Achmed-Pascha saß im Café »Watan« und wußte, daß sein Leben in Unordnung geriet. Der Inder hinter der Theke spielte mit einem Rosenkranz. Smaragd, der bucharaische Kellner, servierte Kaffee, und der Tscherkesse Orchan-Bei meinte, daß die Wege Allahs unergründlich seien.
»Die Religion verbietet es nicht«, sagte Smaragd, denn im Café »Watan« gab es keine Geheimnisse.
»Nein«, sagte der Pascha traurig. »Die Religion verbietet es nicht.«
Der Priester der Achmedia-Sekte trat auf ihn zu und streichelte seinen Bart: »Alle sind in einem und einer ist in allem«, sagte er rätselhaft. »Durch Vereinigung des Fleisches zur Vereinigung des Blutes.« Er trank einen Scherbett und gab dem Pascha eine Zigarette.
Der indische Professor legte den Rosenkranz weg und sagte finster:
»Gott hat durch den Mund des Propheten gesprochen: Lieber ein gläubiger Sklave als ein ungläubiger Hund.«
»Das bezieht sich nur auf Heiden«, unterbrach ihn Smaragd. »Der Imam von Buchara hat darüber einen Kommentar geschrieben.«
Alle schwiegen darauf, und der Tscherkesse verschwand im Nebenzimmer.
»Eigentlich ist er gar kein Ungläubiger«, sagte der Pascha. »Er ist ein Freigeist.«
Er nickte betrübt, und der Inder sagte teilnahmsvoll: »Wie richtig Sie urteilen, Exzellenz, und reich ist er auch.«
Der dicke Syrer trat ins Kaffeehaus und nahm sofort die Haltung eines Propheten ein.
»Was ist Geld?« sagte er. »Staub vor dem Throne des Allmächtigen. Wo sind die Millionen Abdul-Hamids? Retteten sie seinen Thron? Ein heiliger Mann aus der Wüste Nedschd hat gesagt…«
Er beendete den Satz nicht, denn Smaragd stellte den Kaffee vor ihn hin, und der Professor sagte melancholisch und teilnahmslos: »Wie richtig Sie urteilen!«
Minuten vergingen, und der Pascha hob den trockenen, braunen Finger und bestellte noch einen Kaffee. Seine Augen blickten dabei sorgenvoll in die Leere, und er dachte, daß, wenn der Vetter aus Kabul nicht bald wieder Geld schickte, er doch noch als Sachverständiger in ein Teppichgeschäft eintreten werde.
Ein leises Geflüster unterbrach die Stille des Kaffeehauses. Ein Marokkaner sprach auf Smaragd ein: »… und da ergriff er den Säbel und metzelte eintausend Ungläubige nieder. Das ganze Rif ist auf seiner Seite. Alle Kabylen. Er marschiert auf Fes. Er wird Kalif werden, und die Stunde der Ungläubigen hat dann geschlagen…«
»Wie richtig Sie urteilen«, sagte Smaragd begeistert und schenkte Kaffee ein.
Im Nebenzimmer ertönte die Stimme des Tscherkessen. »Kommen Sie nur, mein Bruder, der Pascha wird sich freuen.« Er trat ein und führte an der Hand einen rundlichen, bärtigen Mann mit finstern und gleichsam kindlichen Augen.
»Exzellenz«, sagte der Tscherkesse, »darf ich Ihnen Herrn Ali Sokolowic, Kaufmann aus Sarajewo, vorstellen?«
Der Bosniake verbeugte sich und war sichtlich erfreut, mit einem leibhaftigen Pascha zu sprechen.
»Aus Sarajewo«, sagte der Pascha, und seine Augenbrauen bewegten sich, »es ist eine berühmte Stadt.«
»Ja, Exzellenz«, die Stimme des Kaufmanns klang erfreut.
»Ich hoffe, daß Ihr Volk fromm ist und die Gebote des Glaubens befolgt.«
»Fürwahr, es tut es, Exzellenz. Was wäre denn ein Volk ohne Gott.«
Er sprach von den Schulen und Moscheen Sarajewos, über die Zeit der Türkenherrschaft und über den Vater des Paschas, der in Bosnien residiert und Armeen geführt hatte. »Die Welt kennt uns wenig«, sagte er, »aber wir sind ein stilles und frommes Volk. Wir haben Gelehrte, Imame und Moscheen und Menschen, die bis Mekka gepilgert sind. Wollen der Pascha nach Sarajewo reisen?«
»Vielleicht.« Achmed-Pascha zupfte am Schnurrbart und blickte etwas geistesverloren in die Ferne. »Kennen Sie in Sarajewo eine Familie Hassanovic?«
»Es gibt mehrere, Herr.«
»Ich meine die, die in zwei Teile gespalten ist. Der eine wohnte in Wien.«
Der Kaufmann nickte erfreut und gleichzeitig verlegen.
»Wir können nichts dafür, Exzellenz. Es gibt keine Herde ohne ein schwarzes Schaf. Es gab einen Mann, der hieß Memed-Bei Hassanovic. Er fuhr von Sarajewo nach Mostar. Es war in den Zeiten, als Ihr Vater unsere Lande mit Weisheit beglückte. Ein Mann namens Husseinovic überfiel ihn in den Bergen oder er den Husseinovic — Gott allein weiß die Wahrheit. Aber einer blieb tot liegen, und es war Husseinovic. Wir waren damals ein einfaches Volk, und viel Blut floß in den Bergen. Drei Jahre übten die Hinterbliebenen Blutrache. Dann nahm Hassanovic sein Hab und Gut, sein Weib und seinen Sohn und ergriff den Wanderstab. Er wanderte nach Wien aus und verfiel dort dem Unglauben. Sein Sohn wurde reich, und sein Enkel ist ein Weiser. Aber Gott straft die Abtrünnigen. Sie alle haben böse Frauen, die ihnen Schande machen.«
Der Kaufmann verstummte. Er saß ruhig am Tisch, und sein Schnurrbart bewegte sich drohend und gleichmäßig. Dann ging er, breit und rund, wie ein Klotz Erde.
Der Pascha blieb sitzen. Er schwieg und rauchte versonnen. »Das kommt davon«, sagte er plötzlich zum Professor, »das kommt davon, daß der Vater in Bosnien kein ordentliches Polizeiwesen hatte. Gäbe es Ordnung, so hätte der Husseinovic den Hassanovic nicht überfallen können, und alles wäre in Ordnung. So rächen sich die Sünden der Ahnen an den Enkelkindern. Und trotzdem will ich nein sagen.«
Der Professor beugte sich vor: »Wenn ich Sie wäre, Exzellenz, hätte ich auch nein sagen wollen, aber ich hätte es nicht über mich gebracht.«
»Warum?«
»Man sagt nicht nein, wenn man nichts Besseres weiß. Sie wissen nichts Besseres, Pascha.«
»Es kann alles anders werden.«
»Es ist gut, Pascha, wenn zwei Menschen sich lieb haben.«
»Zu unseren Zeiten, Professor, liebte man nicht vor der Ehe.«
»Zu unseren Zeiten, Pascha, gingen die Frauen verschleiert.«
»Sie haben recht, Professor, ich will sehen, ob er ein guter Mensch ist.«
Er erhob sich und verließ das Kaffeehaus. Der indische Professor blickte ihm nach, und Smaragd notierte melancholisch:
»Fünf neue Kaffee und achtzehn alte macht fünfundzwanzig.«
»Dreiundzwanzig, Smaragd«, sagte der Professor, denn er war ein gelehrter Mann.
»Dreiundzwanzig«, schrieb Smaragd und sagte sehnsüchtig: »Eine sehr schöne Hanum. Kann sie glücklich sein mit einem Ungläubigen?«
»Darüber spricht man nicht, Smaragd. Eine Hanum aus Istanbul kann alles, sogar glücklich sein.«
Er schwieg und klapperte mit den Kaffeetassen. Er war froh, daß er keine Tochter hatte, die ohne Schleier ging und sich in fremde Männer verliebte…
Empire State Building an der fünften Avenue in New York. Hundertzwei Stockwerke und eine gedeckte Dachterrasse mit kreisendem Parkettboden, einer Jazz-, einer Girltruppe und Glaswänden, hinter denen sich die längliche Manhattan-Insel erstreckt. John Rolland sitzt am Fenstertisch. Der Parkettboden kreist. Die Girls schwingen die Beine im wilden Takt.
»Einen Martini«, sagt John Rolland und blickt auf die Girlbeine, »extra dry«, sagt er und trinkt in einem Zug die bittere eisgekühlte Flüssigkeit. Er steht auf und geht über das kreisende Parkett. Unter seinen Füßen leben, lieben, arbeiten und schlafen hundertzwei Stockwerke — eine ganze in die Höhe gezogene Stadt. Er tritt zur Glasveranda. Viereckige Türme ragen aus der Dunkelheit, und unzählige Fensteröffnungen leuchten in die Nacht. Erhellte Stockwerke hängen in der Luft, wie von einer übersinnlichen Kraft getragen. Die Schluchten der Avenuen gleichen ausgetrockneten Flußbetten, und in der Ferne — ein dunkler und duftender Fleck der lichtübergossenen Stadt — der Central-Park.
John Rolland beugt sich vor. Vom Riverside Drive, vom breiten und trüben Hudson, kommt schneidender Wind. John Rolland blickt in die Schlucht der Straßen. Einen Augenblick schwindelt es ihn. »Nein«, denkt er. »Nein«, und tritt zurück. »Einen Martini«, sagt er zum Kellner und blickt auf das Handgelenk mit der blauen pulsierenden Ader. »Nein«, denkt er wieder. »Irgendwann, aber noch nicht.« Er rückt die weiße Frackkrawatte zurecht und blickt in den Spiegel. Der Jazz heult einen wilden sehnsüchtigen Rhythmus. John Rollands Hand gleitet liebevoll über die Brusttasche. Dort, in die weiche Seide des Frackfutters gehüllt, ruht sein Bollwerk vor der Welt.
Das Bollwerk besteht aus zwei dünnen Büchern — dem Paß eines Bürgers der Vereinigten Staaten, rechtmäßig ausgestellt und auf den Namen John Rolland lautend, und einem Scheckbuch der Chase National Bank of New York auf den gleichen Namen.
John Rolland fühlt sich im Schutze der beiden Hefte sehr geborgen. Er trinkt einen Whisky und denkt, daß er morgen Kopfschmerzen haben werde, wie seit Jahren schon, aber er wird dennoch nicht in die Schlucht der Avenuen springen. Es ist sein Ehrgeiz, anders zu enden als sein Bruder, sein Vater, sein Großvater.
»Noch einen Whisky-pure«, ruft er, und seine Gedanken hellen sich auf. Er weiß nunmehr ganz genau, daß es falsch ist, den jungen Gelehrten erst nach tausend Metern auftreten zu lassen. Der junge Mann muß schon in den ersten zweihundert Metern in Erscheinung treten. Und zwar in einer Großaufnahme. Etwa: »Der junge Forscher in seinem Urwaldlaboratorium. Er bekämpft die tropische Malaria.«
»Sehr gut«, denkt John Rolland und hofft, daß er es bis morgen nicht vergessen haben wird. Er erhebt sich und wirft auf den Tisch einige Dollarnoten. Er geht zum Fahrstuhl und sieht im Spiegel seine hagere Gestalt im schwarzen Frack. Seine Ohren sausen im rasenden Mahagonikasten des Fahrstuhls. Auf der Straße öffnet er langsam den Schlag seines Wagens. Er drückt auf den Gashebel und fährt über die dunkle menschenleere Fifth zum Central-Park. Vor dem Park biegt er ab und steigt am Barbison-Plaza-Hotel aus. Der Portier reicht ihm die Schlüssel und ein Briefpaket. John Rolland blickt den Portier an und hat plötzlich müde und traurige Augen. In seinem Zimmer zieht er den Schlafrock an, geht zum Schrank, gießt sich nach einigem Zögern noch einen Whisky ein und setzt sich an den Schreibtisch. Er öffnet den länglichen Briefumschlag und denkt an den Absender, an den Filmagenten Sam Dooth, der eigentlich Perikles Heptomanides heißt, doch ist das letztere schon sehr lange her.
»Lieber John«, schreibt der Agent. »Anbei einige Briefe, die für Dich einliefen. Der vom Producer scheint von Wichtigkeit zu sein. Ich glaube, daß er für seine zehntausend Dollar tatsächlich verlangen kann, daß die Entführungsszene auf Hawaii verlegt wird.«
John Rolland seufzt und liest den Brief des Producers. Er denkt dabei, daß er eigentlich lyrische Gedichte schreiben sollte, und nicht Drehbücher, in denen die Entführungsszene nach Hawaii verlegt werden muß. Dann denkt er an den Producer, der viele tausend Meter noch unverwendeter Hawaiiaufnahmen hat, und beschließt, das Manuskript umzuarbeiten, denn 10000 Dollar sind viel Geld. Das Päckchen Briefe liegt vor ihm. Es enthält Rechnungen, Angebote und Anfragen. Die Briefe haben alle eine längliche Form und tragen den Firmenaufdruck auf der Vorderseite. Ein Brief ist viereckig und ohne Aufdruck. John Rolland nimmt ihn aus den Päckchen und weiß noch nicht, daß er ein Wunder in der Hand hält. Plötzlich wird er rot, und eine blaue Ader schwillt auf seiner Stirn. Sein Herz schlägt heftig, und er liest: »An Seine Kaiserliche Hoheit, den landesverwiesenen Prinzen Abdul-Kerim. Sehr wichtig! Bitte nachsenden!«
Er wirft den Brief in die Ecke und springt auf. »Idiot«, denkt er und meint den Agenten. Er geht zum Telephon, dreht die Scheibe und wartet, bis im Hörer die Stimme des Agenten ertönt.
»Perikles Heptomanides«, ruft er erbost. »Wie oft habe ich gesagt — Briefe dieser Art gehören in den Papierkorb.« Der Agent ist betrunken. Er lispelt in einer landesfremden, aber allzu verständlichen Sprache etwas, das wie »Kaiserliche Hoheit« klingt. »Idiot«, ruft John Rolland und legt auf. Dann geht er im Zimmer auf und ab und schielt auf den Brief. Plötzlich hebt er ihn auf, reißt den Umschlag auf und liest die schön geschwungenen türkischen Zeilen. Dabei schüttelt er verständnislos den Kopf. »Anbari«, sagt er, »das war doch so ein Minister. Eine Tochter hat er. Naja. Ich glaube, es war davon die Rede.« Er schließt die Augen und hat für kurze Augenblicke das Gefühl, in eine andere, unwirkliche Welt versunken zu sein. Dann schüttelt er nochmals den Kopf und geht zum Schreibtisch. Er schreibt türkisch von rechts nach links und gleicht dabei seltsamerweise einem kranken Affen. Sein Gesicht sieht verfallen aus, und die Nase ragt raubvogelartig vor. Er schreibt:
»Liebe Asiadeh! Ich bin nicht mehr ich und wünsche Ihnen, daß Sie nicht immer Sie bleiben. Unser Herr und Kaiser hat uns beide geträumt, aber es war in einer anderen Inkarnation. Ihr Gewissen kann rein sein, denn mich gibt es gar nicht. Infolgedessen sind Sie vollkommen frei. Es ist nicht alles Sünde, was als solche bezeichnet wird. Aber vielleicht irre ich mich, weil ich nicht mehr ich bin. Sie studieren das Leben meiner Ahnen und sehnen sich dennoch nach mir. Das wundert mich. Betrachten Sie mich bitte als nicht existierend. Sollte es mich wieder einmal geben, so werde ich Sie rufen, aber es ist besser, wenn Sie nicht darauf warten. Seien Sie glücklich. Ich unterschreibe nicht, denn es gibt mich ja gar nicht.«
John Rolland klebt den Brief zu und wirft ihn in die tiefe Schlucht des Etagenbriefkastens. »Sehr bequem«, sagt er dabei und weiß nicht, ob es sich auf den Briefkasten oder auf das fremde Mädchen bezieht, die das Leben seiner Ahnen studiert und Asiadeh heißt.
Er entkleidet sich und legt sich ins Bett. Dabei fühlt er einen schleichenden Schmerz in sich aufsteigen und trinkt rasch noch einen Whisky. »Hawaii«, denkt er dabei, »zweitausend Meter. Ja.«
»Ja«, sagt auch Achmed-Pascha und umarmt Dr. Hassa. »Sie scheinen ein guter Mensch zu sein. Ich gebe Ihnen meine Tochter, obwohl sie für einen anderen bestimmt war. Gott helfe ihr, Ihnen zu dienen. Ich glaube, es ist nicht leicht. Geben Sie ihr viele Kinder, das wird sie freuen. Ich habe sie gut erzogen, und sie weiß, was sich gehört. Verstoßen Sie sie, falls es nicht der Fall ist.«
Er umarmt Hassa und schluchzt kurz. Hassa sieht ihn verlegen und beglückt an.