Kurban Said Das Mädchen vom Goldenen Horn Roman

1

»Und dieses ›i‹, Frl. Anbari?«

Asiadeh hob den Kopf. Ihre grauen Augen blickten nachdenklich und ernst. »Dieses ›i‹?« wiederholte sie mit leiser und weicher Stimme. Sie schwieg eine Weile und sagte dann entschlossen und verzweifelt: »Dieses ›i‹ ist das jakutische Gerundium, ähnlich der kirgisischen Form ›barisi‹.«

Bang rieb sich seine lange gebogene Nase. Seine Augen hinter der runden Stahlbrille glichen den weisen Blicken einer Eule. Er schnaufte leise und mißbilligend.

»Ich halte«, sagte er und schlug mit dem knochigen Finger an den Tisch, »ich halte dieses ›i‹ im jakutischen ›bari‹ für ein Possessivsuffix. Bari bedeutet ›die Gesamtheit‹ und die i-Form, die wir statt der vertrauten jakutischen a-Form finden, muß einer jüngern Palatalisierung entstammen. Wie lautete denn das ursprüngliche Nomen?«

»Bar — das Vorhandene«, sagte Asiadeh.

»Ja«, sagte Bang nachdenklich und wehmütig. »Das Vorhandene, und es kann, wie jedes andere Nomen, dekliniert werden. Im Kumikischen lautet der Stamm gleichfalls ›bari‹. Balkarisch und Karatschaewisch dagegen ›barasin‹. Ich kann mir dennoch das Fehlen des ›a‹ in der jakutischen Form nicht restlos erklären.«

Im kleinen Zimmer roch es nach altem vergilbtem Papier. Der viereckige Tisch stand am hohen Fenster. Bang blätterte traurig im Lexikon, und um den Tisch saßen der Tatare Rachmetullah, der Ungar Dr. Szurmai und der Sinologe Goetz. Asiadeh blickte auf ihre kleinen Nägel, und der Sinologe Goetz schlug vor, die rätselhafte Form aus einem erstarrten mongolischen Instrumental zu erklären.

»Als ich jung war«, sagte Bang streng, »wollte ich auch alles aus einem erstarrten mongolischen Instrumental erklären. Mut ist ein Privileg der Jugend.«

Bang war sechzig Jahre alt. Der Sinologe fünfundvierzig. Asiadeh fühlte plötzlich ein heftiges Kratzen im Halse. Die süßliche Luft der vergilbten Lexika, die gewundenen Schnörkel der mandschurischen und mongolischen Schriften, die barbarischen Formen der erstarrten Sprachen waren unwirklich, feindlich, beinahe lähmend. Sie seufzte tief, und es klingelte. Bang zündete sich eine Pfeife an, zum Zeichen, daß das Seminar für vergleichende türkische Sprachforschung beendet sei. Sein knochiger Finger streichelte zärtlich die gelblichen Bogen der uigurischen Grammatik, und er sagte trocken: »Das nächstemal werden wir an Hand der manichäischen Hymnen die Struktur des negativen Verbums besprechen.« In seinen Worten klang Versprechung und Drohung zugleich. Die Philologie war für ihn sinnlos geworden, seit der große Thomsen in Kopenhagen tot war. Die Jugend verstand nichts und erklärte alles aus einem erstarrten Instrumental.

Die vier Hörer verbeugten sich stumm. Asiadeh betrat die breite Treppe des Seminars für orientalische Sprachen. Aus den Sälen kamen bärtige Ägyptologen und schwärmerische Jünglinge, die ihr Leben der Erforschung der assyrischen Keilinschriften zu widmen beabsichtigten. Hinter der verschlossenen Tür des arabischen Hörsaales erstarben noch die schluchzenden Kehllaute einer Gasele von Lebid, und die Stimme des Dozenten sagte abschließend: »Ein klassisches Beispiel des Modus Apokopatus.« Asiadeh ging die Treppe hinab. Sie drückte ihren runden Ellenbogen gegen die schwere Außentür, und ihre Hand umklammerte fest die lederne Aktentasche. Die Tür öffnete sich. Draußen in der engen Dorotheenstraße lag herbstliches Laub. Mit kurzen hastigen Schritten überquerte Asiadeh die Straße und betrat den Hof der Universität. Die schmalen Bäume des Hofes schienen von der Last des gelehrten Wissens gebeugt. Asiadeh hob den Kopf. Sie sah den trüben herbstlichen Himmel Berlins, die dunklen Fenster der Hörsäle und die goldene Aufschrift an der Front der Universität… Studenten in grauen dünnen Mänteln, mit großen Aktenmappen unter dem Arm eilten an ihr vorbei — Menschen aus einer anderen, fremden und unklaren Welt: Mediziner, Juristen, Volkswirtschaftler.

Asiadeh betrat den dunklen Vorraum der Universität. Die große Uhr zeigte acht Minuten nach zehn. Der Vorraum war von eiligen Menschen erfüllt. Asiadeh blieb vor dem Schwarzen Brett der Fakultät stehen und las gedankenverloren und gelangweilt die simplen Mitteilungen des Rektorats an die Studenten:

»Das Kolleg des Prof. Dr. Hastings über Frühgeschichte der Gotik fällt in diesem Semester aus.«

»Lehrbuch der Chemie gefunden, abholen beim Pedell.«

»Prof. Dr. Sachs hat sich bereit erklärt, die Kommilitonen und Kommilitoninnen unentgeltlich zu behandeln. Täglich von 3 bis 5. Klinik für innere Krankheiten.«

Die Bekanntmachungen hingen seit Beginn des Semesters unverändert an ihren Stellen. Die Papierränder waren verblichen wie die alten Drucke von Kairo und Lahore. Asiadeh holte aus der Ledertasche ein kleines Notizbuch. Sie legte die Ledermappe flach auf den Arm und notierte mit winziger nach unten verlaufender Schrift: »Laryngologische Klinik. Luisenstraße 2 von 9 bis 1.« Sie steckte das Notizbuch ein und ging zum Vorhof, der zu den Linden führte. Sie sah das majestätische Standbild des großen Friedrich und die klassischen Linien des Kronprinzenpalais. Weit in der Ferne erhoben sich im trüben Zwielicht des Herbstmorgens die Karyatiden des Brandenburger Tors.

Asiadeh bog nach rechts ein. Sie ging über die Louis-Ferdinand-Straße und betrat den Hof der Staatsbibliothek. Sie lief die Marmortreppe empor und stand im ungeheuren Vorraum der Bibliothek. Vor ihr lag der Eingang zum großen runden Lesesaal. Links zogen sich die langen Korridore der Kataloge. Die kleine Tür rechts führte zum länglichen »Orientalischen Lesesaal«, dem Schlupfwinkel der seltsamsten Gelehrten und Sonderlinge Berlins. Asiadeh trat ein, ging zur Bücherwand, nahm das »Radloffsche vergleichende Wörterbuch« und setzte sich an einen der langen, breiten Tische.

Im Lesesaal roch es nach Bücherstaub, Folianten und Weisheit… Asiadeh öffnete das Buch. Sie beugte den Kopf und runzelte die leicht gewölbte Stirn. Der Hauch der wilden Worte streifte ihr Ohr, und ihre verschleierten Blicke sahen hinter der schwarzen uigurischen Hieroglyphe turanische Steppenreiter, nächtliche Nomadenlager und das blasse Grau der anatolischen Hügel.

Ihre Hand schrieb indessen: »Etymologie des Wortes ›Utsch‹ — Ende. ›Utsch‹ wird lautgesetzlich im Abakan-Dialekt zu ›us‹. Im Karagaischen sind zwei Formen vertreten, ›utu‹ und ›udu‹. Im Sojanischen gleichfalls ›udu‹…« Sie stockte. Sie konnte sich nichts unter Sojanisch vorstellen. Sie wußte nicht, wann und wo diese Sprache, deren Formen sie jetzt entzifferte, gesprochen wurde. Sie glaubte in diesem Worte das Rauschen eines großen Flusses zu vernehmen und stellte sich wilde, schlitzäugige Menschen vor, die, mit Harpunen bewaffnet, lange fette Störe an die moosbewachsenen Ufer schleppten. Die Männer hatten breite Backenknochen, dunkle Hautfarbe und waren in Felle gekleidet. An den Ufern des Flusses erschlugen sie die langen Störe und riefen dabei »udu« — die sojanische Form des urtürkischen Wortes »Utsch«, »Ende«.

Asiadeh öffnete die Mappe und entnahm ihr einen kleinen viereckigen Spiegel. Sie legte den Spiegel zwischen die zwei dicken Bücherrücken des Lexikons und blickte verstohlen und schüchtern in die kleine Glasfläche: Sie sah schmale, rötliche Lippen, ein ovales helles Gesicht und graue Augen mit langen buschigen Wimpern. Ihr Zeigefinger berührte die länglichen Augenbrauen und strich über die weiche, helle, etwas gerötete Haut. Nichts erinnerte in diesem Gesicht an die schlitzäugigen, breitbackigen Nomaden vom Ufer eines namenlosen Flusses. Asiadeh seufzte. Tausend Jahre trennten sie von den robusten Ahnen, die einst aus den Wüsten Turans kamen und die grauen Ebenen Anatoliens überfluteten. In diesen tausend Jahren verschwanden die geschützten Augen, die dunkle Haut und die harten, breiten Backenknochen. In diesen tausend Jahren entstanden Kaiserreiche, Städte und Vokalverschiebungen. Der eine Ahne eroberte die Kaiserstadt Istanbul und ein anderer Ahne verlor die Kalifenstadt Bagdad. Übrig blieben ein ovales, kleines Gesicht, helle sehnsüchtige Augen und eine schmerzliche Erinnerung an das verlorene Reich, an die süßen Gewässer von Istanbul und an das Haus am Bosporus mit Marmorhöfen, schlanken Säulen und weißen Aufschriften am Eingang.

Asiadeh errötete mädchenhaft. Sie schob den Spiegel weg und blickte sich ängstlich um. Sie sah gebückte Rücken, Glatzen und kurzsichtige Blicke zahlreicher bebrillter Augen. Hin und wieder erklang in der feierlichen Stille des Lesesaales ein schüchternes Flüstern.

»Können Sie mir die Elementa persica reichen?«

»Ein Druckfehler im amharischen Lexikon! Was sagen Sie dazu?«

»Glauben Sie, daß dieser Zusatz ein Negativum enthält?« Leise raschelten die vergilbten Blätter. Es roch nach altem Druck. Die Bücherregale glichen den Zahnreihen eines bösen, siegesbewußten Ungeheuers. Am Nebentisch saß eine ausgetrocknete Philologin mit fahler Haut und eingefallenen Wangen und übersetzte angestrengt den Tarik von Hak-Hamid. Sie sah den Spiegel zwischen den Bücherrücken des Lexikons, blinzelte mißbilligend und schrieb auf einen kleinen Zettel: »Horribile dictul cosmetica speculumque in colloquium!« Sie schob den Zettel Asiadeh zu, und Asiadeh schrieb auf die Rückseite versöhnend: »Non cosmeticae sed influenca. Bin krank. Kommen Sie heraus, ich übersetze Ihnen den Tarik.«

Sie erhob sich, klappte die Lexika zu und ging in die große Vorhalle. Die Philologin mit den eingefallenen Wangen folgte ihr. Dann saßen sie beide auf der kalten Marmorbank der Halle, und das Buch »Tarik« lag auf Asiadehs Knien. Aus den rollenden Versen erhob sich der graue spanische Felsen, und der Feldherr Tarik überquerte nachts beim flatternden Schein der Fackeln die Meeresenge von Gibraltar, setzte seinen Fuß auf den grauen Felsen und schwor, das spanische Land für den Kalifen zu bezwingen. Die Philologin seufzte verzückt. Es erschien ihr als eine Ungerechtigkeit, daß jedes türkische Kind Türkisch konnte, während eine fleißige Philologin es mühselig erlernen mußte.

»Ich bin krank«, sagte Asiadeh und legte den »Tarik« weg. Sie blickte nachdenklich auf den schwarzen Adler, der in die Fliesen des Marmorbodens eingelassen war, und erhob sich. »Ich muß gehen, Kollegin.« Sie verabschiedete sich und lief, grundlos guter Laune, zum Ausgang.

Sie ging, die Aktenmappe fest unter den Arm gepreßt, durch die lärmende Friedrichstraße. Leichter, herbstlicher Regen fiel über Berlin. Am Bahnhof Friedrichstraße standen die Zeitungshändler wie Soldaten auf Wache. Asiadeh schlug den Kragen des dünnen Regenmantels hoch. Ihr kleiner Fuß stolperte im dunklen Regengrau am Admiralspalast. Ein Auto fuhr vorbei und wirbelte feuchten Schmutz auf. Graue Flecken bespritzten Asiadehs Strümpfe. Sie ging weiter. Die bleierne Spree war von einem trüben Blau bedeckt. Asiadeh blieb an der Brücke stehen, und ihre Augen überblickten das eiserne Gerüst des Bahnhofs. Oben donnerte die Stadtbahn. Die weite Friedrichstraße lag vor ihr, glänzend vom herbstlichen Regen. Diese Stadt war fremd und schön in der klassischen Geradheit ihrer durchnäßten und nackten Straßen. Asiadeh atmete tief die fremde Luft ein und blickte in die grauen Gesichter der Passanten. Ihr romantischer Sinn witterte in den rasierten länglichen Gesichtern ehemalige U-Boot-Kapitäne, die verwegene Fahrten zur Küste Afrikas unternahmen, und sie erblickte in den harten und blauen Augen wehmütige Erinnerungen an die Schlachtfelder von Flandern, an die Schneewüsten Rußlands und den glühenden Sand Arabiens.

Sie erreichte die lange Luisenstraße. Die Häuser wurden rötlich, und ein Mann mit dicken Wollhandschuhen verkaufte an der Ecke Maronen. Seine Augen waren tief und blau, und Asiadeh dachte, daß diese Augen voll jenseitiger karger Härte von zwei Menschen geschaffen wurden — vom König Friedrich und vom Dichter Kleist. Dann spuckte der Maronihändler aus, und Asiadeh wandte sich erschrocken ab. Sie schluckte und empfand heftige Schmerzen im Hals. Die Männer waren unberechenbar und der Dichter Kleist schon längst tot.

Ihre Füße trabten fleißig über den nassen Asphalt der Straße. Ein Regentropfen fiel auf ihren Nacken und sickerte langsam über den Rücken. Sie preßte die Aktenmappe noch fester unter den Arm und sah vorne, auf der linken Straßenseite, das Denkmal Virchows. Die Gegend bekam langsam ein medizinisches Gepräge. In den Auslagen der Geschäfte lagen chirurgische Sägen, zahnärztliche Instrumente und Lehrbücher der allgemeinen Pathologie. Asiadeh blieb vor einer Auslage stehen und hob ängstlich die spitzen Schultern. Ein Skelett mit mageren Knochen lächelte ihr hinter der Spiegelscheibe entgegen. Sie war zwischen dem toten Virchow und dem Skelett eingeklemmt und sah im Spiegel des Geschäftes ihr eigenes schmales Gesicht mit geröteten Wangen und erschrockenen Augen. Links erhob sich die rote Mauer der Charite. Sie sah die Zweige der einsamen Bäume und Kranke in blauweiß gestreiften Gewändern. Sie ging weiter, den Kopf vorgebeugt und die kleinen Schultern hochgezogen. Es war gar nicht mehr kalt, und der durchnäßte Regenmantel roch nach Gummi.

»Der Zug hält nicht an der Jannowitzbrücke«, dachte sie traurig, denn es war der erste Satz, den sie deutsch gelernt hatte, und sie entsann sich seiner stets, wenn sie sich einsam und verloren fühlte in der majestätischen Stein-Pracht Berlins. Sie hob den Kopf und sah die drei Stufen, die zum Eingang der Klinik führten. Sie ging hinauf. Eine robuste Schwester fragte nach ihrem Namen und reichte ihr eine Karte. Asiadeh trat vor den Spiegel, nahm den runden kleinen Hut ab und sah die blonden, weichen Haare, die an den Enden durchnäßt, frei über ihren Nacken fielen. Sie kämmte sich, blickte prüfend auf die Fingernägel, steckte die Karte in die Tasche und betrat den großen halbverdunkelten Ordinationsraum.

»Concha bulosa«, sagte Dr. Hassa und warf die Instrumente in die Schale. Der Patient blickte schüchtern auf die Anweisung und verschwand im Röntgenraum. »Kann auch Empyen sein«, murmelte Hassa und trug die Vermutung in die Krankengeschichte ein. Dann ging er sich die Hände waschen. Unterwegs dachte er über das Leben nach, und während die hellen Tropfen über seine Finger rannen und im Wasserbecken verschwanden, schüttelte er den Kopf und hatte tiefes Mitleid mit sich selbst. »Ich bin ein geplagter Mensch«, dachte er und legte die Stirn in horizontale Falten. Drei Adenoidotomien an einem Vormittag waren entschieden zuviel. Dazu eine in Narkose. Und die zwei Parazentesen — die zweite war völlig überflüssig. Das Trommelfell wäre von selbst aufgegangen. Aber der Patient wurde nervös.

Dr. Hassa trocknete die Hände und dachte an das Rhinosklerom. Das Rhinosklerom war sein Sorgenkind. Der Alte wollte das Rhinosklerom den Studenten vorführen. Und das Rhinosklerom wollte sich nicht vorführen lassen. Es gehörte einem alten närrischen Weib, das störrisch war und behauptete, sie sei kein Versuchskaninchen. Es war bitter, daß zu jeder Krankheit auch ein Kranker gehörte. Im Grunde aber war er böse wegen des Famulus. Der Famulus sollte lieber Psychoanalytiker werden und nach Wien gehen. Dort könnte er den Polypotom mit den Schlingenenden nach Herzenslust auf den Glastisch legen. Mitten im Rundgang des Alten! Der Alte sagte nichts, wurde aber rot vor Zorn. Und er, Hassa, ist für seine Famuli verantwortlich, auch für ihre Vorstellungen über moderne Hygiene.

»Einfach mit der Schlinge auf den Tisch, kurz vor dem Gebrauch«, brummte Hassa. »Und körperliche Mißhandlung der Famuli ist verboten.« Er nahm ein Taschentuch und umwickelte den Hartgummi des Reflektors.

Dabei blinzelte er verärgert und wußte genau, daß weder das Rhinosklerom noch der Famulus für seine schlechte Laune verantwortlich sind. Schuld war das Wetter, das es unmöglich machte, zum Stölpchensee hinauszufahren. Und gerade gestern war dort eine Blondine, die sicherlich auch heute… aber genug davon. Schuld war das Wetter und der Stölpchensee, aber keineswegs die Nachricht, daß Marion den ganzen Sommer in der Gesellschaft des Fritz im Salzkammergut verbracht habe. Was ging ihn Marion überhaupt an? Und das Rhinosklerom wird einfach vorgeführt, ob es nun will oder nicht, dazu sind wir ja eine Universitätsklinik.

Dr. Hassa machte ein ernstes Gesicht und betrat den großen Ordinationsraum. An den Wänden standen in anscheinend endlosen Reihen die Untersuchungsstühle. Neben jedem eine elektrische Birne, ein Instrumententisch und einige Schalen. Kranke saßen auf den Stühlen und hatten abwesende und gleichsam angestrengte Gesichter. In der Ecke links klapperte Dr. Mossitzki mit einem Satz Halsspiegel und am dritten Stuhl rechts schrie Dr. Mann: »Schwester, einen Ohrtrichter!«

Auf dem Untersuchungsstuhl Dr. Hassas saß ein blondes Mädchen mit schwärmerischen grauen Augen von seltsam gewundenem Schnitt. Dr. Hassa setzte sich auf den niedrigen Hocker vor das Mädchen und sah sie aufmerksam an. Das Mädchen lächelte und aus den traurigen, seltsam geschnittenen Augen schlug plötzlich eine Fontäne der Heiterkeit. Sie deutete mit dem Finger auf Hassas nach aufwärts gerichteten Reflektor und sagte mit einer fremdländisch klingenden Stimme: »Es sieht aus wie ein Heiligenschein.«

Hassa lachte. Das Leben war doch ganz interessant, und Marion ging ihn in der Tat nichts an. Er blickte in die grauen unergründlichen Augen und dachte kurz: hoffentlich Rhinitis vasomotoria, erfordert längere Behandlung. Er ertappte sich bei diesem Gedanken, verwarf ihn als standesunwürdig und sagte etwas schuldbewußt: »Wie heißen Sie?«

»Asiadeh Anbari.«

»Beruf?«

»Studentin.«

»Ach so, Kollegin«, sagte Hassa, »auch Medizinerin?«

»Nein, Philologin«, sagte das Mädchen. Hassa richtete den Reflektor zurecht.

»Und was führt Sie zu mir? So, Halsschmerzen.« Seine linke Hand suchte automatisch den Stalpel. »Germanistin?«

»Nein«, sagte das Mädchen streng, »Turkologin.«

»Was bitte?«

»Vergleichende türkische Sprachforschung.«

»Mein Gott, was versprechen Sie sich davon?«

»Nichts«, sagte das Mädchen böse und sperrte den Mund auf.

Hassa tat seine Pflicht langsam, sanft und umständlich. Dabei spalteten sich seine Gedanken in berufliche und private. Beruflich stellte er fest: Rhinoskopischer Befund — anterior et posterior, nichts Auffallendes. Leichte Rötung des linken Trommelfelles, aber auf Druck unempfindlich. Keine ansetzende Otitis media. Rein lokale Infektion. Bei weiterer Behandlung Anamnese berücksichtigen. Privat dachte er: Vergleichende türkische Sprachwissenschaft! Und so etwas gibt es wirklich, trotz der grauen Augen! Anbari heißt sie. Den Namen habe ich schon mal gehört. Sie wird noch keine zwanzig sein, und so weiche Haare.

Dann legte er den Reflektor ab, schob den Hocker zurück und sagte sachlich: »Tonsillitis. Beginnende Angina folicularis.«

»Auf deutsch Halsentzündung«, lachte das Mädchen, und Dr. Hassa beschloß, auf Latein zu verzichten.

»Ja«, sagte er, »natürlich ins Bett. Hier ein Rezept zum Gurgeln. Keine Umschläge, im Auto nach Hause fahren. Leichte Kost, aber warum wirklich Turkologie? Das führt doch zu gar nichts?«

»Das interessiert mich«, sagte das Mädchen bescheiden, und die Heiterkeit der Augen ergoß sich über ihr Gesicht.

»Wissen Sie, es gibt so viele seltsame Worte und jedes Wort klingt wie ein Trommelschlag.«

»Sie haben Fieber«, sagte Hassa, »daher der Trommelschlag. Ich habe Ihren Namen gehört. Es gab einen Anbari, der war einst Gouverneur von Bosnien.«

»Ja«, sagte das Mädchen. »Es war mein Großvater.« Sie erhob sich, und ihre Finger versanken für einen Augenblick in Dr. Hassas breiter Hand. »Kommen Sie wieder, wenn Sie gesund sind… Ich meine zur Nachbehandlung.«

Asiadeh warf den Blick hoch. Der Doktor hatte braune Haut, schwarze zurückgekämmte Haare und sehr breite Schultern. Er war ganz anders als die geheimnisvollen U-Boot-Kapitäne oder wilden Fischer vom Ufer der namenlosen Flüsse. Sie nickte eilig und ging zum Ausgang.

Am Bahnhof Friedrichstraße blieb sie stehen und dachte nach. Der Arzt sprach vom Auto. Sie spitzte die Lippen und beschloß, verschwenderisch zu sein. Hocherhobenen Hauptes ging sie am Bahnhof vorbei in Richtung der Linden. Dort bestieg sie einen Autobus, lehnte sich in die weichen Lederpolster und dachte befriedigt, daß ein Auto nur ein bescheidenes Diminutivum des weich dahinrollenden Autobusses sei.

»Zur Uhlandstraße«, sagte sie dem Schaffner und reichte ihm die Münze.

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