25

Über die hell erleuchtete Treppe strömten Harlekine, Zigeuner, Bajaderen und Ritter. Die bemalten Gesichter waren von einer maskenartigen Fröhlichkeit, und die gewölbten Frackhemden glichen Pinguinbrüsten. Aus dem Halbdunkel der Nischen kamen lärmendes Lachen und unterdrücktes Kichern. Ein Mann mit einem Dreimaster auf dem breiten Schädel stand in der Mitte des Saales mit gekreuzten Armen und siegreich erstarrtem Gesicht.

Frauen in weiten Hosen und bunten Röcken tanzten mit mittelalterlichen Alchimisten und russischen Bojaren. Eigenbrötlerische Einzelgänger mit angeklebten Nasen wanderten durch die Säle mit steifer Verachtung in den Augen. Auf langen Bänken saßen buntbekleidete Menschen und wischten den Schweiß von den erhitzten Stirnen. Ein Photograph stand an der Tür seiner hell erleuchteten Nische und fing mit seiner Linse die Harlekine, Ritter und Bojaren ein.

In buntem Wirrwarr ergoß sich die Menge durch das Haus. Der große Saal glich dem Schauplatz eines bacchantischen Spiels. Es war, als ob die Menschen, vom plötzlichen Trieb ergriffen, zusammen mit ihren alten Gewändern auch ihre Gebärden, Gewohnheiten und Gedanken abgestreift hätten. Unterdrückte Träume, schamhaft verborgene Vorstellungen offenbarten sich in der sorgsamen Wahl der Gewänder. Die Menschen gingen für eine Nacht in ihre Träume über, und diese leibhaft gewordenen Träume wanderten durch die Säle als Napoleon, Bojar oder Feuerwehrmann.

Ein geheimnisvolles magisches Spiel war im Gange. Wie vom Zauberstabe der Zauberin Circe berührt, verwandelten sich die Menschen in geisterhafte Phantasien, die zu verwirklichen ihnen der Lauf ihres Alltags verwehrt hatte. In dieser einen Nacht konnte, einer gnadenhaften Eingebung folgend, sich ein Anwalt in einen Zigeuner verwandeln und ein Apotheker in einen Raubritter. Die lässig abgestreifte Seele hing gemeinsam mit dem alltäglichen Mantel in der Garderobe, und der Saal war von erhitzten Menschen erfüllt, die für kurze Stunden Urlaub vom Schicksal genommen hatten und sich in wilder Gier in den Ozean des fleischgewordenen Traumes stürzten.

Asiadeh saß am engen Tisch zwischen einem schweigsam dahinbrütenden Harlekin und einem französischen Marquis mit gepuderter Perücke und langer schnuppernder Nase. Sie trug ein Zigeunerkleid, und goldene Münzen klapperten an ihrer Stirn.

Hassa war verschwunden. Nur hin und wieder erblickte sie in der Menge seine hohe spitze Alchimistenmütze. Einmal tauchte sein lächelndes Gesicht in ihrer Nähe auf Zwei Frauen hingen an seinen Armen, er blickte Asiadeh an, und sie hatte das bestimmte Gefühl, daß er sie gar nicht erkannte. Hinter ihm lief im Gewande eines chinesischen Mandarins der Chirurg Matthes und trug eine Sektflasche unter dem Arm. Er winkte Asiadeh zu und rief lallend, daß er Li Tai-pe heiße und sich amüsieren wolle.

Asiadeh lachte, und der Harlekin legte seine Hand um ihre Schulter. Sie schob ihn sanft weg und gelangte in die Umarmungen des Marquis, der ihr einen Sliwowitz anbot und an ihrem Rücken schnupperte. Sie klapperte ablehnend mit den Münzen und streckte ihm die Zunge heraus. Die Gebote der Sittsamkeit waren für diese Nacht ausdrücklich aufgehoben.

Sie stand auf und ging wiegenden Schrittes durch die Räume. Menschen, die aus sich selbst herausgeschlüpft waren, strahlten im Taumel ihrer erfüllten Wünsche. Sie sah einen hageren Mann im wallenden Gewand eines alten Paschas. Sie blinzelte ihm zu, und er ergriff ihre Hände und schleppte sie zum Tanz. Sie tanzte mit ihm und rückte seinen verrutschten Turban zurecht: »So trägt man das«, erklärte sie streng, und der Pascha sagte, daß er sie in seinen Harem aufnehmen wolle und zum Sekt einlade.

»Ich bin bereits in einem Harem«, lachte Asiadeh und knabberte an etwas Süßem.

»Ich werde Sie Ihrem Besitzer abkaufen. Wir Paschas sind gewohnt, Frauen zu kaufen.«

»Ich bin ausverkauft«, sagte Asiadeh und ließ den Pascha stehen. Sie ging zum Schanktisch und bestellte einen Mokka. Die bunten Farben des Saales verwirrten sie. Sie sprach mit fremden Menschen, und ein lyrisch aussehender Jüngling streichelte ihre Hand. Männer standen um sie herum mit werbenden, befehlenden und bittenden Augen. Sie sah in den festlich erleuchteten Raum, und wie im plötzlichen Wachtraum schien sie den verborgenen magischen Sinn der Geschehnisse zu erfassen. Traum und Wirklichkeit gingen hier geheimnisvoll ineinander über. Die Grenzen des äußeren Lebens waren plötzlich verschoben, wie in einem heidnischen Mysterium. Die innere Wahrheit der nie zu bändigenden Natur grinste sie siegreich an im jubelnden Triumph über die armseligen Jahrtausende, die ihrer Bändigung gewidmet waren. Aus den Schlupfwinkeln des Alltags erhob sich die gebändigte Seele und überrannte in jähem Ansturm alle Barrieren und Schranken der äußeren Welt…

Ein Pierrot mit weißgepudertem Gesicht ergriff Asiadeh. Er führte sie in eine Nische und hatte die bittenden und erschrockenen Augen eines Menschen, der aus einem bösen Traum erwacht ist und die Wirklichkeit noch nicht erfaßt hat: »Ich habe eine Frau, die ich nicht mehr liebe«, sagte er und nahm Asiadeh an der Hand. Dann lachte er, und Asiadeh streichelte sein gepudertes Gesicht und erzählte ihm von Hassa, von ihrem Vater und von der Wohnung am Ring.

Plötzlich war der Pierrot verschwunden, vielleicht war er auch nie dagewesen, und Asiadeh sah Hassa in Alchimistentracht, breit grinsend und von Frauen umgeben. Er trat auf sie zu, umarmte sie und führte sie zum Tanz.

»Bist du böse? Langweilst du dich?«

Er sprach wie aus dem Traum.

»Nein, es ist sehr schön hier. Es soll immer so sein.«

Sie tanzten, und der französische Marquis schnupperte an ihnen vorbei. Später saß Hassa auf einer Bank und las einer schlanken Frau aus der Hand.

Asiadeh ging die Treppe hinunter. Eine Schar junger Frauen umgab den Polizisten an der Eingangstür. Der Polizist hatte ein würdiges Amtsgesicht. Seine blauen Augen betrachteten das heidnische Mysterium mit der ruhigen Gelassenheit eines Machtvollkommenen. Asiadeh berührte den Arm des Polizisten. Der Polizist war ganz echt und gar nicht verkleidet. Er glich einem Spalt in der Welt, die jenseits des Hauses begann und Wirklichkeit hieß. Eine Bewegung seiner Hand, eine kurze Geste, und der nächtliche Spuk der befreiten Seele verwandelte sich in die gebändigte Ruhe des Alltags…

Asiadeh erschauderte bei diesem Gedanken. Sie ging weiter. Im Halbdunkel des unteren Geschosses schmiegten sich dürftig bekleidete Frauen an befrackte Männer, und die Luft war heiß, drückend, von Parfüm und Weingeruch erfüllt. Asiadeh nahm am Rande einer leeren Bank Platz. Sie war plötzlich sehr müde. Männer lächelten sie im Vorbeigehen an, aber sie erwiderte das Lächeln nicht. Sie saß da im bunten Zigeunergewand, und die goldenen Münzen lagen kranzartig um ihre Stirn.

Am anderen Ende der leeren Bank saß eine Bajadere. Der Rücken der Bajadere war Asiadeh zugewandt. Der Rücken war braun, jung und schlank. Asiadeh sah schmale Arme, seidene Pumphosen und goldgestickte Pantoffeln. Ein seidener Turban lief um den Kopf der Frau. Sie saß allein, schweigsam und grüblerisch, sichtlich ermüdet vom Trubel des Festes.

Plötzlich wandte sie sich um. Asiadeh sah eine längliche Perle, die vom Turban auf die Stirn der Frau herabhing, sie sah vornehm geschwungene Augenbrauen, zwei hochmütige braune Augen und eine schmale Nase mit zitternden Nüstern.

»Guten Abend, Marion«, sagte Asiadeh. Ihre Müdigkeit war plötzlich verschwunden. Sie rückte an die Bajadere heran.

»Guten Abend, Asiadeh.« Marion musterte sie neugierig. Ihre Augen weiteten sich. Sie hatte ein schönes Gesicht und schmale lange Hände.

»Sie sehen aus wie eine richtige Türkin. Der Turban steht Ihnen sehr gut.« Asiadeh blickte sie mit Bewunderung und Anerkennung an.

Marion lachte: »Eigentlich müßten Sie einen Turban und türkische Hosen tragen.«

»Das wäre zu echt, Marion. Ich bin doch eine Wilde und müßte einen Schleier tragen.«

»Eine Wilde? Wann hat zuletzt eine Frau aus Ihrer Familie einen Schleier getragen?«

»Wann zuletzt? Ich selbst habe noch einen Schleier getragen. Noch vor sechs Jahren. Nein, ich bin schon eine echte Wilde.«

Asiadeh nahm Marions Hand. Die Hand duftete. Marion hob verwundert die Augenbrauen. Sie lachte:

»Warum laufen Sie nicht weg, Asiadeh, wie damals am Semmering?«

Ihre Stimme klang traurig:

»Ich war eine dumme Gans, Marion. Deswegen bin ich damals davongelaufen. Seien Sie mir nicht böse.«

Asiadehs Augen waren ganz ernst. Sie betrachtete Marion mit tastender Neugierde. Marion schüttelte den Kopf:

»Macht Ihnen Alex keine Sorgen? Ist er brav?« Sie konnte sich Asiadehs plötzliche Zuneigung nicht erklären.

»Unserem Mann geht es gut, Marion. Er ist jetzt ein Alchimist und liest einem blonden Mädchen aus der Hand. Neben ihm sitzt Matthes und ist in Wirklichkeit Li Tai-pe. Auch Kurz dürfte oben sein und viele andere Ärzte verschiedener Fächer. Nein, Hassa ist ein braver Mann und macht mir keine Sorgen.«

Sie schwieg. Peter der Große ging durch den Saal und hielt seine Hand um die Schulter der Königin Nofretete. Ein Jüngling mit angeklebter Nase saß in der Ecke und unterhielt sich mit einem verwegen aussehenden, aber bebrillten Indianer. Sie sprachen ernst, wenn auch ziemlich zusammenhanglos, über ästhetische Probleme.

Marion war in Gedanken versunken. Ihr Gesicht schien immer noch etwas hochmütig.

»Trinken wir einen Mokka, Asiadeh«, schlug sie plötzlich vor, »ich weiß aus Erfahrung, daß unser Mann bis zum Morgengrauen auf dem Gschnas bleibt.«

Asiadeh nickte. Sie erhoben sich und gingen zur Mokkastube.

Sie saßen in der Mokkastube. Eine Bajadere und eine Zigeunerin. Graue Augen blickten in braune Augen, und im Saal wurde es langsam ruhiger. Der Rausch des nächtlichen Festes verrann. Beide Frauen wurden plötzlich verlegen.

»Wie geht es Ihnen, Marion?«

»Mir? Ach, gut. Danke. Ich war Skilaufen in Tirol. Jetzt bin ich wieder in der Stadt.«

»Es ist so seltsam, Marion. Ich spreche Sie jetzt zum erstenmal, und dabei weiß ich schon so viel über Sie.«

Marion errötete kaum merklich:

»Ja, Alex muß immer jemandem sein Herz ausschütten. Erzählt er immer noch von seinen Patienten, und schwärmt er immer noch für den mütterlichen Apfelstrudel?«

»Ja, immer noch. Und das Wartezimmer ist immer noch voll von Kranken, und auf den Tischen liegen immer noch dieselben Zeitschriften. Nach der Ordination geht er immer in dasselbe Kaffeehaus.«

»Und nachher fährt er auf den Kobenzl oder in den Prater. Nicht wahr? Ich fühle mich direkt verjüngt, wenn ich Sie so sprechen höre.« Sie verstummte. Die Musikkapelle spielte ein Zigeunerlied. In den Ecken des Saales saßen Liebespärchen. Niemand tanzte mehr. Am Nebentisch sprachen zwei Männer über die Börsenlage. Die Wirklichkeit begann durch geheimnisvolle Schlupfwinkel in den Saal zurückzukehren.

»Es kommt selten vor«, sagte Marion, »daß zwei Frauen eines Mannes friedlich an einem Tisch sitzen.«

»O warum? Mein Großvater hatte vier Frauen gleichzeitig und alle vier verstanden einander glänzend. Sogar viel besser als mit ihrem Mann.«

Marion öffnete die Tasche. Sie nahm einen kleinen Spiegel und fuhr mit einer Puderquaste sanft über ihr Gesicht.

»Ich freue mich, daß es Alex wieder gut geht. Er hat sich die Sache damals viel zu sehr zu Herzen genommen. Mein Gott, so was kommt doch vor, daß sich zwei Menschen trennen. Es ging nicht anders, ich mußte fort. Eigentlich hat Alex Glück im Leben. Ihr versteht euch doch glänzend?«

Marions Stimme klang kühl. Asiadeh versteckte die Nase und Augen in der Mokkatasse. Dann lächelte sie verschmitzt:

»O ja, wir verstehen uns herrlich. Hassa hat viel Geduld mit mir. Ich bin doch eine Wilde und ganz anders als er. Aber er ist immer so aufmerksam. Er erfüllt alle meine Wünsche. Ich glaube nicht einmal, daß er es nur meinetwegen tut. Er ist einfach ein idealer Ehemann. Viel beschäftigt, zart und zuvorkommend. Er wäre zu jeder Frau gleich nett. Er eignet sich einfach gut für die Ehe. Es ist nicht schwer, mit Hassa glücklich zu sein. Und so sind wir eben sehr glücklich.«

Marion lachte. Sie dachte an die Wohnung, an das Bett, an Hassa im weißen Kittel und an die Zeitschriften im Wartezimmer.

»Sitzen Sie auch immer im Salon, am Erkerfenster, und Hassa schreit in der Ordination: ›Sagen Sie zweiundzwanzig!!‹?«

Asiadeh nickte begeistert.

»Ja, und der Kranke antwortet: ›Vierzehn‹ oder ›Wie bitte?‹ und dann klappern die Instrumente. Am Anfang wollte ich Hassa in der Ordination behilflich sein, aber er erlaubte es nicht.«

»Mir hat er es erlaubt.« In Marions Stimme klang ein leiser Triumph. »Ich durfte ihm die Instrumente reichen, die Rechnungen ausschreiben und den Kindern Schokolade geben. Es hat mich zuerst sehr gefreut. Aber es ist nicht gut, wenn Mann und Frau immer zusammen sind. Da ich alle seine Patienten kannte, sprach er auch in der freien Zeit nur noch über Kranke mit mir. Und das ging auf die Dauer nicht.«

Marions starres Gesicht wurde weich. Ihre Hände zerknüllten ein Taschentuch. Es war seltsam, daran zu denken, daß es eine Zeit gab, als sie Hassa die Instrumente reichte und auf schöne Patientinnen eifersüchtig war. Die Zeit lag sehr fern. Zwischen damals und jetzt gab es Fritz, dem alle Frauen nachliefen. Es gab auch andere, aber es war besser, daran nicht zu denken.

Asiadeh seufzte.

»Manchmal beneide ich Sie, Marion. Sie kennen Hassa so viel besser als ich. Ich kenne mich in den europäischen Männern nur wenig aus. Außer Hassa kannte ich in Berlin höchstens ein paar Studienkollegen, und die hatten Glatzen und entzifferten Hieroglyphen. Wir müssen öfters zusammenkommen und über unseren Mann sprechen.«

Dummer Fratz — dachte Marion — oder es ist in der Ehe etwas nicht in Ordnung. Diese plötzliche Gunst!

Sie sah neugierig zu Asiadeh hinüber. Die grauen, seltsam geschnittenen Augen blickten mit naiver Unbekümmertheit drein. Die weichen Lippen waren gefaltet. Die Arme lagen unbeholfen auf dem Tisch. Ein kleines dummes Mädchen saß vor Marion, ein Balg, das wahrscheinlich eifersüchtig darüber war, daß ihr Mann oben mit anderen Frauen tanzte. Sie lachte huldvoll.

»Gut, Asiadeh. Ich komme mit Ihnen gerne zusammen. Ich kenne Alex ganz gut, oder ich bilde es mir wenigstens ein.«

Der große Saal war jetzt fast leer. Nur der Napoleon saß noch einsam und siegessicher in der Mitte. Bunte Luftschlangen bedeckten den Boden. Die Lampions warfen ein unwirklich flackerndes Licht in den Saal. Kellner standen in den Ecken, und ihre offiziellen Gesichter legten sich langsam wieder in private Falten.

Draußen, auf der Treppe, die zum zweiten Stockwerk führte, ertönte lautes Gelächter. Einige gutgelaunte Herren betraten die Mokkastube. Voran, im seidenen Gewand eines chinesischen Mandarins, mit kunstvoll geschlitzten Augen der Chirurg Matthes. Dicht neben ihm Hassa. Seine Alchimistenkappe war leicht verrutscht.

»Da bist du, Asiadeh«, rief er heiter, »und wir suchen dich überall.« Er trat an den Tisch.

»Und während du mich gesucht hast«, lachte Asiadeh, »haben sich deine beiden Frauen zusammengefunden und tranken Mokka.«

Hassas Gesicht erstarrte. Jetzt erst erkannte er Marion.

»Guten Abend, Alex«, Marions Stimme klang heiter, »nimm Platz, oder soll ich lieber gehen?«

Sie lächelte, und ihre Nasenflügel zitterten.

»Aber ich bitte dich, Marion. Ich freue mich sehr. Wir… wir können ja ein Glas Wein trinken. Du bist also auch hier…?«

Grenzenlose Verlegenheit klang in seiner Stimme.

»Der Pascha inmitten seines Harems«, rief Matthes, »das muß gefeiert werden. Ober, Wein!«

Er schob lärmend den Stuhl zur Seite. Dr. Sachs schenkte den Wein ein, und der Gynäkologe Halm hob das Glas. »In vino veritas«, rief er, »auf freudiges Wiedersehen.«

Die Gläser klirrten. Niemand bemerkte, daß auch Asiadeh in raschem Zug ihr Glas leerte. Ihr Herz klopfte heftig. Der große Gelehrte Scheich Ismael aus Ardebil behauptete mit Recht, daß es Augenblicke gebe, in denen Wein erlaubt sei. Marion lächelte traumverloren.

»Wenn man bedenkt«, sagte Dr. Sachs und machte ein grüblerisches Gesicht, »wenn man bedenkt, daß ich Zeuge in eurem Scheidungsprozeß war! Und jetzt sitzen wir alle friedlich am Tisch. So ist das Leben.«

Er schüttelte den Kopf und füllte sein Glas.

Hassa nahm neben Asiadeh Platz. Er umarmte sie siegreich und ein wenig hilfesuchend. Seine schrägen Augen starrten auf Marion, und seine Hand vergrub sich in Asiadehs Haar. Der Gynäkologe Halm lachte. Er selbst war schon zweimal geschieden.

»Meine erste Frau — sie ist schon längst wieder verheiratet — wählt mir auch heute noch meine Krawatten aus. Am Tage der Scheidung bedrohte sie mich aber mit einem Bajonett.«

Marion hob den Kopf und blickte lächelnd zu Hassa hinüber.

»Alex«, sagte sie, »und was ist aus der Schreckpistole geworden, mit der du mich erschießen wolltest?«

Marions Frage klang wie ein Siegesjubel. Seit Jahren hoffte sie, ihm einmal diese Frage vorlegen zu können. Hassa errötete. Es gab wirklich eine Zeit, in der er Marion mit der Pistole bedroht hatte. Alle an dem Tisch wußten es, bis auf Asiadeh. Aber es war unangenehm, daran erinnert zu werden.

»Ich habe die Pistole dann weit unter ihrem Preis verkauft. Ich habe an dem Geschäft fünf Schilling verloren.« Er blinzelte verlegen, und Marion lachte.

»Ich werde dir die fünf Schilling gelegentlich ersetzen, Alex.«

Im Saal wurde es still. Die Musikkapelle packte die Instrumente zusammen. Peter der Große torkelte gähnend zum Ausgang. Ein bebrillter Mann ging vorbei und lächelte Marion zu, aber Marion wandte sich ab.

»Wie gefällt dir meine wilde Frau?« fragte Hassa. Seine Hand war immer noch in Asiadehs Haar vergraben.

»Du hast Glück, Alex. Du hast eine entzückende Frau, und sie hat mir eben gebeichtet, wie glücklich ihr miteinander seid. Ich bin wirklich froh deinetwegen.«

Sie reichte ihm die Hand, und ihre Augen wurden wieder sehr demütig. Hassa drückte ihre Hand.

»Gehen wir«, rief Dr. Sachs, »die Szene wird zu rührend.«

Alle erhoben sich. Asiadeh lief durch den Saal, und die goldenen Münzen klapperten an ihrer Stirn. Sie ergriff den dicken Dr. Halm und wirbelte mit ihm durch den Saal, bis ihm schwindlig wurde. Dann lief sie zur Garderobe. Von der Straße her kam grauer Morgennebel. Die Menschen schlüpften in ihre abgelegten Seelen zurück. Die gestörte Weltordnung gewann ihre natürlichen Formen zurück.

»Wir sehen uns einmal, Marion«, sagte Asiadeh, und Marion nickte. Hassa hantierte am Wagen. Feuchter Nebel kroch durch die Straße. Die dünnen Luftschlangen am Mantelarm glichen einer schamvollen Erinnerung an einen unwirklichen Traum. Die Menschen tauchten in ihre Wirklichkeit ein, und der Nebel verhüllte sie, gnadenvoll und schützend.

»Eine tolle Nacht«, sagte Hassa und ließ den Motor an.

»Eine sehr nette Nacht«, meinte Asiadeh, »eine herrliche Nacht. Gschnas ist etwas sehr Schönes. Ich habe mich sehr gut unterhalten. Wirklich, Hassa.«

Sie legte den Kopf auf seine Schulter und schlief sofort ein.

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