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Das Zimmer war dunkel. Es lag im Parterre, und die beiden Fenster führten zum Hofe hinaus. In der Mitte des Zimmers stand ein linoleumbedeckter Tisch und drei Stühle. Von der Decke herab hing an langer Schnur eine ungedeckte Birne. An den Wänden, an die zerfetzten Tapeten gerückt, standen dicht nebeneinander ein Bett und ein Diwan. An der einzig freien Wand stand ein Schrank, dessen Tür mit Hilfe einer zusammengefalteten Zeitung zugehalten wurde. Daneben hingen einige vergilbte Photos. Achmed-Pascha Anbari saß am Tisch und verfolgte mit angestrengtem Blick die wohlvertrauten Muster der vergilbten Tapete.

»Ich bin krank«, sagte Asiadeh und setzte sich auf den Stuhl. Achmed-Pascha hob den Kopf. Seine kleinen, dunklen Augen blickten erschrocken. Asiadeh gähnte und reckte ihre schmalen Arme. Achmed-Pascha stand auf, richtete das Bett und Asiadeh rutschte aus dem Kleid. Sie saß am Rande des Bettes und erzählte fröstelnd und etwas verworren von der jakutischen Endung auf »a« und von dem fremden Mann, der ihr in den Hals schaute.

Achmed-Paschas Augen füllten sich mit Entsetzen.

»Du bist allein beim Arzt gewesen?«

»Ja, Vater.«

»Mußtest du dich ausziehen?«

»Nein, Vater, wirklich nicht.« Es klang sehr gleichgültig. Asiadeh schloß die Augen, ihre Glieder empfand sie wie Blei. Sie hörte Achmed-Paschas torkelnde Schritte und das Klappern von Silbermünzen. »Zitronen und Tee«, flüsterte Achmed-Pascha irgendwo hinter der Tür.

Asiadehs Wimpern zitterten. Unter halbgeschlossenen Lidern sah sie die vergilbten Photos an der Wand. Achmed-Pascha trug darauf einen goldbestickten Galarock, einen Schleppsäbel, einen ehrwürdigen Fes und Glacehandschuhe. Asiadeh atmete tief auf und spürte plötzlich den Staub der Galatabrücke und den Geruch von Datteln, die einst in der Ecknische ihres Zimmers am Bosporus trockneten. In der Ferne erklang ein leises Murmeln. Achmed-Pascha kniete auf dem staubbedeckten Teppich des Berliner Zimmers und seine Stirn berührte den Boden. Er betete leise und in sich versunken. Asiadeh sah die große runde Kugel der Sonne und die alte Mauer Konstantins an den Toren von Istanbul. Der Janitschar Hassan kletterte über die Mauer und hißte die Fahne des Hauses Osman auf der alten Zitadelle. Asiadeh biß sich auf die Lippe. An der Romanus-Pforte kämpfte Michael Paleologus, und Fati Mohammed ritt über die Leichen in die Hagia Sophia ein und preßte seine blutbefleckte Handfläche an die byzantinische Säule. Asiadeh hob ihre eigene Hand und preßte sie an den Mund. Ihr Atem war heiß und feucht, und sie sagte laut und energisch:

»Boksa!«

»Was hast du, Asiadeh?« Achmed-Pascha stand über ihr Bett gebeugt.

»Karagassischer Dativ für das dschagataische Bogus, Hals«, antwortete das Mädchen. Achmed-Pascha blickte besorgt drein und warf seinen Pelzmantel über ihre Decke.

Dann betete er weiter, und Asiadeh sah im wirren Wachtraum die schmalen Schultern des Sultans Wachdeddin, der durch das Spalier der Soldaten zum Freitagsgebet hinausfuhr. Kleine Boote kreisten am Tatly-Su, und die Zeitungen berichteten von den Eroberungen im Kaukasus, von den Siegen der Deutschen und von der großen Zukunft, die das Reich der Osmanen erwarte.

Jemand zupfte an ihren Haaren. Sie öffnete die Augen und sah Achmed-Pascha mit einem Glas in der Hand. Sie gurgelte eine übelschmeckende Flüssigkeit und sagte sehr ernst: »Gurgeln ist onomatopoetisch, das Ganze muß lautgeschichtlich erfaßt werden.« Dann sank sie in die Kissen zurück.

Sie lag auf dem Rücken, mit geröteten Wangen und geschlossenen Augen. Sie sah Steppen, Wüsten, wilde Reiter und den Halbmond über dem Palais am Bosporus. Dann wandte sie sich zur Wand und weinte lange und bitter. Ihre kleinen Schultern zitterten, und sie wischte mit dem Handrücken die Tränen ab, die über ihr Gesicht flossen. Alles ging zugrunde an dem Tage, an dem ein fremder General Istanbul besetzte und die ganze heilige Sippe Osman des Landes verwies. Damals warf Achmed-Pascha mit herrlicher Geste den Degen in die Ecke und weinte in dem kleinen östlichen Pavillon seines Konaks. Alle im Hause wußten, daß er weine, und alle standen an der Schwelle des Pavillons und schwiegen. Dann rief der Vater nach Asiadeh, und sie trat ein. Der Pascha saß auf dem Boden, und sein Gewand war zerfetzt.

»Der Sultan ist vertrieben«, sagte er und blickte zur Seite. »Du weißt — er war mein Freund und mein Gebieter. Diese Stadt ist mir fremd geworden. Wir ziehen weg. Weit weg von hier.«

Dann traten beide an das Fenster des Pavillons und blickten lange auf die trägen Wellen des Bosporus, auf die Kuppeln der großen Moscheen und auf die fernen grauen Hügel, hinter denen einst die ersten Scharen der Osmanen sich gegen Europa erhoben. »Wir fahren nach Berlin«, sagte Achmed-Pascha. »Die Deutschen sind unsere Freunde.«

Asiadeh trocknete die Tränen. Im Zimmer war es dunkel geworden. Vom Diwan kam das stille Atmen Achmed-Paschas. Sie erhob sich im Bett und blickte mit weit aufgerissenen Augen in die Ferne. Sie sehnte sich nach Istanbul, nach dem alten Haus, nach der weichen und milden Luft der Heimat. Zum Greifen nahe sah sie die Gebetstürme der Kalifenstadt, und eine stille Angst erfaßte sie. Alles war weg, alles verschwunden. Es blieben nur die weichen Klänge der heimatlichen Sprache zurück und die Liebe zu den wilden Sippen, die einst das Haus Osman hochtrugen.

»Großvater war Gouverneur von Bosnien«, dachte sie und entsann sich plötzlich, wie die Knie des Arztes ihre Schenkel berührt hatten. Sie schloß die Augen und sah seine schwarzen, etwas schräggestellten Augen. »Sagen Sie ›a‹«, sagte der Arzt, und um seinen Kopf schimmerte ein Heiligenschein:

»›a‹ ist die jakutische Form. Ich bin aber Osmanin. Wir sagen im Genetiv ›i‹«, antwortete Asiadeh stolz und schlief ein. Ihre Hand glitt dabei unter die Decke, und sie streichelte liebevoll ihre harten Schenkel.

Sie schlief, und Achmed-Pascha lag im Bett mit geschlossenen Augen, aber schlaflos. Er dachte an seine beiden Söhne, die hinauszogen, um das Reich zu verteidigen, und nicht mehr heimkehrten. Er dachte an die blonde Tochter, die einen Prinzen heiraten sollte und jetzt im Ozean der barbarischen Hieroglyphen erstickte. Er dachte an seine Brieftasche, die einhundert Mark enthielt, das gesamte Vermögen des Hauses Anbari, und gleichzeitig mit alldem dachte er an den Sultan, der in der Fremde saß und gleich ihm sich nach der weichen Luft Istanbuls sehnte.

Dann graute der Morgen. Achmed-Pascha kochte Tee, und Asiadeh wachte auf, setzte sich aufrecht im Bett und sagte stolz und selbstbewußt:

»Jetzt bin ich ganz gesund, Exzellenz.«

Die Luft im Café »Watan« in der Knesebeckstraße bestand aus Tabakqualm und Hammelfettduft. Der Besitzer war ein bebrillter indischer Professor, der im Rufe ungeheurer Weisheit stand und deswegen seine Heimat verlassen mußte. Sein Oberkellner hieß Smaragd, hatte eine lange Nase und den Rang eines bucharaischen Ministers. An den kleinen Tischen saßen ägyptische Studenten, syrische Politiker und die Prinzen der kaiserlichen Sippe der Kadscharen. Sie aßen Hammelfett und tranken aus winzigen Tassen duftenden Kaffee. Der Kaffeeschenk war ein Räuber aus den Bergen Kurdistans mit breiten Schultern und dichten zusammengewachsenen Augenbrauen. Er kannte achtzehn Arten der Kaffeezubereitung, aber entfaltete seine Kunst grundsätzlich nur vor kaiserlichen Prinzen, Gouverneuren und Stammeshäuptlingen.

Achmed-Pascha Anbari saß am Ecktisch und blickte in den dunklen Kreis der dampfenden Kaffeefläche. Am Nebentisch würfelte der Tscherkesse Orchan-Bei mit einem plattnasigen Priester der geheimnisvollen Sekte Achmedia.

»Wissen Sie, Exzellenz«, sagte der Caféwirt und verbeugte sich vor dem Pascha, »wissen Sie schon, daß Rensi-Pascha aus Jemen eingetroffen ist? Er sucht Generäle und Staatsleute für den Dienst des dortigen Imams.«

»Ich fahr’ nicht nach Jemen«, sagte Achmed-Pascha.

»Wie richtig«, meinte der Wirt gleichgültig, »die Jemeniten sind Ketzer.« Er verschwand hinter der Theke und klapperte mit den Tassen. Der Tscherkesse gewann das Würfelspiel, zündete sich eine Zigarette an und blickte auf den dicken Syrer am Nebentisch. »Schande«, sagte der Syrer, »ein Mensch, der an Gott glaubt, würfelt nicht.« Der Tscherkesse lutschte verächtlich an der Zigarette und wandte sich ab.

Ein Mann mit kahlem Schädel und trockenen knochigen Händen trat ein, blieb am Tisch Anbaris stehen und berührte mit der Hand Brust, Lippe und Stirn.

»Friede über Euch, Exzellenz. Wir haben uns lange nicht gesehen.«

Der Pascha nickte. »Sie kommen aus Istanbul, Reuf-Bei?«

»Ja, Exzellenz. Ich wurde bei Sacharia verwundet und bin jetzt bei der Zollverwaltung. Wir sahen uns zuletzt, als ich Abgeordneter war und Sie Chef des Privatkabinetts. Sie wollten mich damals verhaften.«

»Es tut mir leid, daß Sie fliehen konnten, Reuf. Was macht die Heimat?«

»Sie gedeiht, und am Goldenen Horn leuchtet die Sonne. Die Ernte war gut, und bei Ankara lag im Winter tiefer Schnee. Sie sollten zurückkehren, Exzellenz. Reichen Sie ein Gnadengesuch an die Regierung ein.«

»Danke. Ich bin im Begriff, mich an einer Teppichhandlung zu beteiligen. Ich brauche niemandes Gnade.« Der Fremde ging, und die Augen Anbaris wurden traurig. Er dachte an seine unbezahlte Miete, an den Wohnungswirt, der ihn für einen levantinischen Schieber hielt, an den Vetter Kjasim, der nach Afghanistan floh und Geld zu schicken versprach, an den anderen Vetter Mustafa, der zum Feinde überging und die Briefe unbeantwortet ließ, und an die blonde Asiadeh, die im dünnen Regenmantel durch das herbstliche Berlin lief und krank wurde.

Dann rauchte er, und Smaragd kassierte das Geld ein und setzte sich an seinen Tisch. »Sehr schlecht, Exzellenz, kalt und arm«, sagte er in seinem kaum verständlichen Dialekt. »In Buchara Krieg. Ich wieder Minister.« Er lachte, aber seine Augen blieben traurig.

In der Ecke legte ein Perser die Hand an das linke Ohr und sang leise und gedehnt eine alte Bajat. Der Inder saß hinter der Theke und sprach mit dem Priester der Achmedia über das wahre Wesen Gottes. Sie stritten heftig. Achmed-Pascha senkte den Kopf und dachte, daß er wirklich in ein Teppichgeschäft eintreten könnte als Fachmann und Ratgeber der unwissenden europäischen Sammler. Er seufzte und fühlte einen leichten Schmerz in der linken Seite. Er liebte diesen Schmerz als die letzte Erinnerung an die Wunde, die er vor Jahrzehnten aus dem arabischen Feldzug mitbrachte.

Der Tscherkesse am Nachbartisch surrte eine Melodie und lächelte abwesend. »Ich möchte Klavierspieler im Restaurant Orient werden, Exzellenz«, sagte er halb fragend, denn die herrlichen Berufe seiner Ahnen, Raub und Krieg, waren ihm jetzt verschlossen. Seine Ahnen kamen einst in kriegerischen Scharen zum Hofe der Osmanen, und er war zum Herrschen und Befehlen geboren. Doch war die Vergangenheit dunkel und verschwommen wie hinter einer Mauer von wirbelndem Wüstensand. Die Gegenwart lag auf dem Pflaster Berlins, und der Tscherkesse konnte nur zweierlei — befehlen und musizieren. Das Befehlen war sichtlich aus der Mode geraten.

Am Tisch, an dem die vertriebenen kadscharischen Prinzen saßen, ertönte stilles Flüstern. »Bitter ist das Brot der Verbannung«, sagte einer.

»Nein«, antwortete ein anderer. »Gar nicht bitter. Das Land der Verbannung backt überhaupt kein Brot für den Verbannten.«

Achmed-Pascha erhob sich. Er verließ das Lokal und ging langsam und gesenkten Hauptes durch die Straßen der fremden Stadt. Die Häuser glichen fremden unbezwingbaren Festungen. Die Menschen eilten vorbei, als wären sie graue Gespenster. Schweigsam ging der Pascha durch die lärmende Stadt und hörte nichts von ihren Geräuschen. »Ich werde Kartoffeln kaufen«, dachte er. »Und Tomaten dazu. Ich werde sie zusammenmischen. Das ergibt einen guten Brei.«

Am Wittenbergplatz blieb er stehen. Die Fassade des großen Kaufhauses war von schrägen Sonnenstrahlen übergossen. Der Pascha sah fremde Frauen mit schimmernden Seidenstrümpfen. Asiadeh hatte keine Seidenstrümpfe. Die Frauen gingen vorbei mit abwesenden und leeren Augen. Plötzlich beschleunigte der Pascha seinen Schritt und bog in eine Seitenstraße ein. Über die Tauentzienstraße ging ein dicker braungebrannter Mann mit einem fetten Nacken. Achmed-Pascha blickte weg mit verzweifelten und müden Augen. Es war bitter, daß ein kaiserlicher Minister in die Seitengasse biegen mußte, weil er einem reichen Landsmann fünfzig Mark schuldig war. Ihn erfaßte ein schmerzlicher Wunsch zu raufen, um sich zu hauen und zu kämpfen. Er sehnte sich nach einer dunklen Straße und nach einem fremden Mann, der ihn plötzlich stoßen würde, um darauf eine Ohrfeige zu erhalten. Aber die Straßen waren hell, die Menschen traten höflich und teilnahmslos zur Seite, und er kaufte Kartoffeln, Tomaten und Rettich. Dann ging er nach Hause zu dem vierstöckigen Haus mit der ehrbaren grünlich-saubern Fassade und der Marmortür mit der Aufschrift »Eingang nur für Herrschaften«. Er mied den vornehmen Eingang und benutzte die kleine Tür, die schlundartig neben der Marmorpracht des Haupteinganges gähnte. Er durchschritt den viereckigen Hof mit den schwindsüchtigen Bäumen und blieb an der abgebrochenen Türklinke seiner Wohnung stehen. Er öffnete sie und betrat den Korridor, der zum Wohnzimmer führte. Asiadeh saß auf dem Diwan, hielt einen Zwirn zwischen den Zähnen und stopfte hingebungsvoll einen Strumpf. Auf dem Stuhl vor ihr lag ein ausgebreitetes Buch, und sie surrte unverständliche barbarische Sätze.

Achmed-Pascha schüttete Tomaten und Kartoffeln auf den Tisch aus, Asiadeh sah die roten, runden Kugeln, die sich mit den braunen nach Erde riechenden Klumpen vermischten, und klatschte in die Hände vor Vergnügen, Übermut und unerklärlichem Glücksgefühl.

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