Empfang für die Gesandten zum Konzil zu gehen oder nicht?« Fidelma schüttelte den Kopf. »Solange die Ermittlungen nicht zum Abschluss gebracht sind, müssen sie sich innerhalb der Klostermauern aufhalten.«

»Fürchtest du, dass der Schuldige von beiden einen Fluchtversuch unternehmen könnte? Willst du ihnen deshalb nur eine gewisse Bewegungsfreiheit geben?«, fragte der Nuntius.

»Nein. Ich hatte mich im Interesse ihrer eigenen Sicherheit dafür entschieden, sie auf ihren Zimmern zu belassen. Mache für ihre Bewegungsfreiheit bitte auch zur Bedingung, dass sie stets in Begleitung ihrer Kämmerer sind.«

Dann fügte sie zu Eadulfs Erstaunen in aller Ruhe hinzu: »Der eine wie der andere könnte das nächste Opfer sein.«

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