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»…Und es sprach das Volk der Chinesen: ›Rotten wir die Türken aus. Es soll kein Türkenvolk mehr geben.‹ Da sprachen aber der Himmel der Türken und die heilige Erde und das heilige Wasser der Türken: ›Nicht vergehen soll das Volk der Türken. Möge es uns erhalten bleiben.‹ Dieses sprechend, ergriff der Himmel meinen Vater Ilteres-Khan an den Haaren und hob ihn hoch über das ganze Volk. Und mein Vater, der Khan, sprach…«

Asiadehs Finger verfolgten angestrengt die runenartigen Zeichen der Inschrift. »Eigentlich ›verkündete‹ und nicht ›sprach‹«, dachte sie müde, und die geheimnisvollen eckigen Striche der uralten Schrift schwammen vor ihren Augen.

Vor Jahrtausenden errichtete ein wildes Volk in den Steppen der fernen Mongolei barbarische Denkmäler seiner Größe. Das Volk wanderte ab, aber die rauhe Schrift blieb. Verwittert und rätselhaft blickte sie in die Öde der mongolischen Steppen, in die dunklen Spiegel der kalten namenlosen Flüsse. Steine zerfielen. Nomaden zogen an ihnen vorbei und blickten scheu und angstvoll auf die verschütteten Denkmäler vergangenen Ruhms. Wanderer aus fernen Ländern verirrten sich hie und da in die wilde Öde der mongolischen Steppen. Sie brachten die Kunde von der rätselhaften Schrift nach dem Westen. Reisen wurden ausgerüstet, geübte Hände schrieben die geheimen Runen ab. Dann lagen sie auf säuberlichem Papier gedruckt in den stillen Stuben der Gelehrten. Trockene geäderte Hände streichelten liebevoll die geheimnisvollen Zeichen. Gerunzelte Stirnen beugten sich über die Blätter. Langsam wich das Geheimnis der Schrift, und von den eckigen verwitterten Hieroglyphen ertönte das Geheul der Steppenwölfe, erstand das ferne Nomadenvolk, erstand ein wilder Führer auf kleinem langmähnigem Pferd, erklang die dunkle Kunde von uralten Abenteuern, Kriegen und Heldentaten.

Gerührt blickte Asiadeh auf die Runenschrift. Es war ihr, als lese sie in den schwarzen eckigen Linien die Geschichte ihrer Träume, Wünsche und Hoffnungen. Etwas Lockendes und Gewaltiges entstand hinter dem Chaos der primitiven Formen und Wortbildungen. Sie witterte das Geheimnis des Anfangs, das in den ältesten Klängen ihrer Rasse verborgen war. Sie sah die ersten Menschen eines werdenden Volkes, wie sie einst über die vereisten Schneesteppen wanderten und aus dem Urrätsel ihrer Seelen die ersten Klänge und Töne einer Sprache schufen. Ihre kleinen Finger verfolgten die Linien der Schrift. Langsam las sie: »Sechzehn Jahre alt war mein Bruder Kül-Tegin und sehet, was er tat! Er zog ins Feld gegen das Volk der Zöpfe und schlug es. Er stürzte sich in die Schlacht, und seine kriegerische Hand erreichte den Feind Ong Tutuk, der fünfzig Tausend befehligte.«

Es läutete schrill. Asiadeh hob den Kopf und rieb die ermüdeten Augen. Sie saß im kleinen Lesesaal des Seminars, und um sie herum ertönte das gutturale Flüstern der Sinologen, die unterdrückten Kehllaute der Arabisten und die stillen Lippenbewegungen der konsonantenschluckenden Ägyptologen, die alle Rätsel des Niltales erforscht haben bis auf das Rätsel der richtigen Aussprache des Wortes Osiris.

Asiadeh erhob sich und blickte in den Stundenplan. »Die ersten Osmanen«, las sie. »Hörsaal 8: Dozent Dr. Meyer.« Sie ging zum Hörsaal hinauf, und der Ungar Dr. Szurmai traf sie im Gang und erzählte liebenswürdig und verzückt von einem neuentdeckten Turanismus in den ugro-finnischen Agglutinationen. Asiadeh hörte ihm zerstreut zu. Sie hatte nur ein einziges Mal einen lebenden Ugro-Finnen gesehen. Es war ein dicker blonder Steward aus Helsingfors, der nach Rum roch und sinnlos fluchte. Es war verwirrend zu denken, daß auch die Wiege seines Geschlechtes in den selben fernen Steppen stand, aus denen einst die ersten Osmanen erstanden und sich gegen Westen ergossen.

»Es ist ein Aorist«, sagte der Ungar. »Verstehen Sie, ein Aorist.« Asiadeh verstand es. Sie trat in den Hörsaal. Der Sinologe Goetz beugte seine Glatze über ein Papier und erklärte dem Tataren Rachmetullah die Hieroglyphe »Tü-Ke«. Er zeichnete schön geschwungene Linien und sprach mit dumpfer Stimme:

»Sie verstehen, Kollege. Der Sinn ist in diesem Falle ohne Bedeutung. Es kommt auf den Laut an. Die Chinesen kennen aber kein ›r‹. Tü-Ke ist also die Hieroglyphe für Türke.«

Rachmetullah saß da mit offenem Munde und gerunzelter Stirn. Seine kleinen Augen blickten erbost auf die Hieroglyphe, deren Sinn ohne Bedeutung war.

Meyer kam und hatte ein jugendliches Gesicht, graue Haare und eine Fähigkeit, alle Sprachen des Orients mit schwäbischem Akzent auszusprechen. Er sprach von dem Goldenen Gebirge des Altais, aus dem das Volk entstand, er sprach von dem großen Helden Oghus-Khan, dem Sohne Kara-Khans, der dem Volke das Heer gab, und vom Ertogrul, dem Stammvater der Osmanen, der sich mit 444 Reitern gegen die Griechen warf und das heilige Reich Osman begründete.

»Ertogrul hatte drei Söhne«, sagte Meyer auf schwäbisch, »Osman, Gedusalp und Surajaty Sawedschi, deren ersterer der eigentliche Begründer jener Bewegung ist, die zu untersuchen wir uns zur Aufgabe gestellt haben.« Damit schloß er, denn es klingelte, und er war ein geplagter Mann und noch lange kein Ordinarius.

Asiadeh lief die Treppe hinab. Sie verkroch sich in der Bibliothek wie eine Schnecke in ihr Haus. Sie ergriff vom Regal das erste beste dicke Buch und las verwundert am Deckel »Kudatku-Bilik«. — »Das beglückende Wissen.«

»Uigurische Ethik aus dem zweiten Jahrhundert.«

Sie schlug das Buch auf. »Seite fünfzehn, Vers fünfzehn«, befahl sie sich selbst und begann zitternd vor Aberglauben die geheimnisvollen uigurischen Sätze zu entziffern. Die Schrift war verworren und die Formen waren fremd. Es hatte schon längst geklingelt, aber sie achtete nicht darauf, ganz versunken in das Geheimnis der Vergangenheit. Endlich entzifferte sie:

»Was man dir bietet, kommt und geht, nur das beglückende Wissen bleibt. Alles, was die Welt enthält, endet und schwindet. Nur das Geschriebene steht fest, alles andere fließt dahin.«

Es klang sehr erhaben, hatte aber nicht die geringste Beziehung zu Asiadehs Gedanken. Sie beugte den Kopf, blickte bestürzt grüblerisch auf die Übersetzung und hatte das Gefühl, mit größter Anstrengung eine leere Flasche entkorkt zu haben. Sie steckte den Zettel ein und blickte sich um. Befriedigt stellte sie fest, daß sie allein im Zimmer war und kratzte sich verstohlen am Kopf. Sie hatte dabei die felsenfeste Überzeugung, daß es so nicht weiterginge. Alltäglich erwartete sie Hassa am Hause mit dem Auto. Er brachte sie in die Universität, fuhr mit ihr in den Grunewald spazieren, schenkte ihr Blumen und ließ rätselhafte Worte über die Freuden des Familienlebens fallen. Hin und wieder streichelte er ihre Hände, und seine Lippen huschten über ihre Stirn.

Asiadeh blickte verbissen auf die lange Reihe der Bücherregale. Alles wäre anders gekommen, wenn sie, auch weiterhin dem Gebote der Sittsamkeit folgend, ihr Gesicht mit dem Schleier verhüllen würde. Dr. Hassa hätte sie nie erblickt, das Leben wäre unkompliziert geblieben, und sie selbst müßte nicht über das Geheimnis der Liebe grübeln, anstatt turanische Präfixe zu untersuchen.

Nachdenklich kratzte sie mit dem Finger das dunkle Holz des Tisches. Es war wohl überhaupt ein Fehler, die Heimat zu verlassen. Aber der Vater hatte es so gewollt — und nun brach das Unglück über sie herein — die Liebe zu einem fremden Mann, der anders fühlte, anders dachte, anders handelte als alle Menschen, an die sie gewohnt war.

Asiadeh seufzte und verachtete sich tief. Sie fühlte sich machtlos und beschämt. Hassa verfolgte sie, und es gab kein Entrinnen aus dem lockenden Kreis seiner Worte, Blicke und Gebärden.

Asiadeh erhob sich und ging an den Bücherregalen entlang. Der glatzköpfige Bibliotheksverwalter, der an der Tür saß und in den Katalogen blätterte, warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie tat so, als suchte sie ein vertrautes Buch, und ihre besorgten Blicke glitten über die Suaheli-Grammatik und die Einführung in das Mittelpersische.

»Heiraten«, dachte sie verwirrt und kehrte zu ihrem Sitz zurück. Sie nahm einen Bogen und zeichnete mit dem Bleistift Dämonenköpfe, geometrische Figuren und unbekannte Endungen nie gehörter Worte. Dann legte sie den Bleistift weg und wunderte sich, daß auf dem Papier in schöner arabischer Schrift »Prinz Abdul-Kerim« geschrieben stand. Sie schüttelte den Kopf und schrieb denselben Namen in lateinischen Lettern. Dann strich sie ihn durch, schrieb den vollen Titel auf türkisch »Schah-Sade Abdul-Kerim-Effendi hasretlari« und wußte plötzlich genau, daß sie die ganze Zeit an nichts anderes als an den verschollenen Prinzen gedacht hatte.

Sie hatte ihn nie gesehen, aber sie ahnte ihn, wenn sie in einem Boot auf dem Bosporus an seinem Palast vorbeifuhr und einsame Diener auf den Terrassen sah. Er mußte helle Haut haben und die lange gebogene Nase der Osmanen. Seine Augen waren traurig und sein Mund fest zusammengepreßt. Vielleicht neigte er, wie der Sultan Abdul-Asis, zu Trübsal und Melancholie. Vielleicht war er listig, schwach und brutal wie Abdul-Hamid. Vielleicht lebte er in träger Langeweile und hatte verhängte Augen, hinter denen sich eine verborgene jenseitige Welt ahnen ließ, ganz wie bei dem verträumten und stillen Memed-Raschi. Sie wußte es nicht, sie wußte nur, daß dieser Prinz, der im Palaste am Bosporus gewohnt hatte, ihr zugedacht war, daß sie keinen anderen lieben durfte und sich dennoch in einen Barbaren mit langen Beinen und lächelnden Augen verliebt hatte. Der Prinz war fort, auch er hatte sie nie gesehen, vielleicht kaum von ihr gehört. Vielleicht hatte er weiche, gepflegte Hände und die müde Liebe zum Tod, zur Stille und zum Vergessen wie der verstorbene Jussuf-Izzeddin. Es war nicht viel dran an dem müden Geschlecht der letzten Osmanen. Hassa war kräftiger, gesünder, näher.

Asiadeh zuckte fassungslos die Achseln. Sie trauerte einem Prinzen nach, der gar kein Prinz mehr war und der sie nie gesehen hatte. Sie nahm einen Bleistift und zeichnete um den Namen des Prinzen ein schön geschwungenes Ornament. »Asiadeh ist eine Gans«, schrieb sie darunter und hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie ihr ganzes Leben in einen wirren Wachtraum versunken gewesen. Sie hob die Hand und strich mit langsamer Bewegung die Haare aus der Stirn. Dann suchte sie in ihrer Ledermappe, fand ein Blatt, ergriff eine Füllfeder und schrieb langsam und bedächtig »An Seine Kaiserliche Hoheit den Prinzen Abdul-Kerim-Effendi.« Sie blickte lange auf die Überschrift und war überzeugt, nicht minder wahnsinnig zu sein als die letzten Osmanen. Dann schrieb sie:

»Kaiserliche Hoheit! Sie haben mich nie gesehen und werden sich vielleicht kaum noch meines Namens erinnern. Seine Majestät unser erhabener Kaiser und der Beschützer aller Gläubigen hatte einst bestimmt, daß ich, so Gott uns gnädig sein wird, in das Palais Ew. Hoheit einziehen sollte, um Eure gehorsamste Sklavin und treuste Gattin zu werden.

Ich bin sehr arm, Hoheit, denn Gott hat es nicht gewollt. Ich wohne jetzt in Berlin und besuche das Haus des Wissens, in dem ich die Geschichte der erlauchten Ahnen Ew. Hoheit studiere. Trauer erfüllt mich, denn ich bin ganz einsam. Ich trage keinen Schleier mehr, und sehr viel fremde Männer können mich sehen. Strafen Sie mich, o Gewaltiger! Aber es ist für eine entschleierte Frau schwer, der Sünde nicht zu verfallen. Ich sinke zu Ihren erhabenen Füßen und flehe Sie an: nehmen Sie mich zu sich, wo immer Sie sind, damit ich Ihnen dienen kann und dieselbe Luft wie Sie atmen kann. Wenn Sie geruhen, Kellner zu werden, werde ich abends nach der Arbeit Ihre Füße massieren, wenn Sie ein Taxi durch die engen Straßen einer fremden Stadt fahren, werde ich Ihnen Flaschen mit heißem Kaffee auf den Weg geben und zu den Haltestellen gehen, um Ihnen zuzuwinken. Sollte aber die Gnade Ew. Hoheit mir für immer versagt bleiben, so flehe ich Sie an, mich zu verstoßen, auf daß ich mich frei fühle und zum Abgrund eile, den man Liebe nennt und der das Schicksal der Entschleierten ist. Denn ich bin jung, Hoheit, und meine Erziehung im väterlichen Hause war noch nicht beendet, als uns dieses Haus genommen wurde. Deshalb bin ich schwach und habe noch nicht die Geduld und Beherrschung, die Gott den Frauen als Pflicht auferlegt hatte. Ich denke oft an Sie, an Ihr Palais am Bosporus und an die Bäume, die in Ihrem Garten wuchsen und an denen ich vorbeifuhr, als ich noch glaubte, einst in ihrem Schatten ruhen zu dürfen. Zürnen Sie mir nicht, Hoheit, denn ich bin Ihre Sklavin, angekettet an die Pflicht, Ihnen zu gehorchen, die unser Kaiser und Herr mir anbefohlen hat.«

Asiadeh unterschrieb und steckte den Brief in den Umschlag. Dann nahm sie ihn wieder heraus und schrieb errötend die Nachschrift: »Und sollte mir Ew. Allerhöchste Antwort versagt bleiben, so fürchte ich mich, das als Zeichen Eurer Ungnade zu deuten, einer endgültigen Ungnade, die mich in die Arme einer fremden Liebe treiben wird.«

Sie verklebte den Brief und blickte unschlüssig auf den Umschlag. Kein Mensch wußte, wo sich der Prinz aufhielt. Ihre Zungenspitze glitt aus dem Mund und verschob sich langsam aus dem rechten Mundwinkel in den linken. Sie schrieb:

»An die Regierung der türkischen Republik — zu Händen des landesverwiesenen Prinzen Abdul-Kerim. Sehr wichtig! Bitte nachsenden!«

Es bestand keinerlei Hoffnung, daß der Brief je ankommen werde. Sie erhob sich und verließ die Bibliothek. Der glatzköpfige Bibliothekar blickte ihr nach, voll Anerkennung und Achtung. »Welch fleißige Studentin«, dachte er. »Ob sie habilitieren wird? Sie sollte der Wissenschaft erhalten bleiben.«

Indessen ging Asiadeh durch die Dorotheenstraße. Hassa winkte ihr zu. Sie stieg in den Wagen, und Hassa sagte, daß es schön wäre, eine Hochzeitsreise im Wagen durch Italien zu machen. »Halt«, sagte Asiadeh. Hassa hielt. Sie stieg aus, ging zum Briefkasten und warf den Brief ein. Zurückgekehrt, lehnte sie sich in die Kissen und sagte etwas nachlässig: »Nach Italien? Meinen Sie? Das kann sehr schön sein.« Sie verstummte und blickte zum Fenster hinaus. Sie hatte Hassa sehr lieb.

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