Kapitel 12

Dienstag — 5.00 Uhr

Tremayne lief stundenlang ziellos herum; die vertrauten Straßen der East hinauf und hinunter. Und dennoch — wenn jemand ihn aufgehalten und ihn gefragt hätte, wo er sich befände, hätte er keine Antwort bekommen.

Er war ausgepumpt, leer. Erschreckt. Blackstone hatte alles gesagt und nichts aufgeklärt.

Und Cardone hatte gelogen. Entweder seiner Frau gegenüber oder seinem Büro, aber darauf kam es nicht an. Worauf es ankam, war, daß Cardone nicht zu erreichen war. Tremayne wußte, daß die Panik nicht aufhören würde, bis er und Cardone gemeinsam ergründet hatten, was Osterman getan hatte.

Hatte Osterman sie verraten?

War es das wirklich? War das möglich?

Er überquerte die Vanderbilt Avenue und erkannte plötzlich, daß er zum Biltmore Hotel gegangen war, ohne überhaupt an ein Ziel zu denken.

Das war begreiflich, dachte er. Das Biltmore brachte ihm Erinnerungen an sorglose Zeiten zurück.

Er ging durch die Lobby und erwartete fast einen vergessenen Freund aus der Jugendzeit zu sehen — und plötzlich starrte er einen Mann an, den er seit mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er kannte das Gesicht, auch wenn es sich in den Jahren schrecklich verändert hatte — aufgedunsen kam es Tremayne vor, faltig —, aber er konnte sich nicht an den Namen erinnern. Das war noch in der Oberschule gewesen.

Etwas verlegen gingen die beiden Männer aufeinander zu.

«Dick… Dick Tremayne! Sie sind doch Dick Tremayne, oder?«»Ja. Und Sie… Jim?«

«Jack! Jack Townsend! Wie geht es dir, Dick?«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand, Townsend mit viel mehr Begeisterung.»Das sind bestimmt schon fünfundzwanzig, nein dreißig Jahre! Prima siehst du aus! Wie zum Teufel schaffst du es, dein Gewicht zu halten? Ich hab's aufgegeben.«

«Gut siehst du aus. Wirklich prima. Ich wußte gar nicht, daß du in New York bist.«

«Bin ich auch nicht. Ich wohne in Toledo. Ich bin bloß auf ein paar Tage hier… Bei Gott, ich hatte eine verrückte Idee, als ich im Flugzeug her kam. Ich habe das Hilton abbestellt und mir gedacht, ich nehme mir hier ein Zimmer. Bloß um zu sehen, ob von der alten Clique noch welche da sind. Verrückt, wie? Und jetzt schau, auf wen ich da stoße!«

«Das ist wirklich komisch. Echt. Ich hab' vor ein paar Sekunden dasselbe gedacht.«

«Trinken wir etwas.«

Townsend gab ununterbrochen Ansichten von sich, die ganz den Traditionen der Geschäftswelt entsprachen. Er war sehr langweilig.

Tremayne dachte die ganze Zeit an Cardone. Als er beim dritten Glas war, sah er sich nach der Telefonzelle in der Bar um, an die er sich noch aus seiner Jugend erinnerte. Sie war in der Nähe des Kücheneingangs versteckt; nur wohlgelittene Stammgäste des Biltmore wußten von ihrer Existenz.

Sie war nicht mehr da. Und Jack Townsend redete und redete, erinnerte sich mit lauter Stimme an alles das, woran man sich nicht erinnern konnte.

Einige Schritte von ihnen entfernt standen zwei Neger in Lederjacken, sie trugen Perlenketten um den Hals.

Früher, in jenen anderen Tagen, hätten die nicht hier gestanden.

In jenen angenehmen Tagen.

Tremayne kippte seinen vierten Drink hinunter; und Townsend hörte und hörte nicht auf zu reden.

Er mußte Joe anrufen! Jetzt fing die Panik wieder an. Vielleicht würde Joe das Rätsel um Osterman mit einem einzigen Satz lösen.

«Was ist denn los mit dir, Dick? Du siehst so aufgeregt aus.«»So wahr mir Gott helfe, das ist das erstemal, daß ich seit Jahren wieder hier bin. «Tremaynes Worte klangen lallend, und er wußte es.»Ich muß telefonieren. Entschuldige bitte.«

Townsend legte Tremayne die Hand auf den Arm. Er sprach ganz leise.

«Willst du Cardone anrufen?«

«Was?«

«Ich hab' dich gefragt, ob du Cardone anrufen willst.«

«Wer bist du? — Wer zum Teufel bist du?«

«Ein Freund von Blackstone. Ruf Cardone nicht an. Du darfst das unter keinen Umständen tun. Wenn du das tust, schlägst du einen Nagel in deinen eigenen Sarg. Verstehst du das?«

«Ich verstehe überhaupt nichts! Wer bist du? Wer ist Blackstone?«Tremayne versuchte zu flüstern, aber seine Stimme hallte durch den ganzen Raum.

«Ich will mal so sagen. Es kann sein, daß Cardone gefährlich ist. Wir vertrauen ihm nicht. Wir sind seiner nicht sicher. Ebensowenig wie wir uns der Ostermans sicher sind.«

«Was sagst du da?«

«Es kann sein, daß sie sich zusammengetan haben. Vielleicht fliegst du jetzt solo. Du mußt es ganz cool angehen und sehen, was du herausfinden kannst. Wir melden uns wieder… Aber das hat dir ja Mr. Blackstone schon gesagt, oder?«

Und dann tat Townsend etwas Seltsames. Er nahm einen Geldschein aus der Brieftasche und legte ihn vor Richard Tremayne. Er sagte nur zwei Worte, als er sich umdrehte und durch die Glastüre hinaus ging:

«Nimm es.«

Es war eine Einhundert-Dollar-Note.

Was hatte er damit gekauft?

Gar nichts, dachte Tremayne. Es war nur ein Symbol.

Ein Preis. Ein beliebiger Preis.

Als Fassett das Hotelzimmer betrat, waren bereits zwei Männer dort, die über einen Kartentisch gebeugt waren und verschiedene Papiere und Landkarten studierten. Einer war Grover. Der andere Mann hieß Cole. Fassett nahm den Panamahut und die Sonnenbrille ab und legte sie auf die Kommode.

«Alles in Ordnung?«fragte Grover.

«Läuft wie geschmiert. Falls Tremayne sich im Biltmore nicht zu sehr betrinkt.«

«Wenn er das tut«, sagte Cole, ohne den Blick von einer Straßenkarte von New Jersey zu nehmen,»wird ein freundlicher, bestechlicher Cop die Situation in Ordnung bringen. Er wird nach Hause kommen.«

«Habt ihr auf beiden Seiten der Brücke Leute aufgestellt?«

«Und bei den Tunnels. Manchmal nimmt er den Lincoln-Tunnel und fährt den Parkway hinauf. Die stehen alle in Funkverbindung. «Cole kritzelte etwas auf ein Blatt durchsichtiges Zeichenpapier, das über der Karte lag.

Das Telefon klingelte. Grover trat an den Nachttisch und nahm ab.

«Hier Grover… Oh? Ja, wir überprüfen das noch einmal, aber ich bin sicher, daß wir es erfahren hätten, wenn er… Machen Sie sich keine Sorgen. Schon gut. Wir bleiben in Verbindung. «Grover legte den Hörer auf und stand neben dem Telefon.

«Was ist denn?«Fassett zog seine weiße Palm-Beach-Jacke aus und begann sich die Ärmel hochzukrempeln.

«Das war die Logistik in Los Angeles. Die haben ihn zwischen der Zeit, in der er das Studio verlassen hat und in der man ihn später auf der Mulholland Drive wieder fand, auf etwa zwanzig Minuten verloren. Sie machen sich Sorgen, daß er vielleicht Cardone oder Tremayne erreicht haben könnte.«

Cole blickte vom Tisch auf.»Gegen ein Uhr nach unserer Zeit — zehn in Kalifornien?«

«Ja.«»Negativ. Cardone war in seinem Wagen, und Tremayne auf den Straßen. Keiner konnte erreicht werden…«

«Ich verstehe schon, was die meinen«, unterbrach Fassett.»Tremayne hat heute mittag keine Zeit vergeudet, mit Cardone in Verbindung zu treten.«

«Das haben wir einkalkuliert, Larry», sagte Cole.»Wir hätten sie beide aufgehalten, wenn ein Zusammentreffen verabredet worden wäre.«

«Ja, ich weiß. Aber das wäre riskant gewesen.«

Cole lachte und nahm das durchsichtige Papier vom Tisch.»Ihr plant — und wir kontrollieren. Hier ist jede Seitenstraße, die nach >Leder< führt.«

«Die haben wir.«

«George hat vergessen, eine Kopie mitzubringen, und die anderen sind bei den Männern. Eine Kommandozentrale sollte immer eine Landkarte des Zielgebietes haben.«

«Mea culpa. Ich war bis zwei Uhr früh in der Besprechung und mußte die Maschine um halb sieben nehmen. Ich hab' auch meinen Rasierapparat und meine Zahnbürste und weiß Gott was sonst noch alles vergessen.«

Wieder klingelte das Telefon und Grover hob ab.

«… verstehe… Augenblick. «Er streckte den Hörer weg und sah zu Laurence Fassett hinüber.»Unser zweiter Chauffeur hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Cardone…«

«O Gott! Hoffentlich gab's keinen Ärger.«

«Nein, nein. Unser heißblütiger Sportler versuchte den Wagen zu verlassen und handgreiflich zu werden. Nichts passiert.«

«Sag ihm, er soll nach Washington zurückfahren. Das Zielgebiet verlassen.«

«Fahr zurück nach D.C., Jim… Ja, freilich kannst du das. Okay. Wir sehen uns im Camp. «Grover legte auf und ging an den Kartentisch zurück.

«Was kann Jim >freilich< tun?«fragte Fassett.

«Den Rolls in Maryland abgeben. Er meint, Cardone hätte sich die Nummer notiert.«

«Gut. Und die Familie Cäsar?«

«Prima vorbereitet«, unterbrach Cole.»Sie können es gar nicht erwarten, von Guiseppe Ambruzzio Cardione zu hören. Ganz wie der Vater, und überhaupt nicht wie der Sohn.«

«Was soll das bedeuten?«Grover hielt sein Feuerzeug unter die Zigarette.

«Der alte Cäsar hat sich auf unredliche Weise ein Dutzend Vermögen verdient. Sein ältester Sohn arbeitet im Büro des Generalstaatsanwaltes und führt einen fanatischen Feldzug gegen die Mafia.«

«Der will wohl die Sünden der Familie wegwaschen?«

«So etwas ähnliches.«

Fassett ging ans Fenster und blickte auf die weite Fläche des südlichen Central Park hinunter. Als er weitersprach, war seine Stimme ganz leise, klang aber so befriedigt, daß seine Begleiter lächeln mußten.

«Alles läuft wie am Schnürchen. Jeder hat seinen kleinen Schock bekommen. Die sind alle verwirrt und verstört. Keiner von ihnen weiß, was er tun oder mit wem er reden soll. Jetzt bleiben wir ruhig und beobachten sie. Wir lassen sie vierundzwanzig Stunden in Ruhe. In völliger Ruhe… Und Omega hat keine Wahl. Omega muß handeln.«

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