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»…Und so gibt mir das Bewußtsein, daß Sie, verehrte Hanum, nicht in meiner Nähe sind und also weder mit schweren Gegenständen nach mir werfen noch Geldnoten zerreißen, noch mich bespucken können, den Mut, Ihnen zu schreiben. Seit vier Monaten treiben wir uns mit Rolland in den Wüsten und Oasen herum und führen ein bedauernswertes Dasein unzivilisierter und obdachloser Nomaden. Denn John hat seine Arbeit rasch beendet, und der Producer beschloß, die Außenaufnahmen an Ort und Stelle zu machen. So pilgern wir also von Ort zu Ort in Gesellschaft von Schauspielern und Regisseuren wie eine wandernde Truppe. Dieses Leben bedrückt mich um so mehr, als meine Ahnen, im Gegensatz zu den Ihrigen, keine vagabundierenden Krieger, sondern ehrbare griechische Patrizier und angesehene ruhige Menschen waren. Ich habe zehn Kilo abgenommen und kann mich an Dattelschnäpse nicht gewöhnen, doch wird das Sie, verehrteste Hanum, vermutlich wenig interessieren.

Wir sind jetzt am Lande der menschlichen Zivilisation, und die Außenaufnahmen sind in vollem Gange. Die Doubles stürzen geschickt von den Kamelen, und die Hauptdarstellerin wurde schon achtmal von den Wilden entführt, aber leider stets überbelichtet.

Das Leben eines Menschen, Hanum, ist immer in Gottes Hand, aber hierorts ist diese Hand Gottes allzu deutlich zu spüren. Gestern fand ich einen Skorpion in meinem Bett, was meine Gedanken auf Jenseitiges brachte. Wenn es so weiter geht, werde ich mich aus dem aktiven Leben zurückziehen und auf dem heiligen Berge Athos als weltabgeschiedener Eremit und Asket mein Dasein in frommen Grübeleien beschließen. Die Sorge um das weitere Schicksal unseres Freundes John Rolland werde ich dann Ihnen — o Verehrenswerteste — überlassen.

›We emr bil urf‹, ›Handelt nach euren Sitten‹, sagt das heilige Buch Ihrer Religion. Doch sind die Sitten Johns kaum noch als Sitten zu bezeichnen, und ich würde ihn seinem Schicksal überlassen, wenn ich ihn nicht wie einen Sohn lieb hätte. Denn im bigotten Eifer besucht John jede Moschee dieses Landes und liegt ungebührlich lange im Staube vor Allahs Antlitz, was bei den ehrbaren Mitgliedern unserer Expedition begreiflichen Anstoß hervorruft.

Gestern jedoch ereignete sich ein Vorfall, der mich ernstlich an seinem Verstand zweifeln läßt, und mir wäre lieber, er wäre betrunken, obwohl ich keineswegs für den übermäßigen Alkoholgenuß bin. Gestern also, nachdem er den Dialog zwischen der entführten Lady und dem wilden Räuber fertiggestellt hatte, gingen wir mit vielen anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft durch die Oase spazieren, in der hoffnungslosen Suche nach brauchbarer Komparserie. Denn Sie müssen wissen, o Hanum, daß die Menschen in diesem Lande sehr dumm sind und keine Ahnung haben, wie sich ein Komparse bewegen muß, wenn er einen Araber darstellt. Da trafen wir einen zerlumpten Eingeborenen, der mit einem schmutzigen grünen Tuch umgürtet war. John sprach den bedauernswerten Farbigen an, wie wir annahmen, wegen Komparsenarbeit. Soweit ich aus den Brocken des Gespräches feststellen konnte, behauptete der Vagabund, aus dem Geschlechte des Propheten zu stammen und von einer Pilgerfahrt zur heiligen Stadt Mekka zurückzukehren. Darauf — Schamröte steigt mir ins Gesicht, Hanum — darauf umarmte John den ungewaschenen Wilden, setzte sich mit ihm im Schatten einer Palme nieder und begann ein Gespräch über die Wunder der heiligen Stadt Mekka. Dieses alles vor Augen der Mitglieder unserer Expedition. Bedenkt, Hanum! Ein Bürger der Vereinigten Staaten umarmt einen armseligen Eingeborenen. Wir alle kehrten sofort um, denn die Szene war schrecklich anzusehen. Der Hilfsregisseur Moony behauptete sofort, daß John wahnsinnig geworden sei. Die anderen Herren beschlossen aber, John nicht mehr die Hand zu reichen, denn er sei offensichtlich kein Gentleman mehr. Nur mit Mühe gelang es mir, die Herren zu überzeugen, daß John gänzlich betrunken war und also für seine Taten nicht verantwortlich sei. So konnte ich gerade noch seinen Ruf retten. Aber ganz unter uns, Hanum, er war keineswegs betrunken, sondern sehr nüchtern.

Da Sie, verehrte Hanum, durch Ihre Ehe und Neigung Europäerin geworden sind, wende ich mich an Sie mit einer großen Bitte: Richtet einen Mahnruf an John, damit er sich nicht mehr andauernd im Staube vor Allah herumwälzt und die würdelosen Umarmungen der einheimischen Heiligen unterläßt. Denn ich vermute, daß Sie einen bestimmten Einfluß auf meinen Freund und Sozius haben. Er behauptete nämlich nach dem achten Dattelschnaps, daß er der Vater Ihrer Kinder sein wird, und nach dem zwölften Schnaps spricht er von einem Haus, das Sie für ihn bauen und von dem ich nicht weiß, was es bedeuten soll.

Übrigens muß ich hinzufügen, daß John sich höchst überflüssigerweise an das Kamelreiten gewöhnt hat und manchmal sogar einheimische Gewänder trägt, was für ein Mitglied des New Yorker Filmautoren-Klubs höchst schandhaft ist. Auch da sollten Sie ihm als Beispiel entgegentreten, denn als ich Sie zuletzt sah, haben Sie — wie ich jetzt einsehe, mit vollem Recht — vorgezogen, bei Ihrem ehrenwerten europäischen Mann zu bleiben (grüßen Sie ihn, Hanum, und Gott schicke ihm viele Patienten), anstatt dem nur ganz oberflächlich durch die europäische Kultur berührten Asiaten zu folgen, als der John sich jetzt erwiesen hat.

Unsere Arbeiten hier, Hanum, sind bald beendet und wisset, daß mein armer Freund sich in den Kopf gesetzt hat, vor der Rückreise nach Amerika den Rest der Wintersaison in Wien zu verbringen. Doch werde ich natürlich alles daransetzen, um Sie vor seinen asiatischen Belästigungen zu schützen, so Sie meine Bitte erfüllen und ein energisches Mahnwort an ihn richten. Denn offen gesagt, ist das Trinken, um das ich ihn manchmal tadele, harmloser und in den Augen eines jeden Bürgers der Vereinigten Staaten ehrenwerter als der würdelose Umgang mit Koranlesern, einheimischen Sängern oder zerlumpten Nachkommen des Propheten.

Ich schließe meinen Brief, Asiadeh-Hanum, und bin überzeugt, daß wir uns verstehen werden, denn wir sind beide Menschen westlicher Kultur — Sie eine Österreicherin, ich ein Bürger der Vereinigten Staaten. Ich grüße Sie in Eile, denn ich höre, wie John im Nebenzimmer mit einem hiesigen Schriftgelehrten eine Pilgerfahrt zum Grabe des heiligen Sidi Abdessalam erwägt. Ich muß gleich energisch eingreifen, obwohl wir hier 40 Grad im Schatten haben.

Ihr Sam Dooth.«

Asiadeh faltete den Brief zusammen. Genießerisch schnupperte sie an dem knisternden Papier. Sie glaubte, den Brandgeruch der durchglühten Erde zu spüren. Die bunte Briefmarke der libyschen Post stellte die Wüste dar, die Sonne und ein bedächtig dahinschreitendes Kamel.

Vierzig Grad im Schatten, dachte sie verwundert und blickte aus dem Fenster. Draußen schneite es. Weiße Flocken fielen auf den Asphalt. Die Äste der Bäume grüßten die Häuser, unter der Last des Schnees geneigt.

Es war ganz unvorstellbar, daß es einen Ort gab, in dem die Sonne wie eine gelbe Fackel vom Himmel herabhing und Sandsturm wirbelartig über die Wüste fegte.

Asiadeh streichelte den Brief. Nein, sie würde kein Mahnwort an John Rolland richten, weder brieflich noch auch, wenn er nach Wien käme. Mochte er sich hundertmal vor dem Antlitz des Herrn in den Staub werfen und mit zweifelhaften Prophetenerben weise Gespräche führen.

Vier Monate waren vergangen, seit John Rolland vor ihr gesessen hatte mit stolzem Gesicht und schlaff herabhängenden Armen. In diesen vier Monaten waren die Blätter von den Ästen der Wiener Bäume verschwunden, herbstliches Laub raschelte unter den Füßen und erinnerte an Wüstenstaub, weiße Flocken fielen vom Himmel, und die Erde wurde weiß.

In diesen vier Monaten besuchte Achmed-Pascha Anbari für eine Woche seine Tochter in Wien und sah sie mißbilligend an, denn sie hatte den Prinzen verstoßen und war immer noch nicht schwanger. In diesen vier Monaten packte Hassa einmal die Koffer und fuhr mit Asiadeh nach Tirol. In der Hand hielt er lange dunkle Holzbretter und Stöcke, von deren Verwendung Asiadeh nur eine sehr dunkle Vorstellung hatte. In Tirol wickelte sich Asiadeh in Pelze, und ihre Zähne klapperten beim Anblick der Schneefelder. Sie saß im Hotelzimmer am glühenden Ofen und blickte ängstlich aus dem Fenster. Draußen auf dem weißen Feld stellte Hassa seine Bretter auf den Schnee, bestieg sie, nahm zwei Stöcke in die Hände und raste in sinnloser Geschwindigkeit und Todesverachtung über Täler und Berge. Er trug einen Schal und eine runde weiche Mütze und war ungemein schön und männlich in der festen Zielsicherheit seiner Bewegungen.

Asiadeh sah ihn an und war stolz, daß er, solange sie wollte, ihr Mann sein würde. Aber sie saß dennoch am glühenden Ofen, klapperte mit den Zähnen und dachte an das Haus, das sie für den Prinzen errichten mußte und von dem noch immer kein Stein fertig war. Denn Hassa war ein guter und ein schöner Mann, aber er war bestimmt kein Haus.

Rasch und eintönig waren die vier Monate vergangen, und nur eine einzige Woche lang herrschte im Hause Hassas eine dumpfe Krisenstimmung. Asiadeh entsann sich genau: es war Mitte Dezember. Hassa kam aus dem Krankenhaus mit lächelnden Augen und erfrorener Nase:

»Bald ist Weihnachten«, sagte er, und sein Gesicht strahlte wie bei einem kleinen Kinde, »ich werde dieser Tage einen Weihnachtsbaum besorgen und den Schmuck dazu.«

»Nein«, sagte Asiadeh, »ich will das nicht.« Hassa bekam ganz verblüffte Augen.

»Weihnachten«, sagte er, »weißt du, was das ist? Ein Tannenbaum mit bunten Kerzen und mit Schmuck, und unter dem Tannenbaum liegen die Geschenke. Als ich noch klein war, kam auch immer ein Weihnachtsmann mit langem weißem Bart, und ich dachte, daß er echt sei. Weißt du denn nicht, was Weihnachten ist?«

»Ich weiß sehr genau, was Weihnachten ist. Es ist das größte Fest der Christen, aber du weißt nicht, daß deine Frau eine Muslimin ist, und du doch eigentlich auch. Wir können kein Weihnachten feiern.«

»Aber, mein Kind«, Hassa war ganz verdattert, »Weihnachten ist doch Weihnachten. Kannst du es denn nicht verstehen? Das wurde immer gefeiert, solange ich lebe.«

»Gut«, sagte Asiadeh, »kaufe dir einen Weihnachtsbaum. Ich fahre dann auf eine Woche zu meinem Vater nach Berlin. In Berlin gibt es eine Moschee, und ich habe schon lange keine besucht.«

Hassa wurde sehr böse. Er ging im Zimmer auf und ab. Er erzählte von seiner Kindheit. Er beschimpfte die wilde Welt Asiens und sagte sogar, daß Marion, obzwar sie eine sehr schlimme Frau war, doch nie etwas gegen Weihnachten gehabt habe.

»Sie war auch keine Muslimin«, meinte Asiadeh, »warum sollte sie etwas gegen Weihnachten haben?«

Aber Hassa hörte nicht zu und sprach so lange vom Tannenbaum, bis die ersten Patienten kamen und er in die Ordination mußte. Nach der Ordination ging er wütend ins Kaffeehaus und klagte Dr. Matuschek sein Leid:

»Verstehst du das«, sagte er fassungslos, »sie will keinen Weihnachtsbaum haben. Dabei würde sie unter dem Baum einen herrlichen Pelzmantel vorfinden. Kannst du das verstehen?«

»Eine Wilde«, lachte Matuschek.

Am nächsten Tag wußte das ganze Kaffeehaus, daß Hassas Frau ihrem Mann verboten habe, einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Kurz trat daraufhin mit ausgestreckten Händen an Hassas Tisch und fragte teilnahmsvoll: »Ja, was wirst du denn am Heiligen Abend machen, du Armer?« Und der Ober erzählte dienstbeflissen, daß irgendwo in der inneren Stadt für arme Teufel, die keine Bleibe haben, auch am Heiligen Abend ein kleines Kaffeehaus offenstehe.

Hassa war außer sich. Aber Asiadeh blieb hart. Hassa ging am Heiligen Abend zu Dr. Sachs, und Asiadeh verbrachte den Abend allein auf dem Diwan, in warme Schals eingehüllt.

Eine Woche lang ging Hassa schmollend in der Wohnung herum. Zu Silvester verzieh er aber seiner Frau feierlich und schenkte ihr zum Zeichen der Versöhnung den Pelzmantel.

»Aber wenn wir Kinder haben«, sagte er streng, »müssen wir Weihnachten feiern. Die Kinder können doch nicht wie Wilde heranwachsen.«

»Natürlich«, sagte Asiadeh, denn sie war eine friedliebende Frau, »natürlich, wenn wir Kinder haben…«

Dann kam der Fasching. Der Wirbel der großen Bälle erfaßte Hassa. Er beschaffte sich einen Ballkalender und brütete mit gerunzelter Stirn:

»Der Opern-Ball«, flüsterte er, »der Ball der Stadt Wien«, »das Sankt Gilgener Fest.«

Vor Asiadehs erstaunten Augen entfaltete sich die ganze Pracht der alten Stadt. Sie sah den großen Saal der Oper ohne die gewohnten Stuhlreihen des Parketts und mit Logen, aus denen die Edelsteine auf den Händen der Frauen herausleuchteten. Sie sah die gotische Strenge des Rathauses im festlichen Schmuck der nächtlichen Beleuchtung, sie sah Säle, in denen Kommerzienräte Bauerngewänder trugen und Rechtsanwaltsgattinnen ihre gepflegten Körper in bunte Dirndlkleider eingezwängt hatten. Sie war sehr erstaunt, denn irgendwo herrschten vierzig Grad Hitze, und John Rolland wälzte sich im Staube vor dem Throne Allahs und sprach mit Schriftgelehrten über den heiligen Abdessalam.


Draußen knirschte die Tür. Hassa war aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Er trat ins Zimmer, lächelnd und sichtlich gut gelaunt. Er streichelte Asiadehs Haar. Sie hob den Kopf und blickte in seine Augen.

»Übermorgen ist Gschnas«, sagte Hassa, »wir gehen natürlich hin.«

Asiadeh lachte. Das Wort Gschnas klang wie ein Scherz. »So was gibt es nicht, Hassa, Gschnas ist kein Wort. Das kann man gar nicht aussprechen.«

»Doch, und jeder Mann in Wien spricht es mit Liebe aus.«

»Aber um Gottes willen, was kann das sein?«

Hassa schüttelte lächelnd den Kopf. Seine Frau war eine kleine Wilde. Sie wußte nicht, was Gschnas ist.

»Gschnas ist ein Maskenfest. Halb Wien verkleidet sich an diesem Tage und tobt durch die Säle des Künstlerhauses. Es ist sehr lustig auf dem Gschnas, und die Eheleute dürfen nicht aufeinander eifersüchtig sein. Sonst gibt es immer Krach. Du wirst als Bajadere hingehen und ich als Neandertaler.«

Asiadeh blickte in sein strahlendes Gesicht und lachte.

»Eigentlich brauche ich mich nicht zu verkleiden, Hassa. Ich bin sowieso von früh bis spät verkleidet. Ich trage ein Kleid statt der weiten türkischen Hosen und einen Hut statt des Schleiers. Nein, ich werde bestimmt nicht eifersüchtig sein.«

Hassa saß neben ihr. Er streichelte ihr Gesicht. Seine Hand war warm und weich:

»Wir kommen gut miteinander aus, Asiadeh«, sagte er plötzlich bewegt, »es war ein guter Gedanke, zu heiraten. Fehlt dir nichts bei mir?«

»Nichts, Herr und Gebieter. Du bist ein guter Mann. Es gibt kaum einen besseren.« Asiadeh verstummte; Hassa war immer noch wie eine treue Maschine, deren Mechanismus unklar ist. »Hast du nie Sehnsucht nach Sarajewo, Hassa?«

»Nach Sarajewo? Nein«, Hassa lachte, »dort wohnen Wilde. Ich weiß: wenn du so dasitzt und vor dich hin starrst, denkst du an Moscheen, Springbrunnen und maurische Säulengänge. Aber in den Moscheen muß man auf dem Boden sitzen, das Wasser in den Springbrunnen ist ungenießbar, und in den Arabesken der maurischen Säulen nisten die Skorpione. Ich wäre im Orient auf die Dauer wahnsinnig geworden. Krank und verfallen ist die Welt des Ostens. Ich habe oft an sie gedacht, und ich weiß von ihr mehr, als du glaubst. Es ist dort wie in der Unterwelt. Enge feuchte Gassen, Häuser, in denen kein Mensch wohnen kann, Teppiche mit unzähligen Bazillen. Trachome und Syphilis in den Dörfern. Messerstechereien als Zeitvertreib und das stumpfe tierische Dahindösen im Schatten eines greulichen Kaffeehauses. Alles, was das Leben im Orient erleichtert, stammt aus Europa: die Eisenbahnen, die Krankenhäuser, die Autos. Der Mensch wird seit Urbeginn der Zeiten von der Natur bedroht und kämpft gegen ihre Gewalten. In der Bändigung der Naturkräfte gewinnt er seine Freiheit und seine Sicherheit. In Europa ist die Natur beinahe gebändigt. Auch die Pockenbazillen sind eine Naturkraft, und der Mensch in Europa besiegte sie. Wir siegten über die Kälte, und unsere Wohnungen sind warm, wir siegten über Meere und Flüsse, über Raum und Zeit.

Im Orient ist der Mensch den Elementen ausgeliefert. Ein Windhauch — und ganze Dörfer sterben an Pest. Eine Heuschreckenschar, ein Sandsturm — und ganze Provinzen sind dem Hunger preisgegeben.

Ich weiß: In Istanbul erheben sich am Bosporus die Paläste der Paschas. Aber ganze Stadtteile wurden jährlich durch Brand vernichtet. Denn der Mensch im Orient hat es noch nicht gelernt, über die Natur zu herrschen. Deshalb betet er auch einen Gott an, der nur straft und richtet, aber nicht liebt. Nein, der Orient ist wie ein Inferno. Eine jenseitige Welt, voll Trübsal, Ohnmacht und Schmerz. Ich bin froh, daß ich in einer Welt wohne, die die Natur gebändigt hat…«

Er wollte weitersprechen. Aber da öffnete sich die Tür, der dicke Bariton trat ein und streckte Hassa die Hände entgegen:

»Herr Doktor«, rief er, »ich warte schon seit einer Stunde. Ich habe eine schreckliche Sinusitis. Ich kann das ›m‹ nicht mehr aussprechen, und Sie kuscheln hier mit Ihrer Frau, Sie böser Mensch.«

»Wir werden gleich die Sinusitis bändigen«, rief Hassa. Er sprang auf und lief ins Ordinationszimmer.

Asiadeh blieb allein. Wie dumpfe Hammerschläge klangen Hassas Worte in ihren Ohren. Alles, was er sprach, stimmte. Eine armselige Kreatur war der Mensch im Orient, arm und nackt den Elementen preisgegeben. Und dennoch: alles in Asiadeh sehnte sich nach der stillen Würde des heimatlichen Lebens, nach den armseligen Häusern, nach der Welt der weisen Derwische und der stillen Andacht, nach der Welt, in der es niemand wagen würde, in einen Raum einzudringen, in dem Mann und Frau ins Gespräch vertieft waren.

In Istanbul gingen Verbrecher, die von der Polizei verfolgt wurden, zu ihren Frauen, und die Polizei stand draußen auf der Straße und wagte es nicht, das Gespräch des Mannes mit seiner Frau zu unterbrechen. Hier drang ein fremder Mann in ihr Zimmer ein, und der Mann wies ihn nicht hinaus, sondern ging mit ihm und bändigte die Natur. Es war keine schlechte Welt, die sich hier ausbreitete, es gab vielleicht überhaupt keine guten und keine schlechten Welten. Jede Welt konnte ihre Menschen glücklich machen. Aber alle Welten waren anders, von Urbeginn der Zeiten voneinander getrennt, fest und unverrückbar in ihrer Eigenart verwurzelt.

Vor vielen hundert Jahren ehelichte der Kalif Moawija eine einfache Frau aus der Wüste. Er brachte sie in seine Kalifenstadt Damaskus, und sie gebar ihm einen Thronfolger, den Kalifen Jesid. Als aber der Thronfolger zum erstenmal das Schlachtroß bestieg, kam die Frau zum Kalifen, verbeugte sich vor ihm und bat ihn, sie zu ihrem Stamm in die Wüste zurückzuschicken, denn ihre Pflicht hier in der Stadt sei nunmehr beendet.

»Wir lieben uns«, sagte der Kalif. »Und wir sind glücklich. Du hast einen Sohn, der Thronfolger ist, du hast einen Kalifen zum Mann, du hast Paläste und Diener. Was fehlt dir, warum willst du mich verlassen?«

Da kniete die Frau vor ihrem Mann und sprach ein Gedicht:

»Ein Zelt, durch das der Wind weht, ist mir lieber als der schönste Palast. Ein Stück Brot in der Ecke meines Zeltes schmeckt mir besser als die erlesensten Leckerbissen. Ich sehne mich nach meiner Heimat, und kein Königreich kann sie mir ersetzen.«

Da staunte der Kalif und entließ seine Frau in Ehren.

Jahrhunderte trennten Asiadeh von der Frau und Mutter der alten Kalifen. Aber durch Jahrhunderte zog sich der Reigen, der Tote und Lebende miteinander verbindet.

Ja, Hassa hatte recht. Die Welt des Westens war eine sichere, gute Welt. Hassa könnte in keiner anderen glücklich sein. Asiadeh aber lebte in einer anderen Welt, voll anderer Gefühle und Vorstellungen. Und zwischen den beiden Welten, auf einer schmalen Brücke, die nie errichtet werden könnte, standen John Rolland, der auf sie wartete, und Hassa, den sie nicht verlassen konnte, auch wenn er von der stolzen Welt der gebändigten Natur umschlossen war.

Im Nebenzimmer entließ Hassa den beglückten Sänger. Draußen warteten die Kranken. Sie kamen, saßen im Untersuchungsstuhl und klagten ihr Leid. Hassa schrieb Rezepte und erteilte Ratschläge. Plötzlich merkte er, daß er mitten in einer Gehörprüfung ein leises und vergnügtes Lied surrte. Der schwerhörige Patient hörte nichts, aber die Ordinationsschwester sah ihn erstaunt an, und Hassa wurde rot und verlegen. Das Leben war schön, er war ein tüchtiger Arzt und hatte eine wunderschöne Frau, die er sehr lieb hatte. Er war ein aufmerksamer Mann, der seine Frau nicht vernachlässigte. Die Frau war noch jung und unausgeglichen. Doch hatte er eben erst ein ernstes Gespräch mit ihr geführt. Er hatte sie überzeugt, daß Europa ein schöner Kontinent sei, und sie hatte ihm andächtig zugehört. Das Leben war gut und einfach. Einer klugen Frau konnte man alles erklären, insbesondere die einfache Tatsache, daß eine Welt ohne Pocken besser sei als eine Welt mit Pocken. So sollte eine Ehe geführt werden, dann gäbe es auch keine Überraschungen.

So dachte Hassa, und ein paar Häuser weiter, im massiven Gebäude am Karlsplatz, schleppten gebückte Arbeiter schwere Holzbretter. Der Boden wurde gescheuert und gewaschen. Kellner, mit Gesichtern, die noch einen privaten Ausdruck hatten, stellten die Tische auf. Die Mechaniker prüften die elektrischen Drähte. Ein dicker Mann hantierte an einer dicken Kaffeemaschine, das große Künstlerhaus, die Säle, Gänge, Nischen bedeckten sich mit Plakaten, Aufschriften und Zeichnungen. Hagere Jünglinge mit langen Haaren fuhren mit Kohlestiften über mächtige Papierbogen. Schanktische wurden aufgestellt und Batterien von Weinflaschen hineingetragen. Im Büro läutete ununterbrochen das Telephon. Herren mit zerknüllten Gesichtern sprachen mit heiseren Stimmen auf den Direktor ein und verlangten Pressekarten. Die Polizei durchschritt die Säle und prüfte die Plakate, Tische und Buden auf Feuergefahr. Das große Haus führte ein eigenartiges und wirres Dasein: Die Vorbereitungen zum Gschnas waren im vollen Gange…

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