Als ich den hier vorliegenden Text zum ersten Mal zu lesen begann, war mir der Name Kurban Said gänzlich unbekannt. Ich ging von der Annahme aus, es handle sich um einen Exil-Osmanen, der sich mit einer nostalgischen Romanze einige Pein von der Seele geschrieben hatte. Doch schon auf der ersten Seite wurde ich stutzig, im Ton und im Rhythmus der Sätze schwang etwas mit, das mich aufhorchen und sofortige Nachforschungen anstellen ließ. Die Stimme, das Timbre waren mit Sicherheit nicht die eines orientalischen Literaten, es klang eine andere, mir viel vertrautere Sensibilität durch, die mitunter leicht expressionistische Nachklänge hatte. Meine Suche wurde auch nicht enttäuscht; was ich in der Folge über den Schriftsteller Kurban Said erfuhr, war für mich fast noch ergreifender als die Bücher, die ich von ihm las.
Ganz sicher weiß man es nicht, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit kam Kurban Said am 20.10.1905 in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, zur Welt und verstarb am 27.8.1942 in Positano, in Süditalien. Er starb somit kurz vor Vollendung seines siebenunddreißigsten Lebensjahres. Der Bericht seines kurzen Lebens liest sich wie eine einzige unausgesetzte Reiseunternehmung, dennoch verfaßte er innerhalb eines Jahrzehnts (1929–1938) sechzehn Bücher in deutscher Sprache, davon vierzehn Sachbücher und zwei Romane sind. Daneben schrieb er Aufsätze, Artikel und Rezensionen für Zeitschriften, unternahm Vortragsreisen und hielt Lesungen. Es muß auch lyrische Arbeiten in anderen Sprachen geben, in Russisch und Türkisch, sowie einen letzten, bisher unveröffentlichten Roman, der die eigentliche Autobiographie sein dürfte.
›Kurban Said‹ wurde allerdings nicht als Kurban Said geboren, sondern als Leo Noussimbaum oder Lev Abramovic Nüssenbaoum, der Sohn des Abraham Noussimbaum, eines zu Ölreichtum gelangten Unternehmers aus Tiflis (Tblisi), Georgien. Über die Mutter ist nicht viel bekannt, sie starb entweder kurz nach der Geburt ihres Sohnes oder in seinen ersten Lebensjahren. Wie seiner (vorläufigen) Autobiographie zu entnehmen ist, war sie eine russische Intellektuelle, die wegen revolutionärer Umtriebe im zaristischen Gefängnis gelandet war, aus dem sie der ältere Noussimbaum freikaufte. Der Knabe wurde von einer baltischen Amme, Alice Schulte, aufgezogen und sprach seit frühester Kindheit Deutsch. Als mutterloser Sohn war er der verzärtelte Mittelpunkt der Familie und wuchs in einem gut gepolsterten Milieu von Wohlhabenheit und kulturellem Kosmopolitismus heran. Schon als Kind sei er jedes Jahr in den Sommerferien nach Europa gereist, schrieb später Essad Bey. Die Region Transkaukasien, das Land Aserbaidschan bilden eine Wegscheide zwischen Europa und Asien, es mischen sich dort die Kulturen des Ostens und des Westens, und es kreuzte sich dort Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein verwirrendes Flechtwerk politischer Interessen. Schon seit Jahren ein Unruheherd, wurde es nach der Ermordung der Zarenfamilie und dem Toben der roten und weißen Armeen in Rußland auch im transkaukasischen Nachbarland ungemütlich für die ›kapitalistische‹ Unternehmerklasse, der die Noussimbaums angehörten, so daß 1917 Vater Noussimbaum mit seinem etwa zwölfjährigen Sohn Lev übers Kaspische Meer floh. Ihr Fluchtweg führte sie durch Turkmenien und Usbekistan bis nach Buchara und Samarkand und zurück durch Tadschikistan und Persien. Nach einem Jahr fiel die bolschewistische Herrschaft in Baku, und alliierte Truppen (türkische und deutsche, und anschließend britische) sorgten für eine vorübergehende Wiederherstellung der alten Ordnung. Noussimbaum, Vater und Sohn, waren in ihre Pfründe zurückgekehrt, erlebten noch ein Rachemassaker (der Aserbaidschaner an den Armeniern) und mußten zwei Jahre später, im Frühjahr 1920, schon wieder die Flucht vor den Bolschewiken ergreifen, diesmal nach dem Westen. Der erste Zufluchtsort war Georgien, doch angesichts der unaufhaltsam nahenden Sowjetmacht entflohen sie per Schiff entlang der Schwarzmeerküste nach Istanbul. Dort scheint sich der nun fünfzehnjährige Leo entschlossen zu haben, Muslim zu werden, und so beginnt seine Verwandlung in ›Essad Bey‹ (Essad = Asad = Lev = Leo = Löwe). Die Familie flieht weiter über Rom und Paris und gelangt schließlich um 1921 nach Berlin.
Das Berlin der zwanziger Jahre stand im Zentrum der großen Bewegungen, die durch die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die der Erste Weltkrieg nach sich zog, ausgelöst wurden. Hierher ergoß sich ein Strom von Flüchtenden und heimatlos Gewordenen aus vielen Ländern, vornehmlich von Osten kommend. Durch die Zusammenbrüche der großen kaiserlichen Dynastien Europas und des Nahen Ostens entmachtet, trieben entwurzelte, abgedankte Hoheiten und Würdenträger untergegangener Reiche in den bitteren Gewässern des Exils, Verfolgungsopfer des Krieges und der Revolution liefen hier an Land. Berlin wurde zum Anlaufpunkt und Durchgangslager für viele, denen keine Rückkehr möglich war. Das eben neu errichtete (Weimarer) Staatsgebilde hatte mit der Abschaffung der Zensur ein entsprechend aufgelockertes Klima geschaffen, ein gewissermaßen rauschhaftes Potential war entfesselt worden. In diesem versammelte sich eine künstlerische Avantgarde, die etwa für ein Jahrzehnt ihre Schaffenslust und Experimentierfreude (u. a. mit neuen Medien) austoben konnte. Die Stadt wurde zum Fluchtpunkt für viele Künstler wie auch für andere Randfiguren der bürgerlichen Gesellschaft. Als Hauptstadt der Republik war Berlin die einzige echte moderne Großstadt Deutschlands mit all der Abgründigkeit und den Verlockungen, die einem solchen Gebilde eigen sind. Krasse soziale Gegensätze, moralische Abgründe, steiler Aufstieg, jäher Absturz: ein Berlin der großen Boheme, ebenso voll von Flittergold wie von echten Kronjuwelen, das wahre Pendant zu Paris. Ein ausgelassener Tummelplatz, ein erotisches Babel, zog die Stadt damals magnetisch viele Menschen an, deren Namen zu den großen des Jahrhunderts zählen. Ein kurzes, heftiges Aufblühen, das bereits den Keim des Welkens in sich barg.
In diesem Berlin ließ sich der junge Leo = Essad Bey nieder, besuchte zunächst die russische Oberschule, dann das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen. Im August 1923 wird er zum Studium an der Friedrich-Wilhelm Universität zugelassen und belegt das Fach islamische Geschichte. Bis 1925 dauert sein Studium. 1926 erscheint sein erster Artikel in der Wochenschrift ›Die Literarische Welt‹, und somit beginnt seine Karriere als freier Schriftsteller. Die nächsten drei Jahre schreibt er vorwiegend Artikel und Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften über Sowjetrußland und den islamischen Orient, und bahnt sich seinen Weg in den deutschen Literaturbetrieb hinein. 1929 erscheint sein erstes Buch, »Blut und Öl im Orient«, eine blumig fabulierende Quasi-Autobiographie, die, wenn sie auch nicht immer unbedingte Faktentreue aufweist, doch im Kern wahrhaftig bleibt. Das Buch rief seinerzeit heftige und widersprüchliche Reaktionen hervor.
Schon 1922 war Essad Bey als Gründungsmitglied der »Islamischen Gemeinde zu Berlin« beigetreten und wurde später Mitglied des »Islam Instituts«. In diesen Vereinigungen trafen sich Muslime aller Schattierungen aus aller Herren Länder, und für Essad Bey wurde diese Gemeinschaft auch zu einer Art Studienplatz. Er selbst stilisierte sich zunehmend als Orientale: mal trat er im kaukasischen Kriegergewand auf, mal mit juwelenbestücktem Turbanschmuck. Er machte sich nicht unbedingt beliebt mit seinem spielerischen Rollenwechsel und seinen Verwandlungskunststücken und wurde sowohl von der deutschen Kritik als auch von den ›echten‹ Orientalen als Betrüger und Scharlatan bezeichnet. Die Kritik an seinem Buch »Blut und Öl« bekam in Deutschland bereits stark antisemitische Färbung, und die assimilationsbedürftigen muslimischen Mitbrüder, die sich durch das Buch wohl teils in ihrem Nationalstolz beleidigt fühlten, teils es als Diskreditierung vor einem westlichen Publikum empfanden, warfen ihm vor, kein echter Muslime zu sein. Die Fachwelt verwarf ihn als ›Dilettante‹. Essad Bey scheint aber diese Attacken eher als wirksame Reklame für sich und sein Buch gewertet zu haben, er ließ sich zumindest dadurch nicht von der Arbeit an weiteren Büchern abhalten. Bis 1938 hatte er noch fünfzehn weitere Werke verfaßt, u. a. eine Biographie von Stalin, eine des letzten Zaren, des Schahs von Persien, und des Propheten Muhammed. Er schrieb über Rußland und den sowjetischen Geheimdienst, eine Geschichte der Weltölindustrie, vom »Niedergang und Aufstieg der islamischen Welt«, und außerdem seine beiden Romane. Seine Bücher wurden sehr rasch in verschiedene Sprachen übertragen und fanden im Ausland schnell Anerkennung und Wertschätzung.
1932 heiratete Essad Bey eine deutsch-jüdische Lyrikerin, Erika Renon, die ihn auf zwei Vortragsreisen durch Amerika begleitete. Sie verließ ihn aber schon 1935 und folgte ihren nach USA ausgewanderten Eltern. Die Ehe wurde 1937 geschieden, was anscheinend in der amerikanischen Boulevardpresse Schlagzeilen verursachte. Essad Bey unternahm auf Einladung noch eine dritte Reise nach Amerika, und danach soll er eine ausgedehnte Orientreise angetreten sein, die ihn über Nordafrika, Ägypten, die Arabische Halbinsel und den Iran bis an die Tore Indiens führte.
Mit dem Machtantritt der Nazis fegte ein eisiger Wind durch die Reihen der Berliner Boheme, viele helle Köpfe spürten den Gifthauch früh genug und suchten schon in den Anfangsjahren das Weite. Die ›Szene‹ verödete allmählich. So übersiedelte Essad Bey 1933 nach Österreich, wo es noch für ein paar Jahre gemütlichen zuging. Die Wiener Kaffeehauskultur und Literaten-Cliquenwirtschaft entsprach seinem Naturell recht gut, er wurde gut aufgenommen und schnell bekannt, und die zynisch-melancholische Atmosphäre der einstigen Kaiserstadt wird ihm sehr entgegengekommen sein. Er blieb hier bis zum österreichischen Anschluß ans Reich im Jahre 1938. Hier traf er mit vielen heute noch bekannten Exil-Literaten zusammen, u. a. mit Max Brod, Joseph Roth, Franz Werfel, Robert Neumann, Elias Canetti und Wolfgang von Weisl (mit dem gemeinsam er sein letztes Sachbuch »Allah ist groß« verfaßte). Vor allem aber traf er hier den Freund seiner Seele, Umar Rolf von Ehrenfels und wurde vertraut mit dessen Familie.
Die Familie derer von Ehrenfels bewohnte seit Jahrhunderten ein Schloß Lichtenau im Waldviertel, unweit von Wien und doch entlegen wie im Märchenwald. Baron Rolf Umar von Ehrenfels war Völkerkundler und in den zwanziger Jahren zum Islam übergetreten, ein weitgereister und in der islamischen Welt bewanderter Mann. Er hatte in Wien den ›Orient-Bund‹ für afro-asiatische Studenten gegründet, den Essad Bey anscheinend frequentierte. Mit ihm und dessen Frau Elfriede verband Essad Bey eine tiefe und bleibende Freundschaft. Elfriede aus dem Nachbarschloß Bodmershof hatte ihrerseits auch literarische Ambitionen und bereits einige kleinere Arbeiten unter Pseudonym veröffentlicht.
Als Essad Bey im April 1935 aufgrund seiner nun bürokratisch verbuchten jüdischen Herkunft aus dem ›Reichsverband Deutscher Schriftsteller‹ und der ›Reichsschrifttumskammer‹ ausgeschlossen wurde, war es ihm nicht mehr möglich, in Deutschland zu publizieren. Seit Hitlers Machtergreifung, 1933, mußten auch in den anderen deutschsprachigen Ländern, d. h. die Schweiz und Österreich, verlegte Bücher an der deutschen Zensur vorbeigeschmuggelt werden, was an Relevanz gewinnt, wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der österreichischen Verleger (wie auch ihre Autoren) Juden waren. Die betroffenen Verlage bedienten sich umwegiger Lösungen, indem unverdächtige Drittländer mit in den Herstellungsprozeß einbezogen wurden (wie etwa Holland oder Schweden). Es gab für jüdische Autoren auch die Möglichkeit, Pseudonyme zu verwenden, von welch letzterem Mittel Essad Bey Gebrauch gemacht zu haben scheint, denn seine beiden letzten Bücher, die Romane »Ali und Nino« und das vorliegende »Das Mädchen vom Goldenen Horn« gaben den Namen des Autors mit ›Kurban Said‹ an.
Der Anschluß Österreichs ans Reich im Jahre 1938 und die Einführung des Reichskulturkammergesetzes in Österreich zwangen Leo Noussimbaum, wie so viele andere des Wiener Kreises, zum fluchtartigen Verlassen des Landes. Die meisten verließen Wien schon in den ersten Wochen nach dem Anschluß. Seit einigen Jahren hatte sich Essad Bey auf verschiedenen Italienreisen um den Auftrag einer offiziellen Mussolini-Biographie beworben, und er war wohl auch im Knüpfen von Beziehungen schon weit vorgedrungen, möglicherweise hatte er sogar persönlich beim Duce vorgesprochen. Dann aber wurde er von einem Spitzel als Jude denunziert, das Projekt platzte, und als er im Frühjahr 1938 vor dem Einmarsch der Nazi-Truppen in Wien floh und nach Italien ausreisen wollte, verweigerte man ihm ein Einreisevisum. Essad Bey umging dieses Hindernis, indem er zunächst in die italienische Kolonie Lybien reiste, wo er eine Weile als Übersetzer für den faschistischen Gouverneur arbeitete, um im Sommer aufs italienische Festland überzusetzen. Es gelang ihm, sich in Italien als amerikanischer Staatsbürger auszugeben, indem er sein amerikanisches Visum und verschiedene Schiffsbillette vorlegte, aber aufgrund der damals geltenden Rassengesetze und der ›Arisierung‹ des Wiener Verlags war er von jeglichem Einkommen aus seinen Tantiemen abgeschnitten und bald vollkommen mittellos. In dieser Not scheinen ihm die Freunde aus dem Waldviertel mittelbar geholfen zu haben, indem Elfriede verschiedene an ›Frau Kurban Said‹ adressierte Tantiemenauszahlungen abholte und weiterleitete und Essad Bey diese Überweisungen zukommen ließ. Schon bald aber verließ auch Umar Ehrenfels das Land seiner Väter und reiste nach Indien, um erst fünfzehn Jahre später, 1954, nach Europa zurückzukehren, wo er allerdings nur noch das Grab seines einstigen Freundes vorfand.
Bei Kurban Said zeigten sich nun auch die ersten Anzeichen seiner tödlichen Krankheit: er litt an einer Gefäßkrankheit, welche ein allmähliches Absterben der Extremitäten zur Folge hatte. Einsetzender Wundbrand machte fortlaufende Amputationen erforderlich. In einem Krankenhaus in Neapel wurden Essad Bey 1939 zunächst einige Zehen amputiert, doch bescheinigte der behandelnde Chirurg, daß die Krankheit zum gegenwärtigen Stand medizinischer Wissenschaft für unheilbar gelte.
Essad Bey ließ sich in Positano an der Sorrentiner Südküste nieder, einem Ort, der schon lange als eine Art ausländischer Künstlerkolonie bekannt war. Herausgerissen aus der freundlich verrauchten Atmosphäre seines Kaffeehaus-Wiens und des sich gegenseitig befruchtenden literarischen Kreises, empfand er dieses letzte, pittoreske Urlauberdorf allerdings als ein Gefängnis, es wurde sein letztes, wahres Exil. Anfänglich nahm er zwar noch am gesellschaftlichen Leben des Ortes teil, es wurden sogar noch Feste gefeiert, aber zusehends zwang ihn auch seine Krankheit zur Vereinzelung, denn viel Besuch scheint er dort nicht empfangen zu haben. Allerdings traf er 1941 noch mit Ezra Pound in Rom zusammen, und der aus Deutschland geflohene deutsche Schriftsteller Arnim T. Wegner besuchte ihn bis zum Schluß, obgleich er sich in seinen aufschlußreichen Tagebuchaufzeichnungen nicht besonders liebevoll über Essad Bey, den Schreiber und den Kranken äußert. Seine alte baltische Amme aus Baku scheint Essad Bey ebenfalls nach Positano begleitet zu haben, nicht aber der Vater Noussimbaum, der zwar mit nach Wien übersiedelt war, dort aber in der Wohnung in der Herrengasse zurückblieb. Essad Bey schrieb noch verzweifelte Briefe an Elfriede von Ehrenfels-Bodmershof, sie möge sich doch bitte um den alten Herrn kümmern und ihn vor der Gestapo schützen. Offenbar hat sie dies auch getan und ihn mehrfach aufgesucht. Ebenfalls besuchte ihn die neue Sachwalterin des ›arisierten‹ Verlags, in dem Kurban Saids Bücher erschienen waren. Auf Bitten des alten Noussimbaum besuchte diese Frau den Sohn Leo in Positano, was in diesen Kriegsjahren durchaus kein einfaches Unterfangen war. Sie verbrachte zwei Wochen mit ihm in Positano und erlebte den schrecklichen, kaum noch mit Opium zu bewältigenden Schmerzenszustand mit, den Essad erdulden mußte. Bei ihrem nächsten Besuch in der Herrengasse in Wien war der alte Mann verschwunden. Bis zum Schluß, hieß es, habe er sich noch teure Anzüge schneidern lassen und Diener beschäftigt, die ihm die Schuhe putzten, bis ihm eines Tages alle Mittel ausgegangen waren. Im März 1941 wurde er von der Gestapo abgeholt und nach Polen verschleppt. Kurz vor seinem Tod erhielt Essad Bey die Nachricht, daß sein Vater in ein KZ gekommen sei. Am 27.8.1942 starb Essad sechsunddreißigjährig an einer Lungenentzündung, einer Folge seiner Krankheit. Er liegt außerhalb der Friedhofsmauern von Positano begraben, in einem schlichten muslimischen Grab. Die Amme, Alice Schulte, wurde später in einem Armengrab in Meran beigesetzt.
In diesen letzten Jahren (Monaten?) hat Kurban Said noch einen Roman geschrieben, der keiner ist, sondern seine ›echte‹ Lebensgeschichte. Dieser Bericht (»Der Mann, der nichts von der Liebe verstand«) harrt noch immer der Veröffentlichung und mag über viele Punkte, die derzeit noch unklar sind, Aufschlußgeben. Bis dahin bleiben alle Versuche einer Lebensbeschreibung vage und spekulativ.
Die vielen ineinander verschachtelten Personen, die Essad Bey in sich beherbergte, sprechen aus den Büchern, die er schrieb: den Vater macht er zum muslimischen Ölscheich, sich selbst stilisiert er aufwendig zum säbelrasselnden Exil-Kaukasier, zum energischen Mitmischer in der Berliner Bohиme, zum Wiener Kaffeehausliteraten, zuletzt gelingt es ihm fast noch, sich eine amerikanische Identität zuzulegen. Mit Sicherheit sprach er ein gutes halbes Dutzend Sprachen, er war, wie er einmal selbst von sich behauptete, ein »vollendeter Kosmopolit«. In keiner seiner mir bekannten Schriften erwähnt er je seine jüdische Herkunft, bis zuletzt verschleiert er diesen im Nachhinein unübersehbaren Umstand. Gründe dafür zu finden dürfte nicht allzu schwer sein.
»Das Mädchen vom Goldenen Horn« reflektiert bei aller ikonenhaften Skizzierung der Figuren doch allerhand von Kurban Saids eigener Lebensproblematik. Der mutterlose Sohn mit dem Kopf eines jüdischen Intellektuellen und dem Herzen eines orientalischen Gemütsmenschen schwimmt zwischen aller kulturellen Zugehörigkeit hindurch, »still beobachtend«; während ein Hauch von Spöttelei die Lippe kräuselt, bleibt der Blick doch ernst. Aus den erhaltenen Photos schaut einem ein ernstes, sensibles, eher introvertiertes Gesicht entgegen, dem man früh erlebtes Leid durchaus anmuten kann. »Kurban« heißt im übrigen »Opfer« (sacrificium), »Said« bedeutet dagegen »glücklich, erfolgreich«. Warum gebrauchte er diesen etwas ausgefallenen Name als Pseudonym? Er hätte sich schließlich auch »Ahmed« oder »Mehmet« nennen können. War es bloße Lautmalerei, oder sollte ein tieferer Bezug angedeutet werden? Und wenn, welcher?
Viele »offizielle Orientalen« des Exils werteten dies als ärgerliche Maskerade, eine Art ethnischer Travestie, die sie ihm sehr übel nahmen. Doch Essad Bey schwelgte nicht in politischer Romantik noch erging er sich in nostalgischer Sehnsucht nach einer Authentizität, die er nie besessen hatte, noch bestand sein reichliches Wissen aus nur anstudierter Buchgelehrsamkeit. Heute, rund sechzig Jahre nach seinem Tod lesen sich Kurban Saids Bücher nicht etwa wie verjährte journalistische Zeugnisse, die man mit süffisantem Lächeln in ihre Zeit verweisen könnte, »wir, die Nachgeborenen, wissen es besser«, nein. Stoff und Thematik seiner Bücher sind nach wie vor hoch aktuell, zumal die geographische Gegend seiner Heimat gegenwärtig im Brennpunkt des Weltinteresses steht.
Die allerletzten Zeugen dieses Lebens werden bald nicht mehr zu vernehmen sein.
Das Rätsel, das Kurban Said umgibt, mag vielleicht nie ganz gelüftet werden, wir sind letztlich auf seine eigenen Aussagen angewiesen.