13

Es war eine große Wohnung im ersten Stock eines vornehmen Hauses am Ring. Zwei Tanten, runzlige Gesichter mit verklärten und schweigsamen Augen, behüteten sie in Hassas Abwesenheit. Asiadeh gewann ihre Zuneigung durch einen tiefen Knicks, den sie in Istanbul gelernt hatte, als sie während des Krieges einer Erzherzogin vorgestellt werden sollte.

Durch die Fenster der Wohnung sah man die breite Straße und die grünen Bäume des Burggartens. Asiadeh beugte sich aus dem Fenster und atmete die milde Luft Wiens ein, den Duft der Blumen, der fernen Wälder und grünen Hügel Österreichs. Sie ging durch die Wohnung, und die Tanten übergaben ihr freudig lächelnd die Schlüssel zu den Schränken, Kammern und Kellern.

Hassa lief durch die Zimmer und hatte die Augen eines Kindes, das ein längst vergessenes Spielzeug wiedergefunden hatte. Er faßte Asiadeh am Arm und schleppte sie durch das lange Speisezimmer, mit den dunklen lederbeschlagenen, kühl wirkenden Stühlen. Er führte sie in den Salon — ein Erkerzimmer, das beinahe nur aus Fenstern bestand und mit weichen hellen Sesseln ausgestattet war. Asiadeh sah den Ordinationsraum mit den weißgetünchten Wänden und unzähligen Metallgegenständen in den Glasschränken. Im Wartezimmer lagen vorsintflutliche Zeitschriften, und an den Wänden hingen Photographien von Menschen, denen Hassa nach eigenen Angaben das Leben gerettet haben sollte. Die Geretteten hatten stolze und erstarrte Gesichter und blickten streng auf Asiadeh herab.

Im Badezimmer angelangt, blieb Asiadeh erschöpft stehen und sah im Spiegel ihr aufgeregtes und gerötetes Gesicht.

»Wasser«, bat sie. »Bitte, Wasser. Zuviel Möbel für einmal.«

Hassa öffnete den Hahn und reichte ihr ein Glas. Sie trank langsam und genießerisch. Ihr Gesicht wurde dabei ganz ernst.

»Welches Wasser«, sagte sie erstaunt. »Das beste nach Istanbul.« Sie sah Hassas verständnisloses Gesicht und erklärte: »Du weißt, wir Türken, wir trinken keinen Wein. Dafür kennen wir uns in Wasser aus. Mein Vater unterscheidet jedes Wasser der Welt. Als Großvater nach Bosnien kam, ließ er sich Trinkwasser in großen Tonkrügen aus Istanbul nachschicken. Dieses hier ist das beste Wasser Europas.«

Sie trank weiter in kleinen Schlucken, und Hassa dachte, daß so ihre wilden Ahnen getrunken haben müssen nach langen Wanderungen am Ufer der heimatlichen Quelle.

»Bei uns«, sagte Asiadeh und setzte das Glas ab, »hat die Wohnung nur Teppiche und Diwans, die den Wänden entlang laufen. Auf dem Diwan liegen Kissen, und hin und wieder steht im Zimmer ein kleiner niedriger Tisch. Wir schlafen auf Matratzen, die auf den Boden gelegt werden. Am Tage werden die Matratzen in den Wandschränken versteckt. Im Winter stellt man in dem Zimmer ein Becken mit glühender Kohle auf, und es wird warm. Ich bin an so viel Möbel nicht gewohnt, Hassa, ich werde mich an den Tischen und Schränken stoßen, aber es macht nichts. Zeige weiter.«

Sie gingen durch den langen dunklen Korridor, und Hassa öffnete die Tür zum Schlafzimmer.

»Hier«, sagte er stolz. Asiadeh trat ein. Sie sah zwei breite aneinandergeschobene Betten, einen Wandschirm, Diwan und Tische.

»Hier, also«, sagte sie bescheiden und dachte an die entschwundene Marion, die in diesem Bette schlief und von anderen Männern träumte. Hassa schloß stolz die Tür. Er stand inmitten des Zimmers und blickte auf das Bett, auf Asiadeh, auf den kleinen runden Tisch, und sein Gesicht wurde traurig. Asiadeh berührte sein Kinn, und er sah sie mit schrägen, bittenden Augen an. Er umfaßte sie, als wolle er sich vor etwas Fremdem und Dumpfem verbergen, das sich unsichtbar aus dem Zimmer erhob. Asiadeh beugte den Kopf. Sie sah Hassas breiten Nacken und fühlte die starken Muskeln seiner Arme. Ein plötzliches Mitleid erfüllte sie. Der breite, starke Hassa, der so unbeholfen im Zimmer stand, war hilflos und arm in der Welt der ungesagten Worte und halbgedachten Gefühle. Sie streichelte seine Wange und dachte, daß sie alles tun würde, damit Hassa immer ein Wundertäter bleibe, stark und klug in der Welt der sichtbaren Formen. »Fürchte dich nicht«, wollte sie sagen. »Ich werde eine treue Frau sein.« Sie sagte es nicht. Sie hielt seinen Hals umarmt, und Hassa sah in ihren Augen die demütige Treue der asiatischen Frau.

»Komm«, sagte sie leise, »wir wollen packen.«

Nachts lagen sie in den breiten Betten eng aneinandergeschmiegt, und Hassa spielte mit ihrem Haar und sprach von seinen Freunden, von seinem Kaffeehaus, von dem Burgtheater mit der goldbeladenen Marmortreppe und von dem Leben, das beginnen wird, sobald die Sachen ausgepackt sind und die Wohnung gelüftet.

Asiadeh schwieg. Sie sah die Decke mit einem verzierten Gipsmuster und dachte an Marion, die dasselbe Muster sah und dennoch an andere Männer dachte. Sie wollte Hassa nach Marion fragen und traute sich nicht. Das Bett war weich und warm. Hassa trug einen dunklen Pyjama, und seine Wange lag auf Asiadehs Knien.

»Bleib bei mir, Hassa«, sagte sie, obwohl Hassa nirgendwo hin weg wollte. Sie richtete sich auf und sah ihn glückstrahlend an. Er lag da, lächelnd, etwas fremd, voll rätselhafter Kräfte, die sie beherrschten. Er zog sie an sich, und sie fühlte sich wie ein kleines Kind in den Armen eines großen Zauberers.

Sie schloß die Augen und spürte seine Hände, seinen Körper, seinen Atem, der plötzlich nahe und warm war. Freudige Angst ergriff sie. Langsam und schamhaft öffnete sie die Augen. Sie sah weit, weit weg ein verziertes Gipsmuster und Hassas Gesicht, das plötzlich länglich und ernst war, mit schmalen Augen, die etwas Rätselhaftes und Grausames zu sehen schienen…

Später schlief Hassa, mit hochgezogenen Beinen wie ein Kind, und seine Wange lag immer noch auf ihren Knien. Asiadeh schlief nicht. Sie starrte in die Dunkelheit. Die Wohnung glich einer Insel, und sie selbst war eine Schiffbrüchige, die sich hierher vor dem wilden Ozean gerettet hatte, den man Leben nannte. Draußen waren rätselhafte Kaffeehäuser. Männer und Frauen, die so dachten wie Hassa, aber keine Zauberer waren, ohne Gewalt über ihre Sinne und ihre Gefühle. Irgendwo draußen war Marion, deren Platz sie einnahm und von der sie nur wußte, daß sie mit einem Mann durch die Welt reiste und alle Strafen verdiente, die Gott unzüchtigen Frauen vorbereitet hatte. »Hassa«, sagte sie und zupfte an seinen Haaren, »Hassa«, er drehte sich um und räusperte sich erstaunt und verschlafen. »Es ist so viel Luft zwischen uns«, sagte Asiadeh leise. »Sei ganz nahe, Hassa.«

»Gut«, sagte Hassa und schlief weiter. Asiadeh schloß die Augen. Sie wollte, daß diese Nacht ewig dauere, ihr ganzes Leben, daß Hassa immer so neben ihr liege, wie ein schlafendes Kind und nicht weg müsse in die geheimnisvolle Welt der fremden Menschen, Taten und Worte.

Dann schlief sie ein, zusammengekauert und still. Hassas Hand lag auf ihrer Brust, und sie hielt sie fest, als wäre sie ein Kleinod, ein magisches Schutzmittel gegen die Wogen des Ozeans, die die Insel umspülten.

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