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Während der Zug asthmatisch röchelnd im Sarajewoer Bahnhof hielt, bremste die Straßenbahn mit dem großen Bären im Wappenschild in der Kantstraße vor dem Teppichgeschäft Bagdadian & Cie. Achmed-Pascha stieg aus und ging etwas gebückt in den Laden. Der Geruch der alten Teppiche umgab ihn und wirkte beruhigend. Es war entschieden richtig, daß er eine bezahlte und keineswegs standesgemäße Stellung angenommen hatte. Die sanften Farben der Teppiche wirkten wie die Erinnerung an eine alte entschwundene Welt. In den weichen Linien der uralten Muster offenbarten sich Gärten, Jagdszenen, Kämpfe uralter Recken und sehnsüchtige Gesten schlanker Jungfrauen mit länglichen Augen und schmalen Gesichtern.

Achmed-Pascha setzte sich im hinteren Zimmer des Geschäftes vor einen Stoß alter Teppiche. Seine Hände streichelten den bunten Stoff mit uralten Linien. »Ein Kerman«, flüsterte er und notierte den Preis. Tekiner, Smyrnaer, Kaschmirer, Koschaner Teppiche, bunte Fetzen, die die Farbenpracht des Orients widerspiegelten, glitten durch seine Finger. Mit ernst gerunzeltem Gesicht notierte er die Preise und schrieb kurze Erklärungen, die den barbarischen, aber reichen Käufern hinter der verwirrenden Pracht der Farben eine klassische Kriegsszene aus dem Epos von Firdusi offenbaren sollten. Um zwölf Uhr zog er seine Schuhe aus, nahm einen länglichen Tekiner Gebetteppich und betete lange und inbrünstig in der Richtung der Prophetenstadt Mekka. Dann saß er hinter einem kleinen Regal, mit einer Lupe bewaffnet, vor einem Stoß persischer Miniaturen und belehrte den hageren Händler:

»Diese Zeichnung, mein Herr, gleicht der Schule Achmed-Fabrisis aus dem sechzehnten Jahrhundert. Sie dürfen aber den Käufer nicht irreführen. Es ist nicht der große Bahsade. Bahsade liebte die Architektur, die in die Tiefe des Bildes geht, er zeichnete Gärten und dahinter Seen und noch weiter nach hinten ein Reh. Das hier ist von einem minderen Zeichner der gleichen Schule.«

»Aha«, sagte Bagdadian und schrieb in den Katalog: »Zeichnung von Bahsade. Sehr selten.«

Achmed-Pascha sah es und preßte die Lippen besorgt zusammen. Das war offensichtlich der Weg, auf dem so viele Völker reich und mächtig wurden, während das Reich Osmans zerfiel. Bis zur Dämmerung arbeitete er in dem teppichbelegten Zimmer. Dann fuhr er nach Hause, und auf dem Tisch lag ein Brief mit dem Poststempel Sarajewo. Achmed-Pascha öffnete ihn. Er las, und seine Hände zitterten leicht. Er erfuhr aus dem Brief, daß Sarajewo eine Stadt mit Gottesfurcht sei und die Zarska-Dschamij der blauen Moschee Istanbuls gleiche. Er erfuhr, daß Hassa der beste Ehemann der Welt sei und seine Verwandten gute Menschen, die genau wissen, was eine Istanbuler Prinzessin ist. Ferner erfuhr er, daß es keinen besseren Menschenzustand gibt, als den der Ehe und keine bessere Hochzeitsreise als nach Sarajewo.

Der Brief war kurz, und die Zeilen liefen in schräger Linie nach oben.

»Sehr gut«, sagte der Pascha und faltete den Brief.


»Sehr gut«, sagte auch John Rolland, als er um Mitternacht in der engen Gasse von Greenwich Village am Rinnstein saß und die Frackkrawatte seines Agenten Sam Dooth um seinen schwarzen Spazierstock band. »Sehr gut«, sagte er und versuchte den Stock auf den Bürgersteig hinzustellen. Der Stock zitterte leicht und fiel um. Sam Dooth lachte schallend und schlug John Rolland auf die Schulter. Dann blickten die beiden betrübt auf den Stock und schwiegen. Hinter den Türen der kleinen Lokale des New Yorker Künstlerviertels ertönte grelles Geschrei. Trübe Laternen hingen über den Eingängen der Lokale, und ein Polizist ging über die Straße und blickte nachsichtig auf die beiden Herren, die im Rinnstein saßen und mit dem Stock spielten.

Die Herren schoben die Zylinder in die Nacken, und der eine führte die linke Handfläche ans Ohr. Er öffnete den Mund, und ein wildes Geheul durchschnitt die nächtliche Stille von Greenwich Village.

»Amanamana-a-a-ah«, sang der Herr voll Inbrunst und Hingabe. Der andere blinzelte vergnügt und fing die Melodie auf.

»Gjaschiskjamana-a-a-ah«, sang er und hob das Gesicht zum Mond empor. Daraufhin umarmten sich die beiden und brüllten gedehnt den Sternen entgegen:

»Ai-diribe-e-ee-h, Wai-diribe-e-e-eh.«

Die Tür zu einem Nachtlokal öffnete sich, und ein golduniformierter Portier blickte erschrocken heraus. Der Polizist näherte sich den beiden und berührte ihre Schulter mit dem Gummiknüppel.

»Warum schreit ihr?«

»Herr, wir singen, wir sind musikalisch.«

Der Polizist blickte in den trüben Schein der Straßenlaterne. Er hatte rote und wässerige helle Augen, die an die Farbe des Ozeans an der Küste der grünen irischen Insel erinnerten.

»Das ist Geschrei«, entschied er gebieterisch. »Geht lieber nach Hause.«

»Mein Freund«, sagte der eine Herr. »Das ist die indochinesische Tonleiter. Sie ist, wie Sie richtig bemerkt haben, wesentlich anders als in Irland. Immerhin kommen Sie nicht darüber hinweg, daß Millionen von Menschen beim Klange dieser Tonleiter die ganze Skala der menschlichen Emotionen empfinden: vom Erotischen bis zum Göttlichen.«

»So«, sagte der Polizist drohend und zog seinen Notizblock. »Zehn Dollar«, fügte er sachlich hinzu und reichte die Quittung.

Die Herren zahlten. Der eine erhob sich und zog den andern hoch. Rhythmisch taumelnd verschwanden sie in der Richtung des Washington Square. Unterwegs umarmten sie sich, und der eine flüsterte dem andern ins Ohr.

»Dieses hier ist ein wildes Land. Die Menschen sind roh und unmusikalisch.«

Am Washington Square blieben sie stehen. Der Platz war menschenleer. Der schäbige Triumphbogen in der Mitte glich dem toten Auge eines Zyklopen. Hinter ihnen lag Greenwich Village. Von dort kamen die Töne des billigen Jazz. Jünglinge mit künstlerischen Locken tauchten im flatternden Lichte der Nachtlaternen auf. Sie hatten schwärmerische Augen und hastige torkelnde Schritte. Manchmal fuhr über die engen holprigen Straßen eine dunkle Limousine. Aus den Fenstern der Limousine blickten Augen voll Verachtung und Neugierde. Von weit her erklang das Geklirr eines zerbrechenden Glases, und eine hohe weibliche Stimme rief: »Joe, einen Drink.«

»Galata«, sagte John Rolland. »Einfach Galata. Oder Tatawla. Ich durfte ja nie hin, aber es kann kaum anders gewesen sein. Du mußt es wissen, Perikles.«

Sam Dooth kniff die Mundwinkel verächtlich zusammen. »Habe nie die Kloaken eurer Haupt- und Residenzstadt besucht.« Seine Stimme klang ungemein würdevoll. »Ich bin nämlich am Phanar geboren, am Sitze des Patriarchen. Noch unter Michael Porfirogenetos war ein Heptomanides Patrizier.«

»Du lügst«, sagte John Rolland vorwurfsvoll. »Du stammst aus dem Verbrecherviertel Tatawla. Sonst wärest du unfähig, mir zehn Prozent meiner Einkünfte wegzunehmen.«

»Was ist Geld«, hüstelte Dooth und spreizte die Finger. »Wichtig ist nur der seelische Friede. Übrigens nehme ich von andern fünfzehn Prozent.«

Er zog aus der rückwärtigen Hosentasche eine flache Metallflasche und reichte sie versöhnend dem Nachbarn. John trank, und sein nach rückwärts gebeugter Kopf verfolgte erstaunt die endlosen Reihen der Stockwerke der Wolkenkratzer. Stumme gigantische Steinmassen umringten den Platz. Der schäbige Triumphbogen in ihrer Mitte sah armselig und verloren aus. Er stammte aus den Zeiten, als fromme Puritaner an der Wall Street einen Friedhof besaßen und die Straßen der Stadt Namen statt Nummern trugen.

»Die Holländer sind ein leichtfertiges und verschwenderisches Volk«, sagte John Rolland und reichte dem Freund die Flasche zurück. »Sie haben den Indianern fünfundzwanzig Dollar für Manhattan bezahlt. Das war viel zuviel.«

Sam Dooth blickte in die majestätische Schlucht der Häuserreihen. »Man sollte das Geld zurückverlangen«, meinte er. »Oder die Indianer wegen Verführung zu einem wissentlich ungünstigen Geschäft gerichtlich verfolgen.« Er verstummte und legte den Kopf auf die Schulter des Freundes. »Es ist ja alles verjährt«, seufzte er und wußte selbst nicht mehr, ob er in dem Verbrecherviertel Tatawla oder am Aristokratenhügel Phanar zur Welt gekommen war.

Es graute. Die dunklen Giganten am Platz schimmerten in rosigem Silber.

»Hiun-Hu«, sagte plötzlich Rolland und hatte verglaste Augen. »Hiun-Hu«, wiederholte er. »In Europa nannte man sie Hunnen.

Sie waren ein Volk und eine ihrer Sippen nannten die Chinesen Tü-Ke — Türken.«

Er schwieg, und über den Platz fuhr der erste grüne und unförmige Autobus.

»Tü-Ke«, sprach er weiter, »sie waren eine robuste Sippe und kämpften gegen China. Dort herrschte damals Schi-Huan-Di. Das war ein weiser Kaiser. Um sein Volk gegen die äußeren Barbaren zu schützen, erbaute er die große Chinesische Mauer. Aber es half nicht viel. Die Barbaren stellten eine Leiter an die Mauer, kletterten nach China hinein und erlernten dort die indochinesische Tonleiter.«

John Rolland rückte die Krawatte zurecht und fühlte sich von neuem für das Leben gewappnet. Über den Washington Square fielen die ersten Strahlen der fahlen Sonne.

»Diese wilden Töne«, sprach er weiter, »brachte das wilde Volk an die Ufer des Mittelmeeres. Erst viel später entstand das heilige Haus Osman und das Gestirn-Palais am Bosporus.«

Sam Dooth blickte seinen Freund mit dem Stolze des Besitzers und Erfinders an.

»Du bist ein Lyriker, John«, sagte er bewundernd. »Man sollte einmal die indochinesische Leiter im Film verwenden. Ein fernöstliches Sujet. Vielleicht unter dem Titel: ›Beim Bau der Großen Mauer‹. Großartiger Kostümfilm. Überdenk es.«

»Ich werde es überdenken«, sagte Rolland folgsam, »die Sonne wird über den sandigen Hügeln aufgehen, und das Volk wird die Große Mauer bauen. Ich aber werde Kopfschmerzen haben. Ich werde Pillen schlucken und in Unterhosen an der Schreibmaschine sitzen. Abends werde ich dann Whisky trinken, damit das Leben wieder schön ist.«

Er erhob sich. Sam Dooth stützte ihn. Er blickte auf das schmale und blasse Gesicht Rollands. So waren sie alle — die letzten Osmanen. Menschenscheu und gebieterisch. Einsam, sanft und brutal zugleich, mit zarten Gliedern und seltsamen Phantasien, die man mit Hilfe eines tüchtigen Agenten in Dollars umwandeln konnte.

Sam Dooth verstand plötzlich sehr gut, warum das Reich zerfiel und die Filme Rollands so leicht verkäuflich waren. Phantasten und Schwärmer saßen auf dem Throne Osmans und herrschten über drei Kontinente.

»Gehen wir«, sagte Rolland und stützte sich auf den Freund.

»Weißt du — ich war ein Gefangener im Palais am Bosporus und jetzt bin ich eingesperrt in die Steingrüfte dieser Stadt.«

»Was willst du«, seufzte Sam. »Du hast doch Geld. Du solltest vielleicht eine Reise machen. Dir die Welt anschauen. Du kennst doch nur den Bosporus und das Barbison-Plaza-Hotel. Ich fahre mit. Ich werde mit den Portiers sprechen und telephonieren. Du kannst es ja doch nicht.«

Sie gingen über den Platz. Auf der Terrasse des Cafés der Fifth Avenue standen die morgendlich verschlafenen Kellner. Die Terrasse war menschenleer, und die grünen Tische glichen einem taubedeckten Rasen. Sie betraten die Terrasse und setzten sich schwer und müde an den Tisch.

»Zwei Kaffee. Sehr stark«, sagte Rolland und war plötzlich ganz nüchtern. Dann beugte er sich zu seinem Freund hinüber und begann:

»Der Film spielt in China. Die Gegenwart wird visuell durch die Vergangenheit eingefangen. Die Mauer ist das Symbol des selbstgefälligen, beschränkten und überheblichen Friedens…«

Der Agent sah in dankbar an.

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