Im Ringcafé raschelten die Zeitungen. Der runzlige Ober erkannte Hassa zuerst. Er grüßte und rief dem Kellner zu:
»Einen Fiaker und die ›Medizinische Wochenschrift‹ für den Herrn Doktor, wie immer!«
Dann blieb er in gebückter Haltung vor dem Marmortisch stehen. »Schon wieder daheim?« sagte er, obwohl dieses offensichtlich war.
»Ja«, antwortete Hassa, »und verheiratet.«
»Herzliche Glückwünsche, Herr Doktor. Die gnädige Frau soll eine Ausländerin sein?«
»Ja, eine Türkin.«
Der Ober nickte, als ob es ganz selbstverständlich wäre, eine Türkin zu heiraten. Er erzählte weitschweifig, daß sein Bruder im Kriege unten in der Türkei gewesen war und daß die Türken auch Menschen seien. Dann brachte er einen Stoß Zeitungen.
Hassa blätterte zerstreut. Draußen auf dem Ring leuchtete die Sonne. Damen mit kleinen Hunden gingen über die Straße und blickten siegessicher um sich. Die Baumäste hingen über den Ring, und das dunkle Gebäude der Oper glich einer Festung.
Die Türen des Kaffeehauses öffneten sich. Menschen kamen herein, schauten sich um und traten mit freudig ausgestreckten Händen an Hassas Tisch.
»Servus«, sagten die Menschen und setzten sich. Hassa drückte die ausgestreckten Hände, und die Freude der Rückkehr überkam ihn. Da saßen sie — die Menschen, die man einen Kreis nannte und die durch eine geheimnisvolle Fügung des Schicksals dazu bestimmt waren, um Hassa zu sitzen, sich mit ihm zu unterhalten, ihn einzuladen, ihn nett oder unausstehlich zu finden und sein Leben mit der tatenlosen Neugierde der Zuschauer zu verfolgen. Dr. Halm war da, der Gynäkologe, der weißhaarige Matuschek, der Erfinder einer berühmten, aber wirkungslosen Diät, der Orthopäde Sachs, der nur im Winter, in der Skisaison, Praxis hatte, der Chirurg Matthes, mit langen Beinen und einer Vorliebe für chinesische Malerei, und der Nervenarzt Kurz, der ein Sanatorium leitete und die Liebe für eine Gefäßerkrankung hielt.
Die Freunde saßen am Tisch und stellten Fragen, die sich durch nichts von den Fragen des Kellners unterschieden. Dann schüttelten sie halb zustimmend, halb besorgt die Köpfe, und jemand sagte entgeistert und neiderfüllt:
»Eine Angorakatze hast du also geheiratet, du Sodomit, du.«
Hassa nickte und hatte das Gefühl, in einen reigenhaften Traum versunken zu sein, denn die Worte klangen, als hätte er sie schon einmal in einer anderen unwirklichen Welt gehört und beantwortet.
Der Marmortisch bedeckte sich mit Kaffeetassen. Aus einem halb verschütteten Wasserglas floß über die Marmorplatte ein schmaler Wasserstreifen. Er bildete Buchten und Seen, dehnte sich aus und verlief sich unter der Tasse des Dr. Kurz.
Hassa erzählte von dem Schwiegervater, der ein Pascha war und jetzt ein großes Teppichgeschäft leitete, und von dem Palais am Bosporus, das er, für sich selber unerwartet, plötzlich genau zu kennen glaubte. Er zählte die seltsamen Disziplinen auf, die seine Frau studiert hatte, und erzählte etwas zaghaft von der wundersamen Rettung des weltberühmten Derwischs Ali-Kuli aus Sarajewo.
Der Tisch hörte entgeistert und neiderfüllt zu. Erst als das Wort »Hypophysentumor« fiel, klärten sich die Gesichter auf, und die Gedanken bekamen eine sachliche und berufliche Richtung.
»Ich hatte neulich einen Fall«, sagte Dr. Kurz, als ob ein Hypophysentumor nichts wäre. »Der Kommerzienrat Danski erkrankte am nervösen Schnackerl. Er schnackerlte drei Tage ununterbrochen. Was tut man da?«
Er verstummte und blickte überheblich um sich.
»Den Kopf eine halbe Stunde unter Wasser halten und den Atem anhalten. Hilft bestimmt«, sagte der Chirurg mit der Roheit seines Standes.
»Eis schlucken«, meinte der Orthopäde und dachte an die Eisgletscher in der Skisaison.
»Ich versuchte Hypnose«, setzte Dr. Kurz fort. »Und stellt euch vor, der Mann erwachte aus der Hypnose und schnackerlte weiter.«
»Du solltest Professor Saäm rufen«, sprach Hassa teilnahmsvoll. »Ich habe gehört, daß er ein sicheres Mittel gegen das Schnackerl kennt.«
Die Ärzte rückten aneinander. Kurz sprach etwas vom psychischen Schock. »Eine vasomotorische Störung des Zwerchfells«, sagte Matuschek leidenschaftlich und laut. An den Nebentischen sah man sich um. Der alte Ober stand an einer Marmorsäule und blickte zufrieden auf den Ärztetisch. »Ein wissenschaftliches Gespräch«, dachte er. »Wir sind ein besseres Kaffeehaus.«
»Ihr solltet Nachhilfekurse für medizinische Ignoranten besuchen«, sagte der Gynäkologe Halm. »Ihr habt verlernt, theoretisch zu denken. Es ist einfach eine Reizung der Diafragma. Und was regiert die Diafragma? Der Nervus sympathicus. Ha! Ha! Habt ihr schon was vom Lucus cisylbachi gehört? Na also. Da habt ihr es. Da gibt es nur eins…«
Er beendete den Satz nicht. Am Tisch stand ein blondes Mädchen und blickte mit erschrockenen Augen auf die streitenden Wissenschaftler und auf die Buchten und Seen, die sich unter der Tasse des Dr. Kurz verliefen.
»Ich bin Asiadeh«, sagte das Mädchen, und der schnackerlnde Kommerzienrat verschwand in den Abgründen des medizinischen Wissens. Die Ärzte sprangen auf. Asiadeh drückte die fremden Hände. Sie blickte verstohlen zu Hassa, der kurz und unmerklich mit den Wimpern nickte. Ja, das waren also die Männer, deren Hände sie drücken und deren Fragen sie beantworten mußte, die jene geheimnisvolle Welt darstellten, in der Hassa lebte.
»Ja«, sagte sie zerstreut und setzte sich hin. »Wien ist eine sehr schöne Stadt.« Die Ärzte sahen sie neugierig an, sie stellten Fragen, und Asiadeh beantwortete sie folgsam und geduldig. Die fremden Männer lächelten, und ihre Gesichter verzogen sich dabei in seltsame Grimassen. Sie blickten auf Asiadeh, sahen ihre grauen Augen, die kurze Oberlippe und den unbeholfenen Gesichtsausdruck, und die Welt erschien ihnen lebenswert und schön, voll lockender Geheimnisse und Rätsel, die so ganz anders waren als das rätselhafte Schnackerl des Kommerzienrats Danski.
»Wir fahren abends zum Heurigen«, sagte Dr. Kurz, denn er war ein sensibler Mann voll Verständnis für Frauenseelen. »Sie waren noch nie beim Heurigen, gnädige Frau?«
»Nein, aber ich weiß, was das ist. Es liegt in Grinzing. Wenn die Sonne sinkt, gehen die Menschen in die Weingärten und singen Lieder.«
»Beinahe richtig«, lobte Kurz, und die Männer nickten. Ja, sie wollten heute alle zum Heurigen, zu den grünen Weingärten der Vorstadt, zu den engen Gassen und uralten kleinen Häusern, die die niedrigen Hügel bedeckten und vom milden Mond beschattet waren. Sie erhoben sich. Rasch nach Hause! Ein Blick in die Ordination, ein Krankenanruf, ein kurzes Gespräch mit Frau oder Freundin und dann ins Auto, die holprige Straße hinauf zu der nächtlichen Stille der alten Weinberge.
»Gut«, sagte Asiadeh. »Zum Heurigen.« Sie stand neben Hassa, schlank, fremd und still. Hassa reichte ihr den Arm. Sie gingen zur Tür, und die Gäste des Kaffeehauses blickten ihnen nach.
»Es juckt«, sagte Asiadeh auf der Straße und bewegte die Schulter.
»Was juckt?«
»Die Blicke. Die Männer sehen mich an, als möchten sie mich küssen.«
»Vielleicht wollen sie es in der Tat.«
Asiadeh stampfte mit dem Fuß.
»Schweig!« sagte sie zornig. »So spricht man nicht mit seiner Frau. Komm. Komm zum Heurigen.«
Glasverhüllte Kerzen erhellten lange grüne Tische. Die Äste der Bäume hingen über den Tischen und glichen erstarrten Gespenstern. Durch den Garten gingen Mädchen in bunten Röcken und trugen Weinkrüge auf breiten Brettern. Die Gesichter der Menschen, vom flackernden Lichte der Kerzen erhellt, waren rötlich. Leichter, warmer Wind kam vom Weinberge. Menschen saßen an den langen grünen Tischen, wie aufgelöst im wilden Schein des zunehmenden Mondes. Etwas Abgeklärtes und gleichsam Heidnisches lag über dem Garten, als vollzöge sich hier ein uraltes Ritual, ein Gebet des Menschen an die Gnade der Rebe.
Die Krüge leerten sich. Tische und Bäume kreisten vor den Augen der Menschen. Glückseliges Lachen ertönte. Linien und Formen verschoben sich, und auf dem weichen Grase des Gartens zeichneten sich die flatternden Schatten des ewigen Dionysos. Die Menschen schienen von attischer Lust ergriffen zu sein. Der stille Garten glich plötzlich einem antiken Tempel, in dem glasverhüllte Kerzen zu Ehren der unsichtbaren Gottheit angezündet waren. In der Ferne ertönte ein Lied. Eine Frauenstimme sang leise und wehmütig. Die einzelnen Worte versanken im Fluß der zitternden Töne. Die Menschen stützten die Köpfe mit den Händen und schienen im traurigen Klang der Töne einen geheimnisvollen Widerhall ihrer eigenen Träume, Gedanken und Sehnsüchte zu vernehmen. Ein dicker Mann saß allein an einem alten Baum. Sein Gesicht schien der Welt des irdischen Leides zugewandt. Er schluchzte und glich plötzlich selbst einem Baumast, der sich geheimnisvoll vom Stamm losgelöst hatte, um für eine Nacht im Mysterium der nächtlichen Feier aufzugehen.
Frauen und Mädchen saßen umarmt und leutselig. Sie sangen, und die Mädchen brachten Krüge mit hellem und duftendem Wein…
Asiadeh saß auf dem harten Brett zwischen Hassa und Dr. Kurz. Ärzte und Frauen umgaben sie, und sie konnte sich in den verwirrenden Klängen ihrer Namen nicht zurechtfinden. Aber ohne Namen, ohne Fragen wußte sie sofort und genau, welche Frau zu welchem Mann gehörte, wer einander mit dem Blicke eines Besitzers oder der galanten Neugierde eines Fremden anblickte… Gespannt musterte sie die geröteten Gesichter der Frauen, die blonden, schwarzen und rötlichen Köpfe, die sich über den Tisch beugten und die duftenden Krüge zum Munde führten.
»Trinken Sie doch«, rief ihr jemand zu, und sie schüttelte lächelnd den Kopf. Es waren alles nette Menschen, aber trinken konnte sie nicht. Sie nippte an einem Glas Wasser und sagte freundlich:
»Ich trinke keinen Wein. Wissen Sie, die Religion verbietet es mir. Aber Sie haben doch so gutes Wasser. Das beste von Europa.«
Sie trank, und das Mädchen im bunten Rock stellte dicke Scheiben von Wurst, Schinken und Brot auf den Tisch. Asiadeh sah das weiße Fett, das blasse und rötliche Fleisch und fühlte ein leichtes Sausen in ihren Ohren.
»Ist es Schwein?« sagte sie vorsichtig, und die Menschen nickten und aßen.
Sie öffnete den Mund und schnappte erschrocken nach Luft. Das war der Augenblick, den sie erwartet hatte und vor dem sie sich immer fürchtete. In Europa aß man Schweine. Sie hatte noch nie im Leben ein lebendes Schwein gesehen und wußte nicht, wie das Fleisch schmeckte. Aber in ihrem Blut, in ihren Adern, in ihren Nerven lebte eine dunkle und uralte Angst, ein Haß und ein Ekel vor dem Fleisch, das Gott dem Muslim verboten hatte.
Sie knabberte vorsichtig an einem Stück Brot, und eine blonde Frau, die zu Dr. Matthes gehörte, sah sie mitleidsvoll an:
»Ist es nicht langweilig, hier zu sitzen, ohne zu essen und ohne zu trinken?«
»Nein, danke, es ist ein so schöner Garten.«
Die fremde Frau lächelte. Sie hatte blonde Haare und rote schmale Lippen.
»Haben Sie viele Kinder?« fragte Asiadeh, denn sie wollte nett zu der fremden Frau sein.
Die Blonde sah sie verständnislos an.
»Kinder? Überhaupt keine!«
»Oh«, lachte Asiadeh und war auf einmal sehr vergnügt. »Sie sind auch ganz jung verheiratet?«
Die Frau lachte und schien sehr froh zu sein.
»Alles in allem zehn Jahre, aber mit drei verschiedenen Männern. Ich bin schon zweimal geschieden.«
Asiadeh neigte den Kopf zur Seite und wurde ganz rot. »Aha«, stammelte sie. »Ich verstehe, ja, natürlich.«
Sie leerte das Wasserglas und sah die Frau mitleidsvoll an. Die Arme bekam keine Kinder.
Das zarte rötliche Mädchen, das neben Dr. Sachs saß, sah sie lächelnd an. »Essen Sie Käse«, sagte sie und reichte Asiadeh eine Scheibe. Es schien eine nette und stille Frau zu sein, aber man sollte die Europäerinnen nicht nach Kindern fragen.
»Haben Sie viel mit dem Haushalt zu tun?« fragte Asiadeh, denn es war eine harmlose Frage, die nicht verletzen konnte.
»Nein«, sagte das Mädchen. »Den Haushalt führt die Mutter.«
»Aha, Ihre Mutter lebt bei Ihnen.«
Asiadeh sah Dr. Sachs anerkennend an. Nur ein sehr guter Mann nahm die Schwiegermutter mit ins Haus.
»Nein, die Mutter wohnt nicht bei mir. Ich wohne bei der Mutter.«
Asiadeh verstand nicht ganz. Vielleicht waren diese Menschen betrunken. Wein konnte Wunder vollbringen.
»Und Ihr Mann erlaubt es?«
Da lachten alle und sprachen durcheinander und heiter. Asiadeh verstand nicht alles, aber so viel verstand sie, daß von den vier Frauen, die geschminkt und lächelnd am Tisch saßen, nur zwei verheiratet waren, dafür aber schon mehrmals.
Die Rothaarige sah Asiadehs verstörtes und verzweifeltes Gesicht und beugte sich zu ihr. »Man kann sich doch gern haben, ohne verheiratet zu sein. Nicht wahr?«
Asiadeh nickte. Solches kam in der Tat vor, aber es war unmöglich, sich gern zu haben, ohne die Absicht zu haben, Kinder zu bekommen. Das war ganz unmöglich. Das mußten erwachsene Menschen doch wissen.
Die erwachsenen Menschen tranken. Hassa lachte und seine Hand glitt über Asiadehs Knie. Entsetzt prallte Asiadeh zurück. Der Garten war kein Ehebett, aber vielleicht war Hassa betrunken, das kam bei Europäern vor, und sie konnten dann nichts dafür.
Die vier fremden Frauen, die viele Männer, aber keine Kinder hatten, lachten schrill, und Asiadeh verstand plötzlich, daß es ganz gleichgültig sei, ob sie verheiratet waren oder nicht.
»Ich komme gleich«, flüsterte sie Hassa zu. Sie lief durch den Garten an den langen Tischen vorbei. Sie stieß sich an einem Baumast und fühlte sich einsam und gottverlassen in dem Labyrinth der trunkenen Gäste.
Sie trat auf die stille Straße. Die Menschen im Garten waren wie Larven aus einem bösen Traum. Frauen wie diese gab es in dem Verbrecherviertel Tatawla oder in den trunkenen Gassen Galatas, aber es gab dort keine Männer, die Herren über den Tod waren und dennoch keine anderen Frauen finden konnten. Ein dumpfer Schmerz erfüllte Asiadeh. Sie ging durch die lange Reihe der parkenden Autos und fand Hassas Zweisitzer. Sie stieg ein und verkroch sich im weichen Leder. Die Straße war dunkel und geheimnisvoll, gleich dem Leben dieser Menschen, die freundlich und fremd waren, wie Schatten aus einer fremden unerreichbaren Welt.
Asiadeh blickte in die Ferne, in die dunklen Umrisse der Weinberge. Von weit her kam Gesang. Sie vernahm die Anfangsworte des Liedes:
»Ich komm aus Grinzing und bring einen winzigen Affen nach Haus.«
Die Worte waren geheimnisvoll und unverständlich, wie alles in dieser fremden Stadt. Irgendwo mußte das wahre Gesicht dieser Welt verborgen sein. Irgendwo sprangen über die Äste Grinzinger Affen, die zahm und zart waren und die man nach Hause bringen konnte. Sie sah sich um. Es war kein Affe zu sehen. Tiefe Trauer überkam sie. Der Geruch des Weines und des fetten Fleisches verfolgte sie. Sie war plötzlich von einer seltsamen Schwäche ergriffen und legte den Kopf auf das Polster. So fand sie eine halbe Stunde später der erschrockene Hassa. Verschlafen streckte sie ihm die Hände entgegen und flüsterte:
»Hassa, ich habe mich verlaufen und fürchtete mich vor den Affen. Nimm mich in Schutz, Hassa.«