Am frühen Morgen läutete das Telephon.
»Merhabar, Hanum-Efendi«, »Guten Tag, gnädige Frau.«
Asiadeh wurde sofort ganz wach.
»Merhabar Hasretinis«, »Guten Tag, Hoheit.«
Sie setzte sich im Bett auf Hassa wandte sich ihr zu und hörte verwundert die zwitschernden Laute.
»Ist mein Haus schon errichtet, Hanum?«
»Beinahe. Es fehlen nur noch einige Steine. Waren Sie am Grabe des heiligen Abdessalam?«
»Natürlich, ich habe für Sie einen geweihten Rosenkranz mitgebracht. Ich nahm Abschied von der Wüste. Es war ein freudiger Abschied. Wann sehe ich Sie, Hanum?«
Asiadeh verdeckte mit der Hand die Muschel.
»Hassa«, sagte sie, »es sind die beiden Landsleute, die ich im Sommer angefahren habe. Einen davon kennst du. Sie sind wieder da und wollen mich sehen.«
»Lade sie zum Nachtmahl ein«, sagte Hassa gleichgültig, »oder triff sie heute abend, beim Ball in der Burg.«
Asiadeh nickte und hob die Hand von der Muschel.
»Hoheit«, zwitscherte sie, »im Palast der Monarchen dieses Landes findet heute abend eine Versammlung der Weisen statt. Kommen Sie hin. Ich will Sie in den Palastsälen begrüßen.«
Sie hängte auf. Hassa sprang aus dem Bett und zog sich rasch an.
»Ich will noch schlafen, Hassa«, sagte Asiadeh, »ich… ich bin so müde.«
Sie schloß die Augen. Hassas Schritte verklangen in der Ferne. Sie lag regungslos im Bett, und ihre Hände waren über der Decke gefaltet. Der schwache Strahl der winterlichen Sonne fiel auf ihr Gesicht. Ihre Wimpern zitterten. Es war also so weit.
John war aus der Wüste zurückgekommen, und sie wußte selbst nicht, ob das Haus schon fertig war.
Sie öffnete die Augen. Das Zimmer war leer. Ein seltsames, dehnendes Gefühl erfüllte sie. Es war ihr, als wenn die Gegenstände im Zimmer langsam in ihr aufgingen und verschwänden. Sie blickte vor sich hin. Der Sonnenstrahl brach sich im Spiegel. Die Luft war plötzlich sichtbar geworden, beinahe greifbar und bunt.
Asiadeh erhob sich und schlüpfte in die Morgenschuhe. So saß sie am Rande des Bettes und fühlte ein Zittern in ihren Armen. Sie hatte plötzlich Angst, den Kopf zu heben und sich umzuschauen. Das Zimmer, die Schränke, die Tische, die Stühle drückten auf ihre Schultern. Das lackierte Holz blinzelte sie an, mißtrauisch und fremd. Sie ging zum Schrank. Die polierte Holzplatte erfüllte sie mit unverständlichem Schrecken.
Sie öffnete hastig die Schranktür. Eine dunkle, kühle Höhle starrte ihr entgegen. Kleider hingen in Reih und Glied und glichen Soldaten auf einer Parade. Asiadehs Hände berührten die bunten Fetzen. Jedes Kleid hatte einmal ihren Körper umhüllt, und an jedem Kleid war ein Stück ihres Daseins haftengeblieben. Als stumme Wache standen die Kleider am Weg ihres Lebens. Hier, an diesem bunten Stück Seide schlug ihr Herz, als sie mit Hassa zum Stölpchensee fuhr und er ihr einen Badeanzug kaufte. Das sommerliche Nachmittagskleid daneben barg die Erinnerung an einen Fünf-Uhr-Tee auf dem Semmering, an einen Autozusammenstoß und an einen fremden Mann, dem sie eine zerrissene Dollarnote ins Gesicht geworfen hatte. In der wirren Buntheit der Kleider las Asiadeh die Geschichte ihres Lebens. Das blaue Kostüm, das sie in Sarajewo trug, hatte noch den Geruch des Orients in seinen Falten bewahrt. Daneben zerknüllt und bunt — das Zigeunergewand vom Gschnas. Und ganz vorn — unberührt und jungfräulich — das weißseidene Abendkleid ohne Rücken und ohne Ärmel. Ein Ballkleid — schillernd und nie getragen, für die Prunksäle der Hofburg bestimmt.
Asiadeh schob das Kleid zur Seite. Es war die Uniform für eine Schlacht, aber zum Angriff war noch nicht geblasen. Ihr Blick fiel auf ein einfaches dunkles Kostüm. Es hing ganz hinten.
Liebevoll berührte sie den einfachen Stoff. Sie hatte es in den langen Bibliotheksstunden getragen, als sie die Geheimnisse der fremden Laute erschloß und Hassa an der Ecke im Auto saß und auf sie wartete. Asiadeh schob ihre Hand in die Brusttasche des Kostüms. Ein zerknüllter Papierfetzen kam zum Vorschein. Asiadeh betrachtete ihn verwundert. Sie hatte keine Ahnung mehr, wann sie dieses Papier in die Tasche geschoben hatte. Sie entfaltete es und las bestürzt:
»Was man dir bietet, kommt und geht. Nur das beglückende Wissen bleibt. Alles, was die Welt enthält, endet und schwindet. Nur das Geschriebene steht fest, alles andere fließt dahin.«
Sie errötete heftig. Sie entsann sich genau der stillen Bibliothek und des aufgeregten Mädchens, das das Buch vom »Beglückenden Wissen« aufgeschlagen und in den verschnörkelten Linien der alten Schrift das Geheimnis ihres Lebens zu enträtseln versucht hatte. Sie legte das Papier behutsam zurück. Es war kaum noch zu glauben, daß sie selbst das aufgeregte Mädchen war. Sie schloß den Schrank. Ein alter persischer Spruch fiel ihr ein. Sie ging in das Badezimmer, aber der Spruch ging mit. Sie stieg mit ihm in das weiche duftende Wasser, und er begleitete sie zum Ankleidezimmer, zum Toilettentisch und zum Frühstück. Traurig und gedankenverloren wiederholte sie:
»Nur die Schlangen streifen ihre Haut ab, damit die Seele erblüht und altert. Wir Menschen ähneln nicht den Schlangen. Wir streifen die Seele ab und behalten die Haut.«
Stunden vergingen wie Perlen an einem Rosenkranz. Um halb zwei Uhr kam Hassa. Er brachte Orchideen mit, die bunten kriechenden Schlangen glichen. »Für heute abend«, sagte er und überreichte die Orchideen Asiadeh.
Sie aßen zu Mittag. Hassa löffelte die Suppe und sprach von Rehrücken in Rahmsauce und von Italien, wohin er im Frühjahr mit Asiadeh reisen wollte.
»Es wird sehr schön sein«, sagte er und Asiadeh nickte.
»Ja, es wird sehr schön sein.«
Plötzlich legte Hassa den Löffel weg.
»Freust du dich auf deine Landsleute auf dem Ball?«
Asiadeh schlug die Augen auf. Hassas Gesicht war verdächtig harmlos.
»Natürlich, Hassa, sehr!«
»Ich weiß schon«, lachte Hassa, »du wirst den ganzen Abend türkisch sprechen, und ich werde kein Wort verstehen und einsam sein.« Hassa sprach, und seine Augen blickten fromm zur Decke empor. »Ich meine nur… so ein Fest ist immer so steif.
Wenn du mit deinen Türken zusammen sein willst, was soll dann ich tun? Kurz wird übrigens auch da sein. Hättest du was dagegen, wenn er, hmhm, ich meine, wenn er Marion mitbrächte? Natürlich nur, wenn es dir angenehm ist.«
Hassa sprach hastig und blickte immer noch zur Decke empor. Er wußte selbst nicht, daß er rot wurde.
»Aber natürlich, Hassa. Die arme Marion! Sie hat so wenig vom Leben. Sie soll mit Kurz kommen.«
Asiadeh blickte zum Fenster. In ihren Ohren erklang der Laut der Trompete, die zur Attacke blies.
Der Abend kam. Die große Burgfassade erglänzte im Licht der Scheinwerfer. Die Muskeln der steinernen Titanen an der Fassade badeten im grellen Licht. Festlich und stolz blickte die Burg auf den lichtübergossenen Platz. Sie war alt und abgeklärt. In ihren Sälen entschieden sich einst die Schicksale von Staaten, Völkern und Geschlechtern. Alte Schatten vergangener Tage fielen über ihre Stiegen. Einst sah sie Feste, würdige Empfänge und geheime Kabinettssitzungen, einst spiegelten sich in ihren Wandspiegeln die Umrisse von Prinzen und Höflingen. Die Gegenwart war ihr fremd, und gleichgültig blickte sie auf die lackierten Kästen, die zum mächtigen Portal hineinfuhren, auf die Menschen, die unten auf dem Platz standen und die Gesichter zu ihr emporhoben. Sie wunderte sich über nichts, sie dachte an nichts. Sie träumte. Und aus ihren Träumen stiegen verborgene Geheimnisse auf, Schicksale und Taten blitzten auf. Wogenartig rollten die Geschehnisse ab, wie in einem gleichnishaften magischen Reigen. Traumverloren und gelangweilt strahlte die Burg über den Platz. Gleichgültig blickte sie auf Marion, die, in Pelz gehüllt, neben Kurz dahinschritt, gleichgültig blickte sie auf Asiadeh, auf Hassa, auf die beiden Fremden im Frack, auf die flache und fremde Welt, die sich unter ihren Füßen ausbreitete und zu ihr emporstrebte.
Über die breite Freitreppe strömten die Gäste. Lakaien in alter Hoftracht standen auf den Stufen mit versteinerten und traurigen Gesichtern. Durch das marmorne Foyer schritten befrackte Lebemänner und Würdenträger mit vollem Ordensschmuck. Im großen Tanzsaal kreisten die Paare. Schrill und fremd klangen die Rhythmen der Musik. Die Klänge stiegen zur Decke empor, prallten an den Marmorwänden ab und füllten den Raum mit den neuesten Schlagern.
In der Ecke, an eine Marmorsäule gelehnt, stand ein ordenbehängter Greis, auf einen schwarzen Stock gestützt. Sein Gesicht war leidend und gefurcht. Die kleinen grauen Augen starrten in die Ferne. Vielleicht entsannen sie sich der Nächte, als dieser Saal im gelben Wachslicht der unzähligen Kerzen erstrahlte. Die Spiegel warfen damals das Kerzenlicht in den Saal und die Strahlen brachen sich an den Edelsteinen der Damen. Über das Parkett glitten Höflinge in goldgestickter Tracht, und durch den Saal schritten die Erzherzöge, geschmückt mit den Insignien des Goldenen Vlieses. Still und einsam starrten die grauen Augen in die Ferne. Vielleicht erinnerten sie sich auch an gar nichts. Sie waren alt und müde, abgeklärt wie die Fassade der Burg.
Lautlos glitten die Paare über das Parkett. Manchmal erklang das silberne Klirren der Sporen. Die bunten Uniformen bewegten sich im wogenden Rhythmus des Walzers.
Ein Mann mit weißem Schnurrbart stand am Eingang, und an seiner Brust blitzte der Maria-Theresien-Orden. Der Mann hatte lächelnde Augen, und seine Fußspitze schlug auf das Parkett im Takte des Walzers. Ehre und Ruf hatte dieser Mann einst in die Waagschale des Glücks geworfen. Am Isonzo oder in den Karpaten oder auf den blutbefleckten Feldern Flanderns. Jetzt stand er da, der Maria-Theresien-Orden blitzte auf seiner Brust, und seine Augen lachten.
Mit würdig rhythmischem Schritt gingen die Gäste durch die Räume der Burg. Im kleinen Saal spielte die englische Kapelle. In den Gängen standen kleine Tische, und die Hoflakaien servierten mit gelassen feierlichen Gesichtern.
Links am Ende des roten Saales saß Hassa. Asiadeh saß neben ihm, und ihre Augen waren klein und geschlitzt. Gierig atmete sie die Luft des alten Palastes ein. Schattenartig wölbte sich über dem Raum die jahrhundertelange Vergangenheit.
»Der römische Kaiser«, sagte sie leise und dachte an die Welt, die einst in zwei Teile zerfiel. Die Welt des Wiener Cäsars und die Welt des Istanbuler Kalifen.
»Wir sind zu früh gekommen«, sagte Hassa, »deine Türken sind noch nicht da und Kurz auch nicht. Vielleicht suchen sie uns und können uns nicht finden.«
Er blickte schüchtern in Asiadehs Augen, und seine Hand umklammerte das Sektglas.
»Man wird uns finden«, sagte Asiadeh ruhig. Sie hörte immer noch den Ruf der Trompete, die zur Attacke blies…
Sie hob den Kopf. In der Tür standen John Rolland und Sam Dooth. Sie winkte ihnen zu. Langsam schritten die beiden durch den roten Marmorsaal. Sie traten an den Tisch heran und verbeugten sich. John drückte Hassas Hand, seine Bewegungen hatten etwas Katzenartiges und Lauerndes. Die beiden nahmen Platz. Hassa füllte die Gläser. John saß regungslos im Stuhl und blickte auf Hassas Stirn. Seine Augen waren ausdruckslos und kalt.
»Meine Frau hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Hassa, »ich freue mich, Sie zu sehen. Ihr Beruf und Ihr Name zeigen, daß auch Sie die verstaubten Gewänder Asiens abgestreift haben, um in der Welt der westlichen Kultur aufzugehen. Meine Frau dagegen würde auch heute noch am liebsten auf dem Boden sitzen und vom Boden essen.«
Er lachte. John sah ihn lange an. Plötzlich nickte er:
»Ich weiß, was Sie meinen. Sie meinen, daß es ein Zeichen tiefer Unkultur ist, auf dem Boden zu sitzen und vom Boden zu essen. Aber der Boden — er ist die diesseitige Heimat des Menschen, von der er sich nicht trennen sollte. Der Mensch kommt von der Erde und braucht sie nicht zu verleugnen. Im Gegenteil: er soll den Klumpen, von dem er stammt, in sein geistiges Streben einbeziehen. Ein Mensch in Asien fühlt seine Erdgebundenheit und demütigt sich freudig vor dem Boden, der ihn geschaffen hat. Es ist wie ein ewiger, geheimnisvoller Strom, der von der Erde kommt und den Menschen befruchtet. Deshalb beten wir auch auf dem Boden sitzend und berühren mit dem Gesicht die Erde, zu der wir einst werden sollen.«
John schwieg. In der Ferne spielte die englische Kapelle. Sam blickte durch das Sektglas zu Asiadeh. Sie saß still da, und ihre Augen streiften von John zu Hassa. Die Attacke war in vollem Gange.
»Ja«, sagte Hassa, »ich kenne die Gebete unter den gewölbten Kuppeln der Moscheen. Aber der Mensch, der von der Erde stammt, strebt zum Himmel. Diesem Streben verdankt er, daß er aufgehört hat, Tier zu sein. In der Sprache der äußeren Formen heißt dieses Streben — der gotische Dom. Er ist edler als alle erdgebundenen Moscheen mit plumpen breiten Kuppeln.« John nickte. Seine Blicke waren auf Asiadeh gerichtet. Er sah ihre kurze, leicht abstehende Oberlippe und ihre Augen, die jetzt wie graue Asche waren.
»Die Moschee«, sagte er, »ist der in Stein geformte Geist Asiens. Unzählige fremde Augen sahen die Moscheen, aber kein Ungläubiger vermochte die Symbolik des Hauses zu erfassen. Niemand begriff die Idee der Kuppel, des kubischen Grundbaues, des vielkantigen Zwischenstückes und des Flammensymbols des Minaretts. Überall im Orient sind die Gotteshäuser in diese vier Teile gegliedert und überall stellen sie dasselbe dar: den jenseitigen Geistesmenschen, der seine irdische Erscheinungsform, durch Vermittlung der beiden sich gegenseitig durchdringenden Welten zur Grundlage des göttlichen Erlösungswillens macht. Sie haben recht — der Moschee fehlt das einmalig Lineale und die heftige Bewegung der Gotik. Ihr Schwergewicht ruht auf dem breiten klaren Boden, der in gleichem Maße vom Kunstwillen überformt ist wie das Gewölbe, das sich über dem Boden schließt und eint.«
Hassa schüttelte heftig den Kopf.
»Der Moschee fehlt jeder erschütternde Aufriß zur Höhe«, sagte er, »ebenso wie es eurer Malerei an jeder lebendigen Darstellung fehlt. Eine traurige Welt — eine Welt ohne Bilder.«
John nickte höflich und nippte am Sekt.
»Sie haben recht. Asien ist jenseitsbetont. Europa ist diesseitsbetont. Deshalb braucht Europa lebendige Darstellung, lebendigere Geschöpfe. Asien sucht den Ausdruck der letzten Dinge ohne Verwendung des Figuralen. Das direkte Formsymbol, das die platonische Idee der Dinge ohne Umweg über menschliche oder tierische Körperformen gestalten soll, verzichtet auf die Darstellung des Lebendigen und also Vergänglichen.«
Hassa sah John erstaunt an.
»Ich bin anderer Meinung«, sagte er, »deswegen wohne ich in Wien. Wäre ich Ihrer Meinung, so würde ich in Sarajewo wohnen. Das äußere Sein muß mit dem inneren Bewußtsein im Einklang stehen. Ich stehe im Bannkreise Europas und bin den östlichen Dingen abgewandt. Aber Sie — Sie sind Filmautor in New York und tragen die Seele Asiens in sich. Wie überbrücken Sie diesen Zwiespalt?«
Hassa sprach langsam und etwas spöttisch. Es war sehr einfach, für den Staub Asiens zu schwärmen, wenn man in Amerika wohnte.
Sam rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er wußte sehr wohl, auf welche Art John den Zwiespalt zwischen dem Sein und dem Bewußtsein überbrückte. Aber John lächelte und blickte harmlos zu Hassa hinüber. »Die Heimat!« sagte er. »Solange man sie hat, gibt es keinen Gegensatz zwischen äußerem Sein und innerem Bewußtsein. Früher dachte ich anders. Aber ich war ein Verirrter in der Welt der äußeren Formen. Die Heimat ist nicht das Badezimmer, in dem man zu baden gewohnt ist, auch nicht das Kaffeehaus, das man immer besucht. Die Heimat — das ist die seelische Struktur, die vom heimatlichen Boden einmalig geschaffen wurde. Die Heimat ist immer da, sie ist immer im Menschen. Der Mensch steht im Banne der Heimat, solange er lebt, und ganz gleich, wo er lebt. Ein Engländer fährt in den afrikanischen Busch, und das Zelt, in dem er schläft, ist England. Ein Türke fährt nach New York, und das Zimmer, das er bewohnt, ist seine Türkei. Die Heimat und die Seele verliert nur derjenige, der beides nie besessen hat.«
Hassa konnte den Hieb nicht parieren. Marion und Kurz traten an den Tisch.
»Da seid ihr! Und wir suchen euch seit einer Stunde.« Marions Stimme war, wie immer, weich und melodisch. Plötzlich brach sie ab. Sie erblickte John Rolland, und ihr schöngeschwungener Mund blieb offen. Angst zeigte sich in ihren Augen.
»Ahh«, sagte sie gedehnt und schüchtern, »ich glaube…« Sie sprach nicht weiter. Sie war überzeugt davon, daß John gleich aufspringen und ihr mit strenger Stimme befehlen werde, auf der Stelle einen Bauchtanz zu tanzen. Aber John sagte nichts. Er erhob sich und verbeugte sich steif. Er hatte die Szene am Semmering noch sehr klar im Gedächtnis. Kurz und Marion nahmen Platz. Mit entgeisterten Gesichtern blickten sie auf Rolland.
»Asiadehs Landsleute«, sagte Hassa, »Herr Rolland ist ein bekannter Filmautor.«
Dr. Kurz nickte fassungslos. Ja, so was kam vor. Typische Bewußtseinsspaltung. Gehört in die Anstalt. Einmal bildet er sich ein, Prinz zu sein, das andere Mal Filmautor. Casus gravissimus. Prognose ungünstig.
Kurz schielte verstohlen zu Hassa hinüber. Es gehörte die ganze Ignoranz eines Laryngologen dazu, nicht sofort zu begreifen, daß dieser Mann ein Irrer war. Typische Schädelformationen, dachte Kurz und machte geheimnisvolle Gesten in der Richtung Sams, den er für den Irrenwärter hielt. Aber der Irrenwärter schien ihn nicht zu verstehen.
Plötzlich erhob sich John. Marion zuckte entsetzt zusammen. Aber es geschah nichts. John verbeugte sich förmlich vor Asiadeh und forderte sie zum Tanz auf. Asiadeh folgte ihm. Sie war offensichtlich instinktlos genug, um mit dem entsprungenen Insassen einer Irrenanstalt zu tanzen.
Als die beiden in die bunte Menge der tanzenden Paare tauchten, räusperte sich Kurz und beugte sich zu Sam:
»Geht es dem Herrn schon besser?«
Sam blickte ihn ärgerlich an:
»Viel besser, und bald wird es ihm ganz ausgezeichnet gehen.«
Es klang orakelhaft. Marion blickte schutzsuchend auf die beiden Ärzte.
»Ein Tobsüchtiger«, flüsterte sie Hassa zu, »ich kenne ihn. Er hat mich einmal attackiert. Wie kannst du Asiadeh mit ihm tanzen lassen?«
Hassa blickte bestürzt auf:
»Ein Tobsüchtiger?!«
»Nein, nein«, Sam Dooth wurde sehr lebendig, »man darf ihn nur nicht reizen. Dann ist alles gut. Er ist etwas nervös.«
Hassa erhob sich.
»Ich komme gleich«, sagte er besorgt.
Er ging durch den Saal. Auf dem breiten Parkettboden kreiste leicht vorgebeugt, mit starrem und strengem Gesicht John Rolland. Seine Hand umfaßte fest Asiadehs Taille. Ihre Augen waren halb geschlossen.
»Ist mein Haus fertig, Hanum?«
»Fast fertig. Es fehlt nur noch ein Stein.«
»Wer wird es bewohnen?«
»Wir beide.«
»Und die Heimat?«
»Sie wird immer mit uns sein.«
Sie sah ihn an. Er lächelte zum erstenmal, seit sie ihn kannte.
Am Tisch im roten Saal ertönte ein hastiges Geflüster:
»Wie konnten Sie es wagen, mit einem Irrsinnigen zum Ball zu gehen?« zischte Kurz.
»Ich kann Ihnen nicht antworten«, zischte Sam zurück, »Sie verlangen für jedes Wort Honorar.«
Er blickte böse drein. John war ein Narr. Jetzt würden sie ihn einsperren, oder er mußte sagen, daß er eine fremde Frau entführen wolle. Sam leerte sein Sektglas und machte ein unnahbar überhebliches Gesicht.
Kurz und Marion flüsterten aufgeregt miteinander. Plötzlich verstummten sie. John Rolland stand beim Tisch.
»Herr Dr. Hassa tanzt mit seiner Frau. Darf ich Sie bitten?« Er verbeugte sich vor Marion. Marion erblaßte:
»Ich… danke, ich tanze nicht.«
John setzte sich hin und lachte, wie ihn Sam noch nie lachen gesehen hatte.
»Ihr haltet mich für einen Wahnsinnigen«, sagte er, »ich muß mich wirklich entschuldigen. Damals am Semmering habe ich mich seltsam benommen. Aber ich bin wirklich nicht wahnsinnig.«
»Typisch«, flüsterte Kurz Marion zu, »aber im Grunde harmlos.«
Marion nickte, und John bestellte Sekt. Hassa kam. Asiadeh hing an seinem Arm, und ihre Augen waren immer noch halb geschlossen. Vielleicht war es der letzte Tanz, den sie mit Hassa in diesem Leben getanzt hatte. Sie sah die Orchideen an ihrer Brust. Sie waren plötzlich schwer und drückend wie große Steine. Langsam nahm sie eine Orchidee von ihrem Kleide und übergab sie Marion.
»Für Sie«, sagte sie mit jäh aufsteigender Wärme.
Sie beugte sich vor und befestigte die Orchidee an Marions Brust. Marion dankte und flüsterte ihr zu:
»Asiadeh, nehmen Sie sich in acht vor diesem Türken. Er ist nicht ganz recht im Kopf. Ein Irrer. Er überfällt Frauen.«
Asiadeh blickte Marion an. Ihre Augen streiften zu Hassa hinüber, der sie einst im Auto geküßt hatte, und zu Kurz, der kein Irrer war und also auch keine Frauen überfallen durfte. Sie lachte:
»Ich weiß — er ist ein Irrer, aber nicht weil er Frauen überfällt. Ich glaube, er kann Frauen ganz gut verteidigen.«
Marion zuckte mit den Achseln. Kurz erhob sich. Er hatte am Tage genug mit Irren zu tun. Abends konnte er sie entbehren.
»Es ist spät geworden«, sagte er, »wollen wir gehen?«
Hassa nickte. Sie gingen durch die Säle, die Freitreppe hinab. Unten, in einer dunklen Seitengasse, parkten die Autos. Der kleine Wagen Hassas und Johns gemietete Limousine.
»Wir bringen dich heim, Kurz«, sagte Hassa, »und Marion natürlich auch.«
Er blieb stehen. John zog den Zylinder. Er verabschiedete sich höflich und steif. Er stand im Schnee und drückte Hassas Hand. Plötzlich rief Asiadeh in einer fremden, aber dem Prinzen allzu verständlichen Sprache:
»Kaiserliche Hoheit! Dieser Mann da — sie deutete auf Kurz — hat mich in sein Haus gelockt und wollte mir Gewalt antun, während mein Mann im Nebenzimmer war.« Der Zylinder fiel aus Johns Händen. Seine Augen blitzten wild und tierisch auf. Die Lippen zuckten. Er ballte die Faust und schlug mit einem jähen Hieb in Kurz’ Gesicht. Kurz taumelte. Der Schlag wiederholte sich. Johns Körper war gespannt. Das Gesicht rasend. Er schlug mit kurzen, heftigen Schlägen. Seine Haare fielen in die Stirn. Im kalten mondübergossenen Schnee glich er einem wilden Steppenwolf auf nächtlicher Jagd.
»Hilfe«, stöhnte Kurz. Hassa stürzte sich auf John. Sam fuchtelte mit den Händen. Vom Platze her eilten zwei Schutzleute herbei. John riß sich los. Mit einem wilden Sprung erreichte er den Wagen. Sam sprang hinterher. Der Wagen raste davon, noch bevor die Polizisten ankamen. Kurz lag im Schnee mit wut- und schmerzverzerrtem Gesicht:
»Ein Tobsüchtiger«, keuchte er, »ein Irrer. Ich hab’ es gleich gesagt. In die Zwangsjacke mit ihm.«
Asiadeh stand daneben. Ihre Füße versanken im Schnee. Sie schwieg. Sie lächelte still und versonnen. Der letzte Stein zu ihrem Hause war gelegt.