22

Dr. Kurz machte einen Rundgang durch sein Sanatorium. In den Spielzimmern saßen üppige Rumäninnen und spielten Bridge. Im Lesezimmer blätterte ein nervöser Literat in den Zeitungen und klagte über Kopfschmerzen. Eine Schar älterer Patientinnen saß auf dem Balkon und unterhielt sich leidenschaftlich über Schizophrenie und Diabetes.

Kurz ging in den Garten. Auf den Bänken der langen Alleen saßen Melancholiker und stritten über Selbstmord. Kurz lächelte liebenswürdig und verständnisvoll. Er verschrieb den Melancholikern Essigabreibungen und den Nervösen eine moderne Diät. Den Frauen mit Depressionszuständen verschrieb er Unterhaltung und Umgang mit Männern. Er tat es seit Jahren und hatte damit gute Erfahrungen gemacht. Frauen waren wie unmündige Kinder, nur um vieles leichter zu behandeln. Ein erfahrener Nervenarzt hatte da seine Erfahrungen.

Jede Frau konnte man erobern, aber nicht bei jeder verlohnte es sich.

Dr. Kurz beendete den Rundgang und ging in sein Arbeitszimmer. Ja, jede Frau konnte man haben, es war wie eine mathematische Aufgabe, wie eine Gleichung mit wenigen Unbekannten. Kurz setzte sich an den Schreibtisch und sagte ins Telephon:

»Schwester, ich bin jetzt mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt und für niemanden zu sprechen.«

Dann legte er ein Bein über das andere und zündete sich eine Zigarette an. Die wissenschaftliche Arbeit hieß Asiadeh.

Eine schöne Frau — dachte Kurz —, eine begehrenswerte Frau. Er verspürte ein angenehmes Kitzeln in seinen Fingerspitzen. Der Instinkt eines erfahrenen Nervenarztes sagte ihm, daß Hassas Ehe kriselte. Hassa selbst war natürlich ahnungslos, wie immer. Kurz witterte aber die Ehekrisen in den unmerklichsten Erscheinungen des Lebens. In Asiadehs Kopfnicken, im leisen unterdrückten Lächeln, im Beben der Wimpern, in allem merkte Kurz die geheimen Zeichen des seelischen Konfliktes.

Ein anderer Mann? Kurz schüttelte den Kopf. Es gab keinen anderen Mann in Asiadehs Nähe. »Die Frau langweilt sich einfach«, stellte Kurz befriedigt fest, das Leben mit Hassa ist reichlich eintönig. Sie sehnt sich nach einem Abenteuer, aber weiß es noch nicht.

Kurz hob den Hörer des Telephons ab. Achtmal drehte er die Wählscheibe, achtmal lächelte er dem Unsichtbaren zu, der sich im Hörer meldete, und achtmal wiederholte er:

»Verehrter Freund, ich gebe am Samstag eine kleine Gesellschaft. Nichts Besonderes. Hassas werden da sein, und Sachs und Matuschek. Auch die gnädige Frau natürlich. Ja, im Smoking. Ich würde mich sehr freuen.«

Nach dem achten Gespräch waren die Vorarbeiten für die wissenschaftliche Arbeit beendet. Dr. Kurz war außerordentlich zufrieden.

Sonnabend um halb neun Uhr betrat Asiadeh die hell erleuchtete Zimmerflur im Rathausviertel — die Wohnung von Kurz. Hassa schritt neben ihr. Der steife Kragen drückte seinen Hals, und das gestärkte Hemd wölbte sich. Asiadeh sah glattpolierte Möbel und einen geöffneten Schrank mit einer Batterie von Flaschen.

Das große Zimmer war grell erleuchtet. Worte füllten den Raum wie kleine graue Vögel. Blauer Zigarettendampf verschleierte die Gesichter der Gäste und machte sie rätselhaft.

»Einen Cocktail«, rief Kurz, und Hassa nahm das Glas. In den breiten Sesseln saßen geschminkte Frauen mit nackten Schultern und glänzenden Augen. Asiadeh blickte in den Spiegel. Auch sie war geschminkt, und ihre Schultern waren den Blicken der Menschen preisgegeben. Äußerlich unterschied sie nichts mehr von diesen Frauen, die zahlreiche Männer hatten und Cocktail schlürften.

Die Männer standen in dem Raum wie Statuen mit Gläsern in der Hand. Die Worte klangen unwirklich, geisterhaft und fremd. Eine Frau mit strengem Profil und schmerzverzogenen Augenbrauen saß in der Ecke. Sie sprach vom Theater, und ihre Stimme klang wie ein Geheimnis. »Das war zuviel«, sagte sie, »haben Sie die Aufführung gesehen?« — »Nein«, sagte ein junger Mann und machte eine breite Handbewegung, »aber ein Buch ist erschienen. Haben Sie es gelesen?« — »Nein.« Asiadeh wußte nicht, ob sich die beiden miteinander unterhielten.

Die Gäste glichen Anhängern einer unbekannten Sekte. Die Bewegungen hatten ein magisches Gepräge. Lautlos wurden die Gläser geleert, und es war wie ein uraltes Ritual. Die Menschen schwammen im Tabaksqualm wie die Silhouetten eines Schattenspieles. Manchmal verstummten alle und sahen sich an wie Verschwörer bei einer nächtlichen Versammlung.

»Die Börse«, sagte ein Magier mit großer Glatze und hob bedeutungsvoll den Finger, »der Pulsschlag der Wirtschaft, das Barometer des öffentlichen Lebens. So was muß man erlebt haben. In Paris oder in London.«

Er verstummte mit erhobenem Finger. Niemand hörte ihm zu.

»Ja«, sagte Asiadeh schüchtern und ging in die Ecke. Weißbeschürzte Dienstmädchen reichten Sandwichplatten. Die Sandwiches waren bunt und eckig wie ein altes Mosaik. Asiadeh knabberte an einem Sandwich. Ein Arzt neben ihr erzählte von einer Fahrt nach Genf. »Konsilium«, sagte er und blickte siegreich um sich.

»Die Schweiz ist nur im Winter schön«, hauchte jemand. »Kennen Sie Sankt Moritz oder Arosa? Voriges Jahr wohnte ich im Tschuggen-Hotel.«

»Nein«, sagte Asiadeh und schämte sich, daß sie nie im Tschuggen-Hotel gewohnt hatte, »ich fürchte mich vor dem Schnee. Kälte ist der Vorbote des Todes.« Zwei Augen zeigten sich im Tabaksqualm und sahen sie mitleidig an.

Eine ungeheure Kristallschale, mit Bowle gefüllt, wurde hereingebracht. Sie glich einem großen duftenden Bassin. Die Gäste standen um das Bassin wie Schwimmer vor dem Start. In der Hand des Dr. Kurz glitzerte ein Silberlöffel. Die Gesichter der Gäste röteten sich. Die Stimmen wurden lauter.

»Das Problem des Mittelmeeres ist noch lange nicht gelöst«, sagte jemand sehr überheblich.

Ein kleiner Mann putzte sich die Brille und rief herrisch: »Die Frau von heute ist morgen eine Frau von gestern.«

Erschrockenes Lachen ertönte.

Nach dem achten Sandwich erhob sich Asiadeh. Sie ging durch die Zimmerflucht. In den verdunkelten Ecken saßen Männer und Frauen, eng aneinandergeschmiegt. Ein Herr mit zerknülltem Smokinghemd saß auf dem Diwan, und sein Kopf glich einem Spielball. Hassa stand am Ofen eingezwängt zwischen zwei Frauen. Er hielt ein Bowleglas in der Hand und trank Asiadeh zu.

Sie nickte vergnügt. Neben ihr stand Dr. Kurz.

»Wie geht es Ihnen, gnädige Frau?« Er tat so, als ob ihn Asiadeh nie auf dem Semmering sitzengelassen hätte.

»Danke, gut.« Asiadeh dachte an den Semmering und hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Sie ging neben Kurz her und stand plötzlich in einem leeren Zimmer vor einem verwirrenden Gemälde.

»Ein echter van Gogh«, sagte Kurz, »merken Sie den trockenen Rausch der Linien?«

Asiadeh merkte nichts. Sie sah eine Leinwand mit bunten Flecken und nickte ehrfurchtsvoll.

»So werden Sie besser sehen.« Er löschte die Lampen aus. Nur eine kleine Indirekta erleuchtete den Raum. Asiadeh nahm in einem weichen Sessel Platz. Sie hob den Kopf hoch und starrte auf die Leinwand. Das Bild langweilte sie. Das Zimmer war leer, und es roch nach Parfüm. Im Nebenzimmer ertönte das Lachen der Gäste.

»Was machen Sie den ganzen Tag, Asiadeh?« Kurz’ Stimme klang vertraulich.

»Ich lese über Afrika.«

»Über Afrika?« Kurz war sichtlich interessiert. Frauen, die über Afrika lesen, konnten unmöglich eine glückliche Ehe führen.

»Ja«, Asiadeh wurde plötzlich sehr lebhaft, »über die Sahara. Es ist ein seltsames Land. Es muß dort sehr schön sein. Haben Sie schon etwas über Gadames gehört?«

»Nein.« Kurz war aufrichtig erstaunt.

»Es ist eine Oase im Herzen der Sahara, an der heiligen Quelle Ain-ul-Fras. Nur siebentausend Einwohner. Aber sie zerfallen in viele Kasten. In den adligen Ahrar, in die berberischen Hamran, die schwarzen Atara und die Habid, die ehemaligen Sklaven.«

»So«, sagte Kurz, »eine ferne Oase in der Wüste. Davon lesen Sie also. Ob es dort auch Frauen gibt?«

»Ja, es gibt dort Frauen. Sie wohnen auf den Dächern. Alle Dächer sind miteinander verbunden. Kein Mann darf auf das Dach. Keine Frau darf auf die Straße. Zwischen den Dächern und den Straßen liegen Wohnungen. Dort treffen sich die Männer mit den Frauen. Eine seltsame Welt. Manchmal hab’ ich das Gefühl, daß ich dort war.«

»Eine seltsame Welt«, wiederholte Kurz. Er stand vor ihr im Halbdunkel des parfümierten Zimmers. Plötzlich beugte er sich vor.

»Asiadeh«, sagte er und ergriff ihre Hand, »nicht nur in Gadames, auch hier sind Menschen durch Dächer und Straßen voneinander getrennt. Viel strenger als in Gadames. Es gibt keinen Gang von Seele zur Seele. Einsamkeit ist des Menschen Los. Dort in der Sahara oder hier in dem versteinerten Wald der Großstadt.«

Er beugte sich ganz nahe zu Asiadeh. Er flüsterte:

»Einsam bleibt die Frau im Ehebett und einsam der Wanderer durch die Welt des Alltags. Nur selten, nur sehr selten, wie das Blitzlicht eines Wunders…« Er sprach nicht weiter. Er ergriff Asiadehs Kopf. Er preßte seine Lippen an die ihrigen. Sie zuckte heftig zusammen. Er zog sie zu sich empor und seine Hände umfaßten ihren Leib. Er drückte ihren Kopf an seine Brust und sein heißer Atem berührte ihren Nacken.

Plötzlich riß Asiadeh den Kopf hoch. Kurz sah zwei rasende wildfunkelnde Augen. Asiadehs Hände ergriffen seinen Hals. Mit einem wilden Ruck sprang sie hoch. Ihre Knie bohrten sich in seinen Leib. Er sah das Zittern ihrer kleinen, plötzlich erblaßten Lippen. Die Lippen kamen immer näher. Die rasenden Augen wurden ganz schmal. Plötzlich pfiff Asiadeh, kurz und scharf, wie ein Raubvogel. Ihre Zähne erfaßten etwas Fremdes und Weiches. Entsetzt rückte Kurz zurück. Er zerrte an dem kleinen wilden Körper, der ihn krallenartig umfaßte. Er riß, von lähmender Furcht ergriffen, an ihren Schultern.

Wortlos kämpften sie im Halbdunkel des parfümierten Zimmers. Alles Menschliche war von Asiadeh gewichen. In tierischem Haß biß sie sich in das Fremde hinein. Sie fühlte einen salzigen Geschmack in ihrem Mund. Kurz taumelte.

Plötzlich ließ sie ihn los. Sie stand in der Mitte des Zimmers, den Kopf nach vorne gebeugt, und wischte mit dem Taschentuch die Lippen ab. Über Kurz’ Gesicht rann ein breiter Blutstreifen. Sein Gesicht war grünlich. Ganz erschöpft sank er in den Sessel.

Wortlos verließ Asiadeh den Raum. Sie trat in das hell erleuchtete Zimmer, ihre Augen waren noch immer ganz schmal. Auf dem runden Tisch stand ein großes Glas Bowle. Sie ergriff es und leerte es in einem Zug. Zum erstenmal in ihrem Leben verspürte sie den Geschmack des Alkohols. Sie hatte das Gefühl, als bohrten sich feurige Spieße in ihre Eingeweide.

So was gab es also wirklich! Ein Freund ihres Mannes sah sie mit den Augen der Liebe an. Sie trat an den Spiegel. Alles an ihr erschien ihr besudelt, beschmutzt und befleckt. Die Gesichter der Gäste kreisten vor ihren Augen. Jemand lachte, und es klang wie das nächtliche Geheul einer Hyäne. Sie ging weiter, das blutbefleckte Taschentuch in den Händen zerknüllt.

Im zweiten Zimmer auf dem Diwan saß Hassa. »Es kann auch in Allgemeinnarkose gemacht werden«, sagte er, »aber natürlich beim hängenden Kopf.«

Sie winkte ihm zu. Er erhob sich sogleich und folgte ihr. Sie schwieg. Sie glaubte die Folgen der Worte zu ahnen, die an ihren Lippen hingen. Hassa stand da, breit und kräftig in seiner herrlichen Schutzbereitschaft. Sie vergaß den Prinzen und die ferne Oase in der sandigen Sahara. Hassa war da, er war ihr Mann. Etwas Schreckliches mußte jetzt geschehen, und sie konnte es nicht mehr zurückhalten.

»Hassa«, sagte sie, »Herr und Gebieter. Dein Freund, der uns in dieses Haus rief, brach das Gesetz der Gastfreundschaft. Er lockte mich in ein leeres Zimmer. Er überfiel mich und wollte mich vergewaltigen. Ich glaube, ich habe ihm das Ohr abgebissen. Geh hin, Hassa, und töte ihn.«

Sie sprach hastig, mit heiserer Stimme. Hassa blickte sie erschrocken und verwundert an.

»Was hast du, Asiadeh?« Er sah das blutbefleckte Taschentuch in ihrer Hand. »Woher das Blut?«

»Ich glaube, ich habe ihm das Ohr abgebissen. Jetzt mußt du ihn töten, Hassa. Gehe und töte!«

Etwas Gieriges, Dumpfes klang in ihrer Stimme. Sie stand da, zart und einsam, mit herabhängenden Händen und wiederholte, wie von einer finsteren Ekstase ergriffen:

»Töte ihn, Hassa, töte ihn.«

»Das Ohr hast du ihm abgebissen? Mein Gott, du wildes Mädchen.« Hassa war fassungslos. Er grinste verwundert.

»Ich hätte ihm die Kehle durchbeißen sollen, aber ich bin nur eine Frau. Töte ihn, Hassa, er hat mich beleidigt.« Hassas Grinsen wurde immer breiter. Er hatte viel getrunken an diesem Abend. Der Gedanke, daß seine Frau dem Kollegen Kurz das Ohr abgebissen hatte, erschien ihm ungemein grotesk.

»Ich werde gleich hingehen. Schau nicht so finster drein, ich fürchte mich direkt vor dir.«

Er ging durch die Wohnung. Das parfümierte Zimmer mit dem van Gogh an der Wand war leer. Er ging weiter. Kurz stand im weiß getäfelten Ordinationszimmer mit hochgezogenen Hemdsärmeln und war gerade im Begriff, mit einem Pflaster das Ohr zu verkleben.

»Deine Angorakatze hat mich leicht gekratzt«, sagte er verlegen.

Hassa schüttelte den Kopf.

»Nervenärzte verstehen nichts von Verbänden«, sagte er verächtlich. »Komm, ich mach es dir.«

Er wusch die Wunde aus und verklebte sie kunstgerecht.

»Du hast eine wilde Frau«, jammerte Kurz, sichtlich beruhigt, »sie hat mich ganz zerschunden. Wie soll ich mich jetzt meinen Patienten zeigen?«

»Geschieht dir recht«, lachte Hassa und spielte mit der Verbandschere. »Was fällt dir ein, fremde Frauen zu belästigen.«

»Wieso belästigen?« Tiefe Empörung klang in Kurz’ Stimme. »Was hat sie denn dir erzählt? Wir standen in dem van-Gogh-Zimmer, und ich erklärte ihr das Bild. Vielleicht war ich in etwas ausgelassener Stimmung. Mitten im Gespräch legte ich meine Hand um ihre Schulter oder berührte ihr Gesicht, ich weiß nicht mehr genau. Plötzlich sprang sie auf mich los — ich sag’ dir, wie eine wilde Katze, wie eine kleine Furie. Was denkst du denn, Hassa, ich werde doch keine Frau verführen, während zwanzig Menschen im Nebenzimmer sind. Das wäre ja gelacht. Und überhaupt: — ich und fremde Frauen! Lächerlich. Mir genügen die hysterischen Patientinnen. Übrigens — morgen schick’ ich dir einen Fall — eine reiche Polin mit nervösen Beschwerden. Vermutlich eine Reflexneurose.«

Hassa lachte. Kurz war ein harmloser Mann, und Asiadeh hatte Haremsvorstellungen über gesellschaftlichen Umgang. Eine Orientalin war eben anders geartet. Kurz tat ihm beinahe leid.

Während Hassa die Wunde verklebte und über die Reflexneurose der reichen Polin sprach, saß Asiadeh im breiten Diwan des Empfangssaales, und ein Mann mit verschwommenem Gesicht erklärte ihr das Wesen der modernen englischen Dichtung:

»Die ganze Tragik und die ganze Sinnlosigkeit des irdischen Daseins ist in Galsworthy enthalten«, sagte er.

»Ja«, antwortete Asiadeh und blickte zur verschlossenen Tür. Dort, hinter der Wand, mußte etwas Fürchterliches vor sich gehen. Warum hörte sie keine Schreie? Vielleicht hat ihn Hassa erwürgt oder er schlug mit einem harten Hammer auf seinen Schädel, und der Feind sank lautlos zu Boden. Gleich müßte ein fürchterlicher Schrei ertönen. Oder? Asiadehs Herz stand still — oder bleibt der andere Sieger, und Hassa liegt jetzt in einer Blutlache im parfümierten Salon? Aber das war unmöglich, Hassa war stärker als Kurz und bestimmt mutiger. Außerdem mußte Gott auf Hassas Seite sein — ganz bestimmt!

Die Tür öffnete sich. Asiadeh hielt den Atem an.

»Seit Oscar Wilde ist die englische Literatur erdhafter und greifbarer geworden. Man fühlt das Streben nach Realität, daher die Vorliebe für Biographien und Tatsachenberichte.«

»Oh!« sagte Asiadeh.

In der Tür standen Hassa und Kurz. Kurz’ linke Wange war verklebt. »Ein kleiner Unfall«, lachte er verlegen. »Ich glitt aus, mit einem Sektglas in der Hand. Das Glas ging in Scherben und zerschnitt mir das Ohr. Nicht der Rede wert. Kollege Hassa leistete mir Erste Hilfe.«

Asiadeh stand auf. Sie ging durch das Zimmer. Kurz war plötzlich unwichtig und klein. Hassa stand vor ihr, und seine Hand ergriff ihren Arm. Er führte sie zum Fenster. Sie sah ihn an und fühlte, wie ihre Lippen zuckten.

»Du hast ihn nicht getötet, Hassa? Du läßt deine Frau beleidigen? Du bist doch mein Mann, Hassa. Muß ich mich selbst rächen?«

»Du hast es schon reichlich getan, mein Kind.« Hassa sprach belustigt und ein wenig verlegen. »Du bist eine brave Frau, auf die ich mich verlassen kann. Aber wir sind ja nicht in Asien. Wenn ich jeden Mann ermorden würde, der beim Wein den Wunsch verspürt, nett zu dir zu sein, müßte ich ein Massenmörder werden. Wir sind ja schließlich zivilisierte Europäer.«

Kurz näherte sich den beiden. Seine Stimme klang demütig:

»Gnädige Frau«, sagte er, »es tut mir schrecklich leid. Ich glaube, ich war etwas ausgelassen, während Sie etwas nervös waren. Ich bitte Sie, mir zu verzeihen, ich habe ganz vergessen, daß Sie eine Dame aus dem Harem sind. Hier in Europa nimmt man die gute Laune nicht so ernst.«

Asiadeh schwieg. Sie blickte in den großen Wandspiegel. Sie sah ihre Beine, ihre Arme, ihre nackten Schultern. Sie sah ihr Gesicht mit weichen Lippen und grauen Augen. Das alles gehörte dem ungläubigen Hassa, der sie nicht zu schützen vermochte. Scham und Trauer überkamen sie. Was konnte eine Frau erwarten, wenn sie alles an sich den fremden Blicken preisgab und einen zivilisierten Mann hatte.

»Ich werde das nächste Mal verschleiert und vermummt in Gesellschaft gehen«, sagte sie, »vielleicht wird es dann sicherer sein. Komm, Hassa.«

Sie gingen. Kurz begleitete sie bis zur Schwelle. Ich bin Nervenarzt für Europäerinnen, dachte er, meine Kenntnisse enden an den Toren Istanbuls.

Die beiden bestiegen den Wagen. Sie schwiegen. »Du bist etwas temperamentvoll«, sagte Hassa, »entsinnst du dich noch, wie du mich geohrfeigt hast?«

»Sollte ich mich deinem Freund hingeben?«

»Aber Kind, ein moderner Mensch beißt doch nicht.«

Asiadeh schwieg. Hassa war plötzlich schrecklich fremd und weit. Die breite Ringstraße war von drohenden Häusern umrahmt. Gespensterartig blickten aus der Finsternis die Gitter des Parkzaunes. Männer und Frauen bewohnten die Häuser und waren wild und gefühllos in ihrer wirren Denkart.

Asiadeh dachte an den Vater. Er hätte dem Fremden die Augen ausgestochen, die sie gesehen haben, und die Lippen abgeschnitten, die sie geküßt haben.

»Bist du böse, Asiadeh?«

Hassas Hand berührte ihren Arm. »Wenn du willst, gehen wir nie wieder zu Kurz.«

»Nein«, sagte Asiadeh. Sie schämte sich ihres Mannes, sie schämte sich der Welt, in der sie lebte und deren wahre Züge sie nicht zu erkennen vermochte.

Das Auto hielt. Sie gingen in die Wohnung. Hassa war nicht feige, das wußte Asiadeh, er hatte eine feste Hand und einen sicheren Blick. Was hinderte ihn, den Feind zu erwürgen oder wenigstens zu strafen? Er liebte sie doch. Er würde nie wieder lachen können, wenn sie ihn betrügen würde. Und dennoch rächte er sie nicht. Er hatte einfach nicht den Wunsch, hatte nicht den Drang, den Feind zu Boden zu schleudern, Blut aus den Augen treten zu sehen, die seine eheliche Frau begehrt hatten.

Asiadeh blickte unter halb geschlossenen Lidern zu Hassa hinüber. Er lag im Bett und sah sie schuldbewußt, aber verständnislos an.

»Sei wieder gut, Asiadeh. Wir werden Kurz nicht mehr einladen, und der Fall ist erledigt. Ist ja wirklich unerhört, fremde Frauen zu umarmen. Eigentlich bin ich ganz froh, daß du dich so gewehrt hast. Wird ihm eine Lehre sein. Du bist ein tapferes, wildes Kind.«

Er lachte selbstzufrieden und schloß die Augen.

Asiadeh saß im Bett, die Knie hochgezogen. Die Augen starr auf die Nachttischlampe gerichtet. Sie dachte nicht mehr an Kurz. Es gab wahrscheinlich viele Männer wie Kurz. Brennender Schmerz zerriß ihre Brust. Sie legte das Kinn auf die Knie und dachte nach, angestrengt, mit gefurchter Stirn. Sie dachte an die Männer, die unzivilisiert sind, aber genau wissen, was Ehre ist. Sie dachte an Marion, die plötzlich gar nicht fremd war. Sie dachte an ihren Vater, an die Oase Gadames und an die fremde Welt, in der sie leben mußte und die sie nicht verstand.

Der Schmerz wurde ganz unerträglich. Schweiß trat auf ihre Stirn. Ein Gedanke erfüllte sie und vertrieb alle anderen. Sie dachte weder an den Vater noch an den Prinzen, weder an Marion noch an die fremde Welt um sie.

Sie saß im Bett, den Mund leicht geöffnet, die erschrockenen Augen auf die Glühlampe gerichtet. Sie stöhnte leise und kindlich, und der Gedanke surrte in ihrem Gehirn, ließ nicht los, marterte und stach sie. So saß sie, stöhnend und einsam. Hassa schlief neben ihr. Die Glühlampe brannte, und sie dachte unaufhörlich einen einzigen quälenden Gedanken.

Bis zum Morgengrauen dachte sie darüber nach, ob es richtig sei, von Hassa Kinder zu bekommen. Dann schlief sie ein. Die Rätsel waren nicht gelöst, aber sie lächelte, und durch das verhängte Fenster fielen auf den Teppich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.

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