12

Das Gesicht des Derwischs verschwand hinter einer sterilen Leinenmaske. Der Kranke saß teilnahmslos im Sessel und schwieg. Die Operationsschwester beugte sich über die Instrumente. Asiadeh sah den Schlitz für die Nasenspitze des Derwischs und hörte wie von weit her Hassas Befehle:

»Schwester, Kokainlösung mit Epirenan und dann Schleichsche Lösung zum Infiltrieren.«

Sie übersetzte, und das Zimmer roch nach Gas und Jodoform. Sie blickte auf die blassen Hände des Derwischs, die hilflos auf dem Sesselrand ruhten, und der trockene Handrücken verwandelte sich in das sommerlich-grüne Feld bei Amasia. Über das Feld ritt Sultan Orchan, von Falkenjägern, Sklaven und Wesiren begleitet. In Hassas linker Hand blitzte ein röhrenförmiges Instrument. Die Schwester beugte sich über den Kranken.

»Septumresektion nach Kilian«, sagte Hassa. Asiadeh sah einen metallenen Gegenstand. Hassa führte den Schnitt, und ein Blutstreifen bedeckte das Leintuch. Asiadeh sah das Blut, und ihre Lippen wurden trocken und heiß. Auf dem weißen Leintuch erhob sich das Dorf Sulidsche, und Sultan Orchan betrat das Haus des heiligen Hadschi-Bektasch, des Gründers der Bruderschaft der Bektaschi. Der heilige Hadschi-Bektasch trug wallende Gewänder, und Sultan Orchan bat um seinen Segen für das Heer, das er gründete. Ein Krieger mit breiter behaarter Brust näherte sich dem Heiligen, und der Scheich legte die Ärmel seines Filzmantels segnend auf den Kopf des Kriegers.

Indessen verlangte Hassa ein Spekulum zum Festhalten der Schleimhaut. Asiadeh übersetzte und die Schwester reichte Hassa etwas Längliches und Glitzerndes. Hassa schwieg, und seine Hände waren wie selbständige, eilige und sehr genaue Geschöpfe. Eine Schwester hielt die Schale dicht vor das Gesicht des Derwischs. Asiadehs Unterlippe hing herab. Der Derwisch stöhnte leise und gleichgültig. Asiadeh wollte die Augen schließen, aber Hassa verlangte einen schmalen Meißel. Sie übersetzte und riß die Augen weit auf.

Die Schwester hielt einen kleinen Hammer in der Hand. »Hämmern«, sagte Hassa. Der kleine Hammer schlug hart auf den Meißel. Ein hakenförmiges Instrument wurde in die Wunde eingeführt. Breite Blutstreifen bedeckten die weiße Maske, und in der blutbefleckten Schale lagen Knochensplitter.

»Genug«, sagte Asiadeh und berührte Hassas Schulter. »Genug. Laß den Heiligen in Ruhe sterben.« Ihr Gesicht war gerötet, und eine blaue Ader schwoll an der Stirn.

Hassa schob seinen Hocker zurück, und die Schwester nahm das Leintuch vom Gesicht des Derwischs. Das Gesicht war blaß und eingefallen. Die Augen blickten schmerzverzerrt ins Weite.

»Genug«, wiederholte Asiadeh und blickte auf die blutbedeckten Instrumente. Hassa sah sich für einen Augenblick um. Seine Augen waren zerstreut und abwesend. »Ja, ja«, sagte er brummig. »Die Voroperation ist beendet, jetzt beginnt der eigentliche Eingriff. Sie sollen rascher die Gesichtsmaske wechseln. Ich mache eine Probepunktion der Dura.«

Asiadeh hatte plötzlich das Gefühl, ein kleines und unbeholfenes Mädchen zu sein. Der Derwisch saß im Sessel, und das Zimmer glich einer mittelalterlichen Folterkammer. Hassa war ein großer Zauberer und Foltermeister. Er meißelte die Knochen auf und schnitt am lebendigen Fleisch, als wäre es zulässig, Heilige zu martern. Wieder verschwand das Gesicht des Derwischs hinter der Maske. Asiadeh fühlte plötzlich einen salzigen Geschmack um die Lippen und mußte heftig blinzeln. Im unwirklichen und flatternden Gesichtsfeld ihrer tränenverhangenen Augen sah sie den Krieger, der vor dem heiligen Hadschi-Bektasch kniete. Der Heilige segnete den Krieger und sprach leise: »Ihr Name sei die Janitscharen. Ihr Angesicht weiß, ihr Arm siegreich, ihr Säbel schneidend, ihr Speer durchstoßend. Immer sollen sie zurückkehren mit Sieg und Wohlsein.«

Das Zimmer schwamm vor Asiadehs Augen. Ein schmales Messer in Hassas Händen bekam plötzlich bogenförmige Linien und zitterte.

»Es ist eine Zyste«, sagte Hassa. Seine Stimme klang gespannt, und er hielt das Messer in der Hand, als wäre es aus Daunen.

»Möge sein Säbel schneidend sein, seine Lanze durchstoßend«, dachte Asiadeh. Ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten, und das Derwischheer der Janitscharen ergoß sich über Europa. Die Krieger trugen die Mütze des heiligen Hadschi-Bektasch und einen Holzlöffel statt der Kokarde. Nachts saßen sie am Fleischkessel im Hofe der Janitscharenkaserne. Der Scheich der Bektaschi trug eine kesselförmige Mütze mit weißer Aufschrift und führte neunundneunzig Heldenregimenter in den Kampf.

Asiadeh trocknete die Augen. Sie hatte das Gefühl, daß sie schon seit Stunden vor diesem verblutenden Körper stehe, an dem Hassa herumschnitt, und noch Tage und Wochen dastehen werde, bis Hassa sein blutiges Handwerk beendet habe.

Jetzt hielt Hassa einen Gummischlauch in der Hand und schien mit einem Gummiballon zu spielen. »Absaugen«, sagte er und drückte auf den Ballon. Der Heilige bewegte die Finger und stöhnte laut. »Watte«, befahl Hassa, »für die Dränageöffnung.« Er hielt eine Glasröhre. Plötzlich hob er den Kopf und sagte zu Asiadeh: »Die Zyste kann mit dem Boden des dritten Ventrikels verlötet sein. Aber es waren gut schneidende Instrumente.« Asiadeh nickte und übersetzte nicht. Der Satz, so unverständlich er auch war, schien nur für sie bestimmt zu sein und war der Ausdruck Hassas seelischer Verwirrung.

Die Schwester wickelte die Tampons auf. Asiadeh hörte das heftige Atmen des Derwischs. Acht Brüder seines Ordens saßen einst Tage und Nächte in den Kasernen der Janitscharen. Sie erflehten Gottes Segen auf die neunundneunzig Regimenter, die am Fleischkessel saßen und die Mütze des heiligen Hadschi-Bektasch trugen. Und Gottes Segen ruhte auf den Waffen, bis Sultan Mahmuds Zorn sich über die Helden und Derwische ergoß. Vierzigtausend Mann versammelte der Sultan am Hippodrom zu Istanbul. Alle vierzigtausend wurden hingerichtet. Kein einziger entging dem Zorn des Herrschers. Seitdem war das heilige Reich schwach und schutzlos. Die letzten Bektaschi flohen in die fernen Bergklöster, und als die Gnade des Sultans ihnen zurückerstattet wurde, waren sie wie alte Wölfe mit herausgebrochenen Zähnen.

»Die Wattebäusche können nach zwei Tagen entfernt werden«, sagte Hassa und erhob sich. »In den ersten Tagen kann noch eine subfebrile Temperatur auftreten. Es wird keine Meningitis werden.«

Der Derwisch wurde weggetragen. Asiadeh ging neben ihm und blickte in sein alabasterweißes Gesicht. Später kam sie zurück, und ihr gerötetes Gesicht mit verweinten Augen war fragend zu Hassa gewandt.

Hassa wusch sich die Hände und dachte, daß es ebensogut ein intrakranieller Tumor anstatt einer Zyste sein könnte und daß er strenggenommen Glück gehabt habe, denn der Knochen der Sattelgrube war gar nicht resistent.


Sie gingen ins Hotel. Sie sprachen von der Wohnung in Wien und von den Abenden in Grinzing, wenn die Sonne unterging und die Menschen in die Weingärten eilten. Sie tranken Kaffee in der Hotelhalle, und Asiadeh blickte auf Hassas Hände, die Säbel und Speere zu führen verstanden, die so ganz anders waren als die klirrenden Waffen der Janitscharen.

»Wird er gesund, Hassa?« fragte sie leichthin, als ginge sie der Derwisch nichts an.

»Wenn keine Meningitis auftritt, natürlich. Sonst stirbt er.«

Hassas Stimme klang herrisch und überheblich. Asiadeh hob die Schultern und beugte den Kopf. Sie sprach von ihrem Vater, von der Universität, von der Weisheit, die um so vieles mehr vermag als die brutale Kraft. Das Gesicht des verblutenden Derwischs kreiste vor ihr, und eine gewaltige Angst überfiel sie. Sie zweifelte plötzlich daran, daß Hassas Messer die Augen des Heiligen sehend und seine Muskeln stark machen könnte. Es war ein Frevel, das Schicksal so herauszufordern, Hassas dunkle und blutige Magie mußte kraftlos bleiben dort, wo Gott seinen Willen klar verkündete. Sie wollte weg von hier, noch bevor das Unvermeidliche geschah und sie den Glauben an die Kraft ihres Mannes ganz verlor.

»Die Ärzte hier«, sagte sie bittend, »werden wohl die Nachbehandlung selbst durchführen können. Fahren wir morgen nach Dubrovnik. Es ist so heiß hier, und ich sehne mich nach dem Meer.«

Hassa war einverstanden. Er wußte nicht, warum seine Frau so plötzlich weg wollte, aber sie hatte bittende Augen und zitternde Lippen, und es mußte gut sein, mit ihr am Strande von Dubrovnik zu liegen und in die blaue Ferne der Adria zu blicken.

Sie fuhren weg, und es war wie eine Flucht nach einer vollbrachten Untat. Zwei Wochen lang plätscherte Hassa in den Wellen des Mittelmeeres. Sie lagen im heißen Sand, und Asiadeh schwieg und blickte in die Ferne des Meeres, das auch ihre Heimat umspülte.

»Ich müßte anfragen, wie es deinem Derwisch geht«, sagte Hassa schuldbewußt, und Asiadeh wurde sehr gesprächig und schlug einen Ausflug vor in die Berge von Montenegro, nach Cetinje. Sie fuhren über den Lovcen. Die blaue Bucht von Catarro lag tief unter ihnen, der Wagen hing am steilen Abhang, und Asiadeh fürchtete sich vor der Rückfahrt und vor Sarajewo, wo es bestimmt die Nachricht erwarten würde, daß der heilige Mann gestorben sei und Hassas Kunst vergebens war.

»Wir fahren durch«, sagte sie zu Hassa, als sie den Zug zur Heimfahrt bestiegen. »Wir brauchen nicht in Sarajewo zu halten.«

Als sich aber in der Ferne die Gebetstürme der Zarska Dschamia zeigten, packte sie plötzlich die Koffer, ergriff Hassas Hand und sprang auf den Bahnsteig.

»Was hast du, Asiadeh?« fragte Hassa, aber Asiadeh schwieg, und sie fuhren in die Stadt und frühstückten im Hotel. Nachher gingen sie durch die Gassen des Basarviertels. In dem türkischen Gartencafé gegenüber der Zarska Dschamia saß der Derwisch Ali-Kuli und rauchte eine lange Wasserpfeife. Ihn umringten bärtige Männer mit frommen und listigen Blicken. An einem Tisch saß die Sippe Hassanovic und schlürfte Kaffee aus winzigen Tassen.

Der Derwisch erhob sich und schritt auf Hassa zu. Er verbeugte sich tief.

»Weib«, sagte er zu Asiadeh. »Du, die du das Glück hast, die Frau eines Weisen zu sein, übersetze!«

Er sprach sehr feierlich, und Asiadeh stockte der Atem.

»Weiser«, sagte er, »du gabst meinen Augen das Sehen, meiner Haut die Farbe, meinem Körper die Stärke, meinen Haaren das Wachstum. Ich werde beten, daß dein Leben hell sei, dein Bett weich, dein Weg ruhmvoll und dein Weib deiner würdig.«

Hassa verbeugte sich gerührt. Bärtige Männer umgaben ihn. Ernste und feierliche Gesichter blickten ihn an, und die Sippe Hassanovic stand neben ihm und labte sich in den Strahlen seines Ruhmes. Asiadeh war an die Mauer des Gartens zurückgedrängt. Niemand entsann sich mehr, daß sie die Tochter eines Paschas war, dessen Vater einst über Bosnien geherrscht hatte. Sie war nur ein Weib, unfähig, die geheimnisvollen Wunder zu vollbringen, die Hassas Hände vermocht hatten, unfähig, die Augen sehend, den Körper stark, die Haare wachsend zu machen, nur ein Weib, geboren, um einem würdigen Manne demütige Sklavin zu sein.

Mühselig befreite sich Hassa aus dem Ring der asiatischen Dankbarkeit. Er ergriff Asiadehs Hand und verließ schüchtern lächelnd das Lokal.

Sie gingen nach Hause, und Asiadeh schwieg, in eigene Gedanken und Gefühle vertieft. Zu Hause erklärte sie plötzlich und zu Hassas Überraschung, daß sie baden möchte. Sie sperrte sich im Badezimmer ein, und Hassa hörte das geräuschvolle Fließen des Wassers. Asiadeh badete aber nicht. Sie saß hinter der Tür angezogen am Rande der Wanne, und Tränen tropften über ihre Wangen. Sie sah, wie sich die Wanne mit Wasser füllte und schloß die Hähne. Dann saß sie auf dem Boden und weinte still und lange, ohne genau zu wissen, warum. Hassa hatte gesiegt, und es war schmerzlich und freudvoll, nicht mehr die Tochter eines Paschas, sondern die Frau eines Mannes zu sein, der den Tod besiegen konnte.

Sie wischte mit der Handfläche die Tränen ab. Das Wasser in der Badewanne war klar und dampfend. Sie legte ihr Gesicht auf die warme Wasserfläche und hielt für Augenblicke den Atem an. Ja, der alte Orient war tot. Einen Heiligen aus der Bruderschaft der Bektaschi rettete der ungläubige Hassa, der also mehr war als nur ein Mann, den eine Paschatochter liebgewonnen hatte. Sie erhob sich und trocknete das Gesicht. Sie öffnete die Tür und betrat auf Zehenspitzen das Zimmer. Hassa lag ausgestreckt auf dem Diwan und blickte auf das Muster der Zimmerdecke. Nichts verriet an ihm den Sieger und Helden. Asiadeh setzte sich zu ihm und umfaßte seinen Kopf. Sein braunes Gesicht war zufrieden und etwas verschlafen. Sie berührte mit den Wimpern seine Haut und fühlte den leisen Duft seiner Wangen.

»Hassa«, sagte sie. »Du bist ein Held. Ich werde dich sehr lieben.«

»Ja«, sagte Hassa verschlafen. »Es war nicht leicht, der asiatischen Menge zu entfliehen. Sie sprachen wie ein Wasserfall.«

Er streckte die Hände aus und fühlte seltsam erregt den mageren und schmiegsamen Körper, der widerstandslos, schwach und durstend neben ihm lag. Er zog ihn an sich. Asiadehs Augen waren geschlossen, und der Mund lächelte.

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