23

Geheimnisvoll ist das Schicksal der Menschen miteinander verflochten. Über Kontinente und Meere zieht sich der magische Ring des Geschehens, der die Sterblichen verbindet. Ein alter Pascha entziffert in Berlin mit müden Augen die Zeichnungen auf alten Teppichen, spricht einige Worte, und das Leben des Mannes, der in New York wohnt und John Rolland heißt, wird aus der Bahn geschlagen.

Ein Wiener Arzt sieht den Nacken einer schönen Frau, und die Frau verliert den Glauben an die Welt des Westens. In rätselhafter Zweckmäßigkeit verlaufen die Geschehnisse. Tote und Lebende, Vergangenheit und Gegenwart sind zu einem schwirrenden Reigen verbunden, unmerklich gehen sie ineinander über und bestimmen schicksalhaft die Taten und Gedanken der Kreatur.

Nichts vergeht in der Welt des irdischen Kreislaufs, Gedanken, vor Jahrhunderten gedacht, leben weiter, führen ein unwirkliches Dasein im Staube der Bibliotheken, in den gelblichen Bogen alter Manuskripte. Plötzlich verwandeln sie sich in lebendige Taten, in erdhafte Geschehnisse, und weiter geht der schattenhafte Reigen, der den Erdball umfaßt wie ein Ehering den Finger.

Vor Jahrhunderten ritt durch die Wüsten Syriens, durch die Felder Ägyptens und die Dörfer Palästinas der tapfere Recke Usama ibn Munkyz. Jahrzehntelang vergoß er Blut für die grüne Fahne des Propheten im Kampfe gegen die Ungläubigen, die aus den Ländern jenseits des Meeres kamen und das Volk des Propheten bedrohten. Vor den Toren der heiligen Stadt Jerusalem kämpfte er gegen die Ritter aus dem Volke der Franken. Vor Edessa, vor Akka, überall, wo im Heiligen Land Halbmond und Kreuz aneinanderstießen, erschien sein gepanzertes Roß und erscholl über das breite Feld sein kriegerischer Ruf »Im Namen Gottes. Hie Usama ibn Munkyz! Kommt heraus, ihr Ritter der Franken.«

Als aber der große Saladin Friede mit dem Volke der Franken schloß, reiste der Ritter Usama im Auftrage des Herrschers durch die Burgen und Städte der Franken. Er wohnte in den Burgen des fremden Volkes, sah die fremden Sitten, hörte die fremde Sprache, und großes Erstaunen war in ihm.

Jahre vergingen. Alt und müde wurde der Ritter Usama. Da zog er in die Stadt Damaskus zum Hofe des Herrschers. Er vergrub sein Schwert und ergriff mit greisenhafter zitternder Hand die Feder. Für seinen Herrscher und für seine Kinder schrieb er sein großes »Buch der Belehrung«, in dem er Erinnerungen an die Feldzüge und Kämpfe seiner Jugend sammelte, sowie alles, was er über das seltsame Volk der Franken wußte, das von jenseits des Meeres kam und das Volk des Propheten bekriegte.

Jahrzehntelang wurde das Buch von arabischen Rittern gelesen, die in den Kampf zogen wider das Volk der Franken. Dann vergaß die Menschheit »Das Buch der Belehrung«. Jahrhunderte vergingen. Unbeachtet lag die weise Schrift in verstaubten Bibliotheken. Niemand gedachte mehr des tapferen Recken Usama Ibn Munkyz. Bis der Tag kam, an dem Gelehrte aus dem Westen in vergilbten Stößen der alten Manuskripte »Das Buch der Belehrung« auffanden. Mühselig entzifferten gelehrte Augen die alte Schrift. Mit ihren Anmerkungen versehen gaben es sie heraus, und aus dem Schutt der Vergangenheit entstand von neuem der Krieger Usama und sein Leben im Volke der Franken.

Nachlässig blätterte Asiadeh in der arabischen Schrift. Ganz zufällig fand sie sie in dem Bücherozean der großen Bibliothek. Lächelnd händigte ihr der Bibliothekar das Buch aus. Eine schöne junge Frau begehrt die Belehrung des verschollenen arabischen Recken. Zu Hause, zusammengekauert auf dem Diwan, blätterte Asiadeh in dem Buch. Die altertümliche arabische Sprache klang seltsam und fremd. Sie las über Jagden, über ritterliche Zweikämpfe und seltsame Ereignisse, die den alten Ritter fesselten. Plötzlich hielt sie inne. In großen arabischen Lettern lief quer über die Seite die Überschrift des Kapitels: »Über die Sitten der Franken«. Asiadeh las kopfschüttelnd und lächelnd:

»Gelobt sei der Herr und Schöpfer! Jeder, der tieferen Einblick in das Leben der Franken gewonnen hat, wird Allah preisen und rühmen, daß er ihn zum Muslim werden ließ. Denn er wird in den Franken nur Tiere erblicken, die wie alle Tiere eine einzige Tugend besitzen: ungeheuren Mut auf dem Schlachtfelde.

Die Franken kennen weder Selbstachtung noch Eifersucht. Es kommt vor, daß ein Franke mit seiner Frau über die Straße geht. Ein anderer Franke begegnet ihnen, nimmt die fremde Frau bei der Hand, führt sie abseits und beginnt mit ihr ein Gespräch. Der Ehemann aber bleibt stehen und wartet, bis das Gespräch beendet ist. Wenn es ihm aber zu lange dauert, so läßt er die Frau mit dem fremden Mann stehen und geht weiter.«

Sehr interessant, denkt Asiadeh, schon damals also… Gespannt liest sie weiter:

»Ich war Zeuge der folgenden Begebenheit: Wenn ich Nablus bei Jerusalem besuchte, pflegte ich im Hause meines Freundes Muis abzusteigen, bei dem alle Muslime wohnten. In diesem Hause gab es Fenster, die auf die Straße hinausgingen. Gegenüber lag das Haus eines Franken, der den Weinhandel betrieb und viel unterwegs war. Einmal kehrte der Weinhändler in sein Haus zurück und fand in seinem Bett einen fremden Mann, der neben seiner Frau lag.

›Was suchst du neben meiner Frau?‹ fragte der Weinhändler.

›Ich war unterwegs‹, antwortete der Fremde, ›und trat ein, um auszuruhen.‹

›Und wie kommst du in mein Bett?‹

›Ich sah, daß das Bett bereit ist und legte mich hin.‹

›Aber meine Frau liegt bei dir!‹ rief der Weinhändler.

›Das Bett gehört doch auch ihr‹, sagte der andere, ›ich kann sie doch nicht aus ihrem eigenen Bette vertreiben!‹

›Bei der Wahrheit meines Glaubens‹, rief der Händler, ›wenn es noch einmal geschieht, werden wir uns ernstlich verzanken.‹

Dieses war der höchste Ausdruck seines Zornes und seiner Eifersucht!«

Asiadeh legte den Kopf auf den Diwanrücken zurück und lachte. Ein verrücktes Volk, diese Franken. Mutig auf dem Schlachtfeld und ohne Männlichkeit in den Angelegenheiten der Eifersucht. Jahrhunderte waren vergangen, seit der weise Ritter die Sitten der Franken erforschte. Vieles hat sich bei dem fremden Volke geändert. Unveränderlich blieben die Seelen der Männer, unverändert die Ursachen, aus denen sie die Frauen unverschleiert durch die Straßen gehen ließen. Hassa war ein Franke. Noch einmal, und er wird sich ernstlich mit dem Kollegen Kurz verzanken, weil er seine Frau küßte. Sie las weiter. Das dicke Buch war plötzlich gar nicht mehr veraltet. Sie las:

»Noch ein Beispiel: Einmal besuchte ich in Tyros das Bad und nahm eine geschlossene Kabine. Kaum war ich mit dem Bad fertig, da stürzte mein Diener herein und rief: ›Herr, was sagst du dazu. In diesem Bad befindet sich eine Frau.‹

Ich eilte sofort in den allgemeinen Saal. Tatsächlich: da war eine junge Frau, die neben ihrem Vater stand, einem fränkischen Ritter. Ich traute meinen Augen nicht und sagte zu einem Freund:

›Um Allahs willen! Ist es wirklich eine Frau?! Ich will, daß du dich davon überzeugst.‹

Mein Freund trat an die junge Frau heran und überzeugte sich vor meinen Augen, daß es wirklich eine Frau war. Daraufhin wandte sich der fränkische Ritter mir zu und sagte:

›Es ist meine Tochter. Ihre Mutter ist gestorben und sie hat niemanden, der sie waschen könnte. Da habe ich sie hierher ins Bad gebracht und habe sie selbst gewaschen.‹

›Da hast du recht gehandelt‹, sagte ich, ›möge der Himmel dich belohnen.‹

Bei mir aber dachte ich: ›Sehet nun, ihr Gläubigen, welch große Gegensätze: die Franken haben offensichtlich weder Ehrgefühl noch Eifersucht, und sie glänzen dennoch durch ungeheuren Mut, obwohl doch Mut der Furcht entspringt, die Ehre zu verlieren. Möge Gott sie verdammen.‹«

Asiadeh schloß das Buch. Es war noch nicht lange her, da war sie selbst zitternd und unbeholfen in ein Bad getreten, und fremde Männer hatten ihren halbbekleideten Körper gesehen. Nein, Hassa war nicht entartet. Er war nur ein Franke, wie jene alten Ritter, über die der Recke Usama spottete. Nichts erinnerte in ihm an die Ahnen, die in Sarajewo hausten und ihre Frauen behüteten. Er war aufgegangen in dieser Welt, in der er geboren war und zu der er gehören wollte. Es war nicht seine Schuld, wenn Asiadeh den Ritter Usama verstand und über die Franken lachte, die allein des Weges gehen, wenn ein fremder Mann ihre Frau anspricht.

Asiadeh runzelte die Stirn. Ein Abgrund trennte sie von der Welt Hassas, und es gab keine Brücke, die hinüberführte. Es war nicht Hassas Schuld, wenn er so war wie alle Menschen um ihn, und es wäre ungerecht, ihn dafür zu strafen.

Asiadeh seufzte. Nein, Hassa war nicht der Mann, der der Vater ihrer Kinder sein könnte.

Sie blickte auf das »Buch der Belehrung«. Wie in traumhaftem Reigen sah sie sich plötzlich vereint dahinschreiten mit dem Krieger Usama ibn Munkyz, mit dem Vater und mit dem Prinzen aus dem Hause Osman, der in einer Oase war und sich John Rolland nannte. Wie in einem unwirklichen Gleichnis erschien ihr die Vision des ewigen traumhaften Reigens, der durch Jahrhunderte ging und die Welt umspannte wie ein Ehering den Finger.


Seltsam verflochten sind die Gedanken der Menschen. Unergründlich verbinden sich ihre Träume und Vorstellungen. Im Café Watan in Berlin sitzt der alte Pascha, der Kaffee vor ihm wird kalt, mit müden alten Augen blickt er auf den indischen Professor an der Theke und denkt an den Prinzen, der zu schwach war, um sich seine Tochter zu holen, und an seine Tochter, die mit einem Ungläubigen lebte und noch nicht schwanger war.

In seinem Ordinationszimmer sitzt auf dem niedrigen runden Stuhl Dr. Alexander Hassa. Die reiche Polin sitzt vor ihm und klagt über Reflexneurosen. Er behandelt die kilianischen Punkte und denkt an Asiadeh, die im Nebenzimmer sitzt, ein unverständliches arabisches Buch liest und laut lacht. Er denkt an sie mit viel Liebe und leichter Sorge, denn sie ist einundzwanzig Jahre alt und eine Wilde, die geleitet werden muß in der Welt der europäischen Sitten.

Auf der Terrasse des Ring-Cafés sitzt Marion. Das schöne Gesicht ist sonnengebräunt. Die Augen hochmütig und stolz. Sie blickt auf das Laub, das bereits von den Bäumen fällt. Sie denkt, daß der Sommer vorbei ist, sie denkt an Fritz, der sie verlassen hat. An ihr verpfuschtes Leben denkt sie und an Hassa, der eine junge schöne Frau hat, die sie am Semmering traf, an dem Tag, als ein Verrückter in ihr Zimmer einbrach, sich Prinz nannte und sie mitnehmen wollte.

Sie lächelt traurig und schüttelt den Kopf. Sie denkt, daß ein Verrückter, der sich einbildet, Prinz zu sein, glücklicher ist, als sie mit ihrer Schönheit, mit ihrer Jugend, mit ihrem verpfuschten Leben.

Einige Straßen weiter, am Graben, in der Bridgestube eines Kaffeehauses, sitzt Dr. Kurz. Das Zimmer ist verraucht und verqualmt. Die Menschen haben fahle Gesichter, und die Frauen sind aufgeputzt. Dr. Kurz legt die Karten auf und beugt sich zur Seite. Neben ihm sitzt Dr. Sachs.

»Ich weiß nicht«, sagt Dr. Kurz, »Kollege Hassa hat doch eine schöne Frau.«

»Eine sehr schöne«, bestätigt Dr. Sachs.

»Aber so fremd in ihrem Wesen«, sagt Dr. Kurz. »Ich kann Hassa nicht verstehen. Mit dieser Frau kann man doch über nichts sprechen. Eine Wand! Eine andere Welt! Sagen Sie, was Sie wollen, Kollege, die Asiaten sind doch andere Menschen als wir. Da hilft keine Erziehung, nichts. Habe ich nicht recht? Wenn diese Frau so dasitzt und vor sich hin starrt, habe ich direkt Angst um Hassa. Man kann nie wissen, was aus den Tiefen dieser fremden Mentalität emporbricht. Ebenso könnte man ein Eskimomädchen oder eine Negerin heiraten. Die Frau gehört in den Harem, zu einem Pascha oder zu einem Prinzen. Übrigens, ich habe neulich einen Fall gehabt. Am Semmering. Ein Größenwahnsinniger behauptete, er sei türkischer Prinz. Das wäre was für Frau Dr. Hassa. Hahahaha!«

Dr. Kurz lachte, und vor den Toren von Gadames, draußen, in einem breiten steinigen Feld saß John Rolland und wußte nichts von den Gedanken, die geheimnisvoll um ihn kreisten, von den Menschen, die in fernen Ländern saßen, unsichtbar und rätselhaft mit ihm verbunden.

Er saß auf einem niedrigen Stein. Trostlos und öde zog sich vor ihm das steinige Feld der Sahara. Heißer Wind wehte über das tote Gestein und war wie der glühende Atem eines unsichtbaren Riesen. Vorne erhoben sich die steinernen Götzen von el’Esnam, die geheimnisvolle Pforte der Sahara. Uralt, verwittert, rätselhaft, wie von der Hand eines Zyklopen hingestellt.

Rechts und links zogen sich die armseligen Zelte des Stammes Tarki. Vermummte Männer, rüstig und hager, saßen an den Eingängen der Zelte und blickten mit gleichgültiger Verachtung auf den Fremden. Die durchglühte Erde roch nach Brand. Weit in der Ferne zog zur tunesischen Grenze eine Karawane. Von weitem glichen die Kamele im Winde wehendem Sand. Sie brachten Goldstaub aus Timbuktu, Wohlgerüche von Ghat und Elfenbein und Straußenfedern aus dem fernen Süden.

Ein schlankes Weib, unverschleiert und mit offenem Busen, zeigte sich am Eingang des Zeltes. Sie kam auf Rolland zu. Ihre großen dunklen Augen blickten in die Ferne, in die flache Öde von glühendem Sand und Gestein, sie zog die heiße Luft ein und sagte:

»Schön ist es hier, Fremder. Nirgends auf der Welt ist es so schön.«

»Ja«, sagte Rolland und blickte auf die Frau mit dem braunen Gesicht und dem nackten Busen, »du bist eine Frau aus dem Stamme der Tarki, in dem Frauen über Männer herrschen?«

Die Frau nickte.

»Vor vielen Jahrhunderten«, sagte sie, »gab es in unserem Volke einen Streit zwischen Männern und Frauen. Die Frauen verließen ihre Männer und zogen bewaffnet und mit ihren Kamelen davon. Die Männer verfolgten sie. Es gab eine fürchterliche Schlacht, und in dieser Schlacht haben wir, die Frauen, den Sieg davongetragen. Seitdem gehört uns die Herrschaft über das Volk, und wir haben den Männern zum Zeichen ihrer Knechtschaft den Schleier über das Gesicht geworfen.«

Die Frau schwieg, lächelnd und überlegen. Plötzlich fuhr sie fort.

»So erzählen wir es den Fremden, aber es ist nicht wahr. Es gab keine Schlacht vor vielen hundert Jahren. Es ist gut für den Mann, wenn er im Schutze der Frau steht. Arm und nackt ist der Mann ohne Frau. Haltlos treibt er sich in der Wüste herum. Mordet und stiehlt, und niemand will sein Gesicht sehen. Halt und Heim findet er im Zelte der Frau, deshalb gebührt uns die Ehre.«

»Ja«, sagte John, »arm und nackt ist ein Mann ohne Halt.«

Er erhob sich. Er ging über das steinige Feld, und heißer Wind peitschte seinen Rücken. Er betrat die Oase. Wie Gruften zogen sich die engen Straßen. In wirren Dreiecken erhoben sich die Dächer. Negerfrauen mit drei blauen Streifen an den Schläfen schlüpften vorbei, noch immer gebückt unter dem Zeichen der ehemaligen Sklaverei.

An der viereckigen Quelle Ain-ul-Fras raschelten die Palmen. Ein alter Mann mit greisenhaft tränenden Augen saß an der Wasseruhr.

»Ain-ul-Fras«, sagte er, »heilige Quelle, nach der Stute des Propheten genannt. Seit viertausend Jahren steht die Wasseruhr da, und kein einziges Mal verirrte sich die Zeit.«

John erschauderte. Hier, am Rande der Welt, maß man die Zeit nach Jahrtausenden. Er ging nach Hause, in sein Zimmer. Sam Dooth schlief bereits. Die Schreibmaschine starrte John an wie ein bissiges Ungetüm mit vier Zahnreihen. John entkleidete sich. Es wurde dunkel. Unirdische Stille herrschte in der Oase. John lag im Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Ein Wanderer war er zwischen den Welten, ewig getrieben von der Last seiner Unruhe, wie ein Mann aus dem Volke Tarki, der plündernd und mordend durch die Wüste treibt.

Plötzlich horchte John auf. Zuerst leise, dann immer lauter ertönte von der Wüste her ein unheimliches Tönen. Ein Rauschen und Weinen drang in das Zimmer. Es war, als pochten alle Dämonen der Sahara an die Pforte des Hauses. John richtete sich auf. Das ferne Weinen ging in ein wildes Geheul über.

»Der Rul«, dachte John, der nächtliche Spuk der Wüste, das schreckliche Rascheln der Milliarden von Sandkörnchen, die sich plötzlich abkühlten im nächtlichen kalten Wind. Es wurde ihm unheimlich. Als Kind hatte er von den schrecklichen Dämonen der Wüste gehört. Die Amme hatte es ihm erzählt oder die Mutter — er wußte es nicht mehr.

In alten Zeiten, bevor der Prophet in die Welt kam, herrschten in der Sahara die Götter der Wüste. Als Mohammeds Scharen die Welt bezwangen, vertrieben sie die Götter der Wüste, und die Götter wurden zu Dämonen. Bis Mitternacht herrscht in der Welt des Sandes das Wort des Propheten. Dann aber erheben sich aus den Sanddünen der Wüste die Dämonen der Urzeit. Heulend und weinend schleichen sie durch das Land, überfallen den Fremden, verführen den Wanderer bis zur Stunde des Frühgebetes, das sie in ihre Höhlen zurücktreibt.

John erzitterte. Hastig sprang er aus dem Bett. Er zog sich an. Etwas Unsichtbares, etwas Gewaltiges und Uraltes ergriff ihn, trieb ihn hinaus zu den rätselhaften Stimmen der Nacht. Die Leere des Zimmers war plötzlich drückend.

Er verließ das Haus. Er keuchte. Der Mond erhellte die Palmzweige, und die Schatten waren wie erstarrte Riesen. John lief durch die menschenleere Oase, vorbei an der heiligen Quelle, vorbei an dem Sklavenmarkt mit den vergitterten Zellen.

Plötzlich stand er vor der Wasseruhr. Der Platz vor der Uhr war mondübergossen. Rechts erhob sich die Dschama el-Kabira, die große Moschee. John blieb stehen. Die Stimmen der Dämonen verstummten in der Ferne. Er fuhr mit der Hand über die Stirn. Die Pforte der Moschee stand offen und glich dem Eingang zur Ewigkeit. Er trat ein, von einem unergründlichen dumpfen Drang getrieben.

Das Innere der Moschee war von kleinen Öllampen erhellt. Die Säulengänge glichen erstarrten Sklaven. John erschauderte. Seit jenem Tag, als er der Heimat den Rücken kehrte, hatte er kein Gotteshaus betreten. Er zog die Schuhe aus. Ein alter Mann saß auf einem barbarisch gemusterten Teppich und las den Koran. Im flackernden Lichte der Öllampen glich er einer tänzelnden Mumie. Die Mumie stand auf und verbeugte sich.

»Ich will beten«, sagte John.

Der alte Mann bewegte die eingefallenen Lippen. »Hier«, sagte er und zeigte auf die Kanzel, »das ist die Kibla — die Richtung des Gebetes. Wenn du betest, bete auch ich. Ich bin der Imam dieses Gotteshauses.«

John hörte nicht zu. Er kniete nieder. Alles um ihn war verschwunden, wie versunken im Abgrunde des Vergessens. Seine Stirn berührte den Boden. Die Lippen flüsterten die halb vergessenen Worte. Er betete eine Stunde oder mehr. Die Zeit maß man nach Jahrtausenden. Dann saß er, mit gekreuzten Füßen, auf dem Teppich, die Augen auf das flackernde Licht gerichtet, gedankenlos und seltsam beruhigt, wie aufgelöst in der Stille der alten Moschee.

Der Alte blickte ihn neugierig an. Auch er betete nicht mehr. Das heilige Buch lag auf seinen Knien, aber er las nicht darin.

»Friede sei mit dir, Prinz.«

John zuckte zusammen. War es Traum? War es Wirklichkeit? Er erhob sich:

»Du weißt, wer ich bin?«

»Wir sind eine kleine Stadt, Prinz. Wir wissen alles über die Fremden, die auf dem Fahrzeug des Leibhaftigen durch die Wüste kommen. Morgen wäre ich zu dir gekommen, um dich zu begrüßen und zu mahnen. Denn du bist schon lange hier und lebst wie ein Hund ganz ohne Gebet. Aber Allah erbarmte sich meines Greisentums und schickte dich hierher. Gelobt sei er.«

John blickte auf die greisenhaften Falten im Gesichte des Imams.

»Einst«, sagte er leise, »gehörte diese Oase und alles Land um sie meinen Ahnen. Und jetzt lieg’ ich hier, einsam, im Staube vor Gott. Die Welt hat mich verstoßen, und ich bin wie der Holzsplitter eines zerfallenen Hauses.«

Der Imam schwieg. Seine Augen waren gesenkt. Die rotgefärbten Nägel glänzten im Licht der Öllampen. Angst erfaßte John.

»Ein Vertriebener bin ich, der keinen Frieden findet. Fremd bin ich in den fremden Welten.«

»Abdul-Kerim«, sagte der Alte und hob seinen struppigen Bart, »deine Ahnen saßen am Bosporus und herrschten über uns. Sie schickten Krieger und zerstörten unsere Häuser. Jetzt liegst du im Staube vor Gott. Gott allein ist gerecht. Ich bin ein einfacher Mensch aus dieser Wüste und du ein Prinz aus einem zerfallenen Haus.«

Er schluchzte, kurz und böse. Seine Hand glitt über den struppigen Bart.

»Die Welt des Unglaubens«, sagte er verächtlich, »was ist sie? Nichts mehr als Staub in der Wüste. Wer fürchtete sich vor ihr? Unsere Karawanen ziehen nach Timbuktu, zu der Küste des Goldes, nach Ghat und zu den schwarzen Herrschern des Sudans. Wir sind einfache Menschen und hatten nie einen Palast am Bosporus. Aber ein Jahr oder zwei zieht die Karawane durch den großen Sand. Nachts weinen die Frauen auf den Dächern von Gadames. Trauriger Gesang ertönt in der Wüste. Aber die Männer sind in Timbuktu, an der Küste des Goldes oder im Urwalde bei den Heiden. Aber die Heimat? Hier trägt sie jeder in der Brust oder im Gehirn. Sie ist immer da. Einen Fuß, einen Arm, ein Auge, alles kann ein Mensch verlieren, aber nicht die Heimat. Du wohnst in den Steinhäusern der fremden Städte, aber nichts ist fremd in der Welt Gottes.«

»Der Friede«, sagte John böse, »wo nehm’ ich ihn her, alter Mann?«

Der Imam sah ihn verwundert an:

»Im Hause, das du dir bauen wirst.«

»Ein anderer bewohnt mein Haus.«

Der Alte schwieg mit listig zusammengefalteten Lippen. »Ich bin ein armer Imam aus der Oase Gadames«, sagte er endlich. »Aber die Welt ist voller Wunder. Morgen wollte ich zu dir gehen, aber schon nachts schickt Allah dich zu mir. Und heute erst war ein Mann in Uniform bei mir und brachte mir ein Schreiben, das dich betrifft. Ich las es der Gemeinde vor, und alle staunten über die Wunder Allahs. Groß ist die Macht des Herrn. Nur eine Stunde ging das Schreiben aus dem Lande des Unglaubens zu den Zelten des Friedens. Hier, lies es. Ich kann den Inhalt nicht erfassen, denn ich bin ein einfacher Mann.«

Ein zerknülltes Papier lag in Johns Händen. Er entfaltete es. Er las:

»Radio-Austria, Vienna. Gadames via Tripolis. An den weisen Imam der großen Moschee. Im Namen Gottes. Prinz Abdul-Kerim aus dem Geschlechte Osmans weilt unter euch. Besucht ihn. Schützt ihn. Betreut ihn. Sagt ihm: Friede sei über dir. Sein Haus wird gebaut. Ich wache darüber. Er wird das Haus beziehen, so Gott es will. Asiadeh, Tochter Achmeds aus dem Geschlechte Anbari.«

John faltete das Telegramm. »Im Namen Gottes«, sagte er. »Ich bin wie ein Mann aus dem Stamme Tarki. Arm und nackt ist ein Mann. Heim bietet ihm die Frau. Daher gebührt ihr die Ehre.«

Er verbeugte sich und verließ die Moschee. Der Imam sah ihm nachdenklich nach. Dann betete er lange und inbrünstig: »Für den Prinzen und für das Haus, das für ihn gebaut wird, für die Karawanen, die durch die Wüste ziehen, für die Männer, die im Kriege stehen, für die Oase Gadames und für alle Frommen in Ost und West.«

Загрузка...