Dienstag — 9.40 Uhr, Kalifornische Zeit
Der Karmann Ghia bog vom Wilshire Boulevard in den Beverly Drive. Osterman wußte, daß er die für Los Angeles zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten; es schien ihm völlig unwichtig. Er konnte an nichts anderes als die Warnung denken, die er gerade erhalten hatte. Er mußte nach Hause, zu Leila. Sie mußten jetzt ernsthaft miteinander reden. Sie mußten entscheiden, was zu tun war.
Warum hatte man sie ausgewählt?
Wer war es, der sie warnte? Und in welcher Angelegenheit? Leila hatte wahrscheinlich recht. Tanner war ihr Freund, einer der besten Freunde, die sie je gehabt hatten. Aber er war auch ein Mann, der bei aller Freundschaft Zurückhaltung zu schätzen wußte. Es gab Bereiche, die man nicht berühren durfte. Es gab immer eine gewisse Distanz, eine dünne Glaswand, die sich zwischen Tanner und alle anderen Menschen schob. Ali natürlich ausgenommen.
Und Tanner besaß jetzt Informationen, die sie irgendwie betrafen, die für ihn und Leila etwas bedeuteten. Und Zürich hatte damit zu tun. Aber, Herrgott, wie?
Osterman erreichte die Einfahrt zum Mulholland Hill und fuhr schnell hinauf, vorbei an den Villen jener Leute, die sich ganz oben oder in der Nähe der Spitze des Spektrums von Hollywood befanden. Einige der Häuser begannen bereits zu verblassen, um nicht zu sagen, herunterzukommen, zerfallende Relikte ehemaliger Extravaganz. Die
Geschwindigkeitsbeschränkung in Mulholland betrug dreißig. Ostermans Tachometer zeigte einundfünfzig. Er drückte das Gaspedal nieder. Er hatte jetzt entschieden, was zu tun war.
Er würde Leila abholen und nach Malibu fahren. Dann würden sie sich eine Telefonzelle an der Straße suchen und Tremayne und Cardone anrufen.
Das klagende Heulen der Sirene, das immer lauter wurde, ließ ihn zusammenzucken. In dieser Stadt der Kulissen und Fassaden war das ein Klangeffekt. Es war nicht echt, nichts hier war echt. Es konnte nicht ihm gelten.
Aber das tat es natürlich doch.
«Officer, ich wohne hier. Osterman. Bernard Osterman. 26 °Caliente. Sie kennen doch sicher mein Haus. «Er wollte den Officer beeindrucken. Caliente war ein vornehmes Viertel.
«Tut mir leid, Mr. Osterman. Ihren Führerschein und Ihre Fahrzeugpapiere bitte.«
«Hören Sie. Ich bekam einen Anruf im Studio, daß meine Frau sich nicht wohlfühlt. Ich glaube, es ist verständlich, daß ich sehr in Eile bin.«
«Nicht auf Kosten der Fußgänger. Ihren Führerschein und Ihre Fahrzeugpapiere bitte.«
Osterman gab sie ihm und blickte starr nach vorne, hielt seinen Ärger unter Kontrolle. Der Polizeibeamte schrieb bedächtig auf das lange rechteckige Formular und knipste, als er dann fertig war, Bernies Führerschein daran.
Als er das Geräusch hörte, blickte Osterman auf.»Müssen Sie den Führerschein beschädigen?«
Der Polizeibeamte seufzte müde und hielt das Formular fest.»Mister, Sie hätten ihn auf dreißig Tage verlieren können. Ich habe eine niedrigere Geschwindigkeit eingetragen; schicken Sie zehn Dollar ein, wie bei einem Parkvergehen. «Er reichte Bernie den Zettel.»Ich hoffe, Ihre Frau fühlt sich bald besser.«
Der Beamte ging zu seinem Streifenwagen zurück. Als er bereits hinter dem Steuer saß, sagte er durch das offene Fenster:»Vergessen Sie nicht, Ihren Führerschein wieder einzustecken.«
Der Polizeiwagen jagte davon.
Osterman warf den Zettel hin und betätigte den Zündschlüssel. Der Karmann Ghia rollte den Mulholland Hill hinunter. Bernie blickte verärgert auf das Formular, das neben ihm auf dem Sitz lag. Dann sah er noch einmal hin.
Etwas stimmte nicht mit dem Papier. Die Form war richtig, und der unlesbare Feindruck drängte sich wie üblich auf zu wenig Platz zusammen, aber das Papier wirkte irgendwie falsch. Es schien zu glänzend, zu verschwommen, selbst für ein Ticket der Verkehrsabteilung der City von Los Angeles.
Osterman hielt an. Er nahm das Papier und sah es scharf an. Der Polizeibeamte hatte die Übertretung oberflächlich, ungenau angekreuzt. Eigentlich hatte er sie überhaupt nicht angekreuzt.
Und dann bemerkte Osterman, daß die Karte in Wirklichkeit nur eine dünne Fotokopie war, die an einem dickeren Blatt Papier befestigt war.
Er drehte sie herum und sah den mit rotem Farbstift geschriebenen Text auf der Rückseite, den sein Führerschein halb verdeckte. Er riß den Führerschein ab und las:
Erfuhren, daß Tanners Nachbarn vielleicht mit ihm kooperiert haben. Das ist eine potentiell gefährliche Situation dadurch verschlimmert, daß unsere Informationen unvollständig sind. Seien Sie äußerst vorsichtig und finden Sie heraus, was möglich ist. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, daß wir — Sie — wissen, wie weit sie eingeschaltet sind. Wiederhole: Seien Sie äußerst vorsichtig. Zürich
Osterman starrte die rote Schrift an, und seine Angst erzeugte einen plötzlichen stechenden Schmerz an seinen Schläfen.
Die Tremaynes und die Cardones auch!