5

Dr. Hassa dachte an die Ohrfeige und punktierte eine eiterverdächtige Nebenhöhle. Der Eiterverdacht erwies sich als unbegründet, aber die Gedanken an die Ohrfeige verschwanden nicht. Alsdann katheterisierte er das Eustachische Rohr eines dicken Delikatessenhändlers, der sich kindisch anstellte und sinnlose Fragen stellte. Später ging er in den Operationssaal und leitete die Ausräumung eines Labyrinthes. Dabei dachte er, daß das Ohrfeigen eine Unverschämtheit sei und leicht zu einer Störung des Labyrinthes führen könnte. Später sah er zu, wie der Alte eine Tracheotomie vornahm und bewunderte wieder einmal die überraschende Geschicklichkeit seiner Hände. Nachher ging er in den zweiten Stock und dachte ganz allgemein an die Sinnlosigkeit des Lebens und an die Belagerung Wiens durch Kara-Mustafa. Er machte einen Rundgang durch den Krankensaal und sprach begütigend zu dem keifenden Weib mit dem herrlichen Sklerom. Die Kranken lagen pflichtbewußt in den Betten, die schwarzen Tafeln über den Betten verkündeten vorschriftsgemäß die Namen ihrer Erkrankungen, und die diensttuende Krankenschwester meldete, daß die Otitis maedia vom achten Bett rechts eine Morphiuminjektion erhalten habe.

Dr. Hassa nickte, ging in das Kellergeschoß und brüllte den Famulus an, der ein und dieselbe Augenbinde bei Luftlichtbädern an drei verschiedenen Kranken verwandt hatte. »Hygiene!« sagte er dabei und hob den Finger.

Dann kehrte er auf seinen Sitz zurück in der trüben Überzeugung, daß höchstens eine Phlegmone mit dem Ursprung in der hinteren Nebenhöhle ihn aus der allgemeinen Gleichgültigkeit herausreißen könnte. Statt dessen erschien eine hagere Frau mit einer Rhinorrhöe, die Dr. Hassa erbittert und enttäuscht mit Chlor behandelte, und zuletzt ein Student, dem gar nichts fehlte und der lediglich aus Neugierde und auch, weil es nichts kostete, sich von Ärzten aller Spezialfächer untersuchen ließ. Dann kam eine Weile überhaupt niemand, Hassa starrte gedankenverloren auf die Wand und dachte an die Vertreibung der Türken aus Europa. Seine rechte Hand glitt zum Instrumententisch, und er klapperte kriegerisch und drohend mit Kathetern, Spekuli, Trichtern und Konchotomen, so lange, bis der Nachbar von links zu ihm hinüberschielte und »äh-h, Kollega!« sagte.

Durch diese Ansprache ernüchtert, blätterte Dr. Hassa eine Weile in verschiedenen Krankengeschichten nach und stellte seltsam befriedigt fest, daß der Fall Anbari zwischen einer Retromaxialgeschwulst und einem Sängerknötchen lag. Daraufhin erhob er sich, wusch sich die Hände, streifte den weißen Kittel ab und fühlte sich als Privatmensch.

In unerlaubtem Tempo fuhr er über die Linden und hatte an der Charlottenburger Chaussee eine Meinungsverschiedenheit mit einem Taxichauffeur, dem er diverse Ohrfeigen in Aussicht stellte und von dem er erfuhr, daß er ein schlapper Österreicher sei und keine Ahnung vom Chauffieren habe.

Am Knie angelangt, hielt er den Wagen an, ging in seine Wohnung und blätterte äußerst konzentriert im Archiv für Oto-Rhino-Laryngologie. Er erfuhr daraus, daß im New Yorker Baptistischen Krankenhaus neuerdings mit Erfolg Radiumbestrahlungen gegen hartnäckige und rezidivierende Muschelhypertrophien angewandt wurden und daß Neger fast nie pathologische Scheidewandanomalien aufweisen. Unerklärlicherweise war er darüber erbost und klappte das Archiv zu. Sein Blick fiel dabei auf Marions Bild im Silberrahmen. Er runzelte die Stirn und hatte plötzlich die Überzeugung, daß eine Ohrfeige noch nicht das Schlimmste auf Erden sei. Es komme immerhin auch darauf an, von wessen Hand man geohrfeigt werde.

Er streckte sich auf dem Diwan aus und schloß die Augen. Wie gewöhnlich erschien daraufhin Marion am Diwanrand, und er machte ihr heftige Vorwürfe wegen Fritz, wegen ihres Benehmens und wegen der Schande, die sie über den Namen Hassa gebracht hatte. Die imaginäre Marion neigte den Kopf zur Seite und meinte, wie stets, daß sie nichts dafür könne, was psycho-analytisch betrachtet vielleicht nicht unrichtig war, aber dennoch Dr. Hassa maßlos erzürnte.

Plötzlich sprang er auf, ging zum Schreibtisch und schob Marions Bild in die Lade. »So«, sagte er dabei und schnaufte befriedigt. Er ging im Zimmer auf und ab und versuchte an die Neger zu denken, die fast nie pathologische Scheidewandanomalien aufwiesen. Es gelang ihm nicht, und seine Gedanken nahmen den gewohnten Lauf.

Es war nunmehr erwiesenerweise grundfalsch, daß er Marion überhaupt geheiratet hatte. Noch unverständlicher war es allerdings, daß er sich einen psychoanalytischen Kollegen zum besten Freund auserwählt hatte. Übrigens war Fritz ein miserabler Psychoanalytiker. Eine Patientin, die wegen schlechten Schlafs klagte, behandelte er auf akute Melancholie, dabei hatte die Kleine nur ein Adenomyom. Ja, ein ganz gewöhnliches Adenomyom! Und erst er, Hassa, hatte das richtig festgestellt. Aber Marion hatte eine Schwäche für Psychoanalyse und verstand nichts von exakter Wissenschaft. Und dann erst der Skandal. Einfach durchgehen! Dabei hatte sie bis zuletzt ganz unschuldige Augen, als wäre sie nicht schon seit Monaten mit dem Fritz… Na ja. Und nachher sagte Fritz im Kaffeehaus, daß Laryngologen verhinderte Dentisten seien ohne Verständnis für die Seele der Frau. Er sollte Fritz deswegen vor die Ärztekammer bringen. Beim Versöhnungstermin hatte Marion einen gelben Hut auf und neigte den Kopf zur Seite, als hätte sie einen Gehirntumor.

An dieser Stelle angelangt, pflegte Dr. Hassa stets einen Kognak zu trinken und sich in eine ungemein unverständliche Arbeit über den Nervus sympaticus zu vertiefen. Dieses Mal fühlte er überraschenderweise weder ein Verlangen nach Kognak noch nach schwerwiegender Lektüre. Er blieb erstaunt im Zimmer stehen und wußte genau, daß die grauäugige Türkin, die so ahnungslos in die Klinik hineintorkelte, die geheime Ursache davon war.

»Ein wildes Kind, vielmehr eine Angorakatze«, dachte Hassa und fühlte plötzlich den unstillbaren Wunsch, die Angorakatze zu streicheln. Er setzte sich hin und schüttelte traurig den Kopf. Alles ging schief, seit Marion ihn verlassen hatte. Seltsamerweise schien es seitdem ununterbrochen zu regnen. »Ich würde sie Asi nennen«, dachte er ganz nebenbei. »In der Ärztegesellschaft wird man jeden Donnerstag sagen, daß ich eine Angorakatze geheiratet habe. Intimere Freunde werden mich einen Sodomiten nennen und vor Neid vergehen. Ob Türkinnen zur Psychoanalyse neigen?«

Er nahm Hut und Mantel, ging zum Wagen und fuhr sehr langsam und auch dadurch Anstoß erregend zur Uhlandstraße. Er ging den Vorderaufgang bis zum vierten Stock hinauf, ohne eine Familie Anbari zu finden. Etwas außer Atem kam er wieder nach unten und erfuhr beim Portier, daß die »Wilden« im Hofe rechts wohnten. Er klingelte lange an der defekten Tür und erfuhr vom verschlafenen Zimmervermieter, daß die »Wilden« heute türkische Weihnachten oder etwas Ähnliches feiern. Er erfuhr sogar, wo die Feier stattfinde und fuhr eiligst hin. Unterwegs wurde er aber von Zweifeln befallen und traute sich nicht in den Klub hinein, denn eine öffentliche Ohrfeige in Anwesenheit aller Wilden wäre ein zu großes Risiko. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß das wilde Mädchen allein den Klub verlassen würde. Dr. Hassa ging die Straße auf und ab, überstand den Regen unter einem Hausvorsprung und wunderte sich sehr, daß die Türken auch Weihnachten feiern.

Endlich erblickte er die zierliche Gestalt, die unschlüssig auf den Himmel und auf den Asphalt blickte und zog rasch den Hut.

»Uhu«, sagte das Mädchen und schüttelte sich vor offensichtlichem Ekel. Immerhin würdigte sie Hassa eines Blickes und blieb stehen, das Kinn leicht nach vorne geschoben.

»Ich bin zerknirscht, mein Kind«, sagte Hassa.

Asiadeh schob die Lippen vor. »Ich bin nicht Ihr Kind, ich bin Asiadeh«, sagte sie finster. Sie trat von einem Fuß auf den andern und fügte bedächtig hinzu: »Es regnet. Wenn wir hier lange stehenbleiben, kommt mein Vater und schneidet Ihnen die Lippen ab. Was tun Sie dann?«

»Ich werde nie wieder küssen können«, sagte Hassa betrübt und versuchte Asiadehs Arm zu streicheln.

»No! No!« rief sie streng. »Mein Vater ist sehr stark.«

Dann schwieg sie nachdenklich und meinte mit plötzlichem Entschluß: »Also gehen wir schon, sonst kommt der Vater wirklich.«

Sie trabte dahin, und Hassa folgte ihr, verzweifelt auf das bereitstehende Auto weisend. Asiadeh schüttelte energisch den Kopf.

»Nein«, sagte sie entschlossen. »Gehen Sie ruhig hinter mir her.« Sie ging, und Hassa folgte ihr. Am Wittenbergplatz fing es zu regnen an, und Asiadeh blieb unschlüssig unter einem Dachvorsprung stehen.

»Gnade«, sagte Hassa demütig. »Darf ich Ihnen in ein helles, menschenerfülltes und geheiztes Kaffeehaus folgen?«

Asiadeh sah zu ihm hinauf.

»Gräßliches Klima«, sagte sie. »Ich verstehe, warum wir dieses Land nie erobert haben.« Dann blickte sie zum Himmel empor und fügte gnadenvoll hinzu: »Sie dürfen mich in ein Kaffeehaus begleiten.«

Es klang keineswegs wie eine Niederlage. Sie ging über die Straße, und Hassa öffnete die Glastür eines Kaffeehauses. Sie traten ein, und Asiadeh beugte sich in schweigsamem Ernst über eine Tasse Mokka. Sie atmete befriedigt den Mokkaduft ein und empfand leichtes und angenehmes Herzklopfen.

»Zürnen Sie mir nicht, Asiadeh«, bat Hassa verlegen. »Ich werde es bestimmt nie wieder tun.«

Asiadeh stellte die Tasse weg und sah Hassa entgeistert an. »Wirklich?« sagte sie beinahe erschrocken und biß sich auf die Lippen. Erleichtert streckte ihr Hassa die Hand entgegen. Asiadeh nahm sie gnädig, und Hassa küßte den Handrücken sanft und ehrerbietig. Der Friede war geschlossen.

Sie saßen dicht nebeneinander im menschenerfüllten Kaffeehaus, und Asiadeh sprach von dem Neger aus Timbuktu, von dem Eunuchen, der ihr zu Hause die arabischen Gebete beigebracht hatte, von der Grande Rue de Pera, die viel schöner war als alle Straßen Berlins, und von dem Prinzen Abdul-Kerim, den sie heiraten sollte.

»Sie werden es aber nicht tun?« fragte Hassa besorgt.

»Ich habe ihn nie gesehen. Ich weiß nur, daß er dreißig Jahre alt ist. Er verschwand nach der Revolution. Wenn man es genau nimmt, hat er mich verlassen. Aber es ging wohl nicht anders.«

Hassa blickte sie verständnisvoll an und hatte das Gefühl, daß eine Revolution hin und wieder auch positive Seiten aufweise.

»Was werden Sie tun, wenn Sie zu Ende studiert haben?«

Asiadeh blickte verträumt auf die Kuchenplatte und nahm einen Mohrenkopf.

»Ich werde den Präsidenten der Vereinigten Staaten heiraten oder den König von Afghanistan.«

Zuckerstaub bedeckte ihre Lippen. Sie spreizte vergnügt die Finger und nahm aus Hassas Etui eine Zigarette.

»Haben Sie denn schon je geliebt?« fragte Hassa.

Asiadeh legte die Zigarette weg und errötete heftig. Ihre grauen Augen blitzten auf und wurden ganz dunkel.

»Kein Mensch in Europa versteht sich zu benehmen«, sagte sie zornig. »Mit fremden Damen spricht man nicht über die Liebe. Man starrt sie auch nicht so mit Stieraugen an. Wir sind in der Liebe genau so erfahren, aber schweigsamer und stiller. Deswegen nennt man uns auch die ›Wilden‹.«

Sie war herrlich in ihrem Zorn. Ihre Pupillen weiteten sich, sie zog den Zigarettenrauch ein, blies ihn zur Decke empor und wußte genau, daß sie sich in Hassa hoffnungslos verliebt hatte.

Hassa sah sie betrübt an.

»Ich wollte Sie nicht verletzen, Asiadeh«, sagte er betrübt.

»Ich frage nicht aus Neugierde, sondern — na ja — sondern… Sie verstehen schon? Wie soll ich mich ausdrücken? Äh.« Er verstummte, verlegen um sich blickend. Vielleicht sollte er doch eine Einführung in die Psychoanalyse lesen. Asiadeh sah ihn belustigt an. Diese Menschen in Europa waren ahnungslos in allen Sachen des Gefühls. Es fehlte eben der Istanbuler Schliff. Sie legte die Zigarette weg und sah ihn mitleidsvoll an. »Erzählen Sie«, sagte sie schlicht.

»Mir ist in meinem Leben etwas Seltsames geschehen. Deswegen frage ich andere Menschen nach Liebe aus. Ich war einmal verheiratet und bin geschieden.«

Asiadeh sah ihn still und unschuldig an. Ihr Mund war leicht geöffnet, und die Oberlippe schob sich nach oben. Plötzlich beugte sie ihr Gesicht nach vorn und hustete heftig. Die Europäer waren seltsame Menschen.

»Ich verstehe«, sagte sie mitleidsvoll. »Die Frau bekam keine Kinder und Sie haben sie verstoßen.«

»Kinder?« Hassa blickte erstaunt auf. »Wieso Kinder? Marion wollte ja gar keine Kinder haben.«

Jetzt staunte Asiadeh. »Sie wollte keine Kinder? Aber dazu war sie doch da.«

»Ach Gott«, stöhnte Hassa. »Das Problem lag ganz woanders. Ich hatte einen guten Freund. Er kam immer zu uns. Eines Tages ging dann Marion mit ihm durch.« Er zuckte mit den Achseln, und Asiadehs Augen wurden rund vor Staunen. Endlich schien sie zu begreifen.

»Aha«, sagte sie. »Sie verfolgten die beiden und töteten sie. Seitdem verbergen Sie sich im Auslande vor Gerichten und Bluträchern. Ich kann Sie verstehen. Ich kenne viele Fälle wie den Ihrigen.«

Hassa war beinahe beleidigt bei dem Gedanken, daß Asiadeh ihn für eines Mordes fähig hielt.

»Ich brauche mich vor niemandem zu verbergen, und die Gerichte sind auf meiner Seite«, sagte er stolz.

Asiadeh schüttelte den Kopf. »Bei uns«, sagte sie, »würde man die Frau mit einer wilden Katze zusammenbinden, sie in einen Sack stecken und in den Bosporus werfen. Den Mann würde man erdolchen. Jedermann würde es für gerecht halten. Verbergen sich denn Ihre Feinde so gut?«

»Nein«, sagte Hassa traurig. »Diesen Sommer waren sie im Salzkammergut. Übrigens… wieso Feinde?«

Asiadeh schwieg. Es hatte keinen Sinn, diesem Menschen das Wesen der Liebe zu erklären. Hassa saß da unbeholfen und gebückt, wie hinter einer Glaswand. Asiadeh blickte in die geleerte Mokkatasse und empfand eine leise Genugtuung. Es war ganz angenehm, daß Hassa so allein war.

»Was halten Sie von Psychoanalyse?« fragte er plötzlich.

»Was bitte?« Asiadeh war außerordentlich erstaunt. Diese Menschen dachten so anders als die Paschas am Bosporus.

»Psychoanalyse«, wiederholte Hassa.

»Was ist das?«

»Psychoanalytiker sind Menschen, die den anderen in die Seele schauen wie ich in den Hals.«

»Schrecklich.« Asiadeh zuckte zusammen. »Wie kann man seine Seele einem Fremden zeigen. Das ist doch schlimmer als Vergewaltigung. Das darf nur ein Prophet oder ein Kaiser. Ich würde den Menschen umbringen, der es wagen würde, mir in die Seele zu schauen. Dann kann man auch nackt über die Straße gehen.« Sie schwieg und strich sich mit der Hand über die Stirn. Plötzlich sah sie Hassa mit großen und strahlenden Augen an und lächelte demütig und freudig zugleich. »Mir sind Menschen, die in den Hals schauen, um vieles lieber.«

Es kostete Hassa einige Mühe, sich nicht über das grauäugige Mädchen zu stürzen. »Fahren wir«, rief er von plötzlicher Lebensfreude ergriffen, und Asiadeh nickte willenlos.

Sie gingen zum Auto, und ihre Hände waren fest umschlungen. Es war Nacht geworden. Die geraden Reihen der Straßenlaternen vereinten sich in der Ferne. Asiadeh starrte in das Licht und dachte weder an das Haus am Bosporus noch an den Pascha, der zu Hause saß und auf sie wartete. Hassa war groß und unverständlich wie ein exotisches Tier, und sein Auto glich im nächtlichen Schein einem großen waffenstrotzenden Elefanten. Sie bestiegen den Wagen. Der Asphalt schwand unter den Rädern wie der Nebel beim nahenden Wind. Sie fuhren den Kurfürstendamm entlang und bogen zur Avus ein. Die viereckigen Häuser mit flachen Dächern waren vom Lichte der Scheinwerfer erhellt. Das Gerüst des Funkturms ragte zum Himmel empor und glich einer Stahllanze. Sie fuhren über die breite Avus eng aneinandergerückt und schweigsam. Hassa drückte auf den Gashebel, und der Geschwindigkeitszeiger stieg. Feuchter Wind schlug in Asiadehs Gesicht. Hassa sah ihre wehenden Haare und graue erstarrte Augen. Er steigerte die Geschwindigkeit und fühlte, wie bei der Biegung Asiadehs Hand seine Schulter umfaßte. Das Auto raste durch die Nacht, wie von einer übersinnlichen Kraft getrieben. Die Formen der äußeren Welt schwanden in eintönigem, großartigem Grau. Das Blut klopfte in Hassas Schläfen. In der Raserei der Geschwindigkeit offenbarten sich ihm die Zuckungen eines nie erlebten Liebestaumels. Der Asphalt unter Hassas Scheinwerfern glich einem rollenden endlosen Band. Die Frau neben ihm war plötzlich nahe und erreichbar, wie für ewig im Wirbel der Geschwindigkeit ihm ausgeliefert. Asiadeh saß regungslos, mit halbgeschlossenen Augen von dem unerwarteten Gefühl der Hingabe ergriffen. Sie umfaßte den Fenstergriff, und alles Gegenwärtige schien im Rausche der vorbeisausenden Kilometer zu verschwinden. Der Wagen verwandelte sich in einen schwebenden Teppich, und der nächtliche Wind drückte sie immer näher und näher zu dem fremden Mann, der, rätselhaft mit ihr vereint, vom gleichen Wirbel erfaßt einem unsichtbaren Ziel entgegengetragen wurde. Sie blickte auf das Armaturenbrett. Der Zeiger zeigte irgendeine Zahl an, und sie wußte nicht mehr, ob es viel oder wenig sei. Sie saß da, aufgelöst im Wind, in der Geschwindigkeit, im spukhaften Scheinwerferlicht des fernen Funkturms.

»Genug«, flüsterte sie erschöpft, und eine trunkene Müdigkeit stieg in ihr auf. Hassa fuhr langsam und bestürzt in die Stadt. Er schwieg, und seine schönen Augen waren traurig und erleichtert. Er schien blaß und müde. An der Uhlandstraße hielt er. Asiadehs Hand legte sich um seinen Hals, und er beugte sein Gesicht zu ihr. »Danke«, sagte Asiadeh mit leiser, wie von weit her kommender Stimme. Hassa fühlte die Wärme ihres Gesichtes und den heftigen Atem der kindlich-weichen Lippen. Seine Hand berührte ihre Wange, und er schloß die Augen. Asiadehs Lippen waren ganz nahe. Er beugte sich vor und öffnete die Augen. Ihr Gesicht war regungslos und sie blickte ängstlich und sehnsüchtig in die Ferne. »Danke«, sagte sie nochmals und stieg aus dem Wagen. Sie verschwand wortlos im Haus, und Hassa starrte ihr bestürzt und erschöpft nach.

Загрузка...