Donnerstag — 10.15 Uhr
Als Alice am Donnerstag um Viertel nach zehn aufwachte, war ihre erste Reaktion, auf alle Ewigkeit im Bett bleiben zu wollen. Sie konnte die Kinder im Erdgeschoß streiten hören und im Hintergrund die unverständlichen, aber geduldigen Worte ihres Mannes, der die Auseinandersetzung schlichtete. Sie dachte über seinen bemerkenswerten Sinn für kleine Freundlichkeiten nach, aus denen, wenn man sie zusammenrechnete, echte Besorgtheit wurde. Nach so vielen Ehejahren war das nicht schlecht.
Vielleicht war ihr Mann nicht so schnell und nicht so dramatisch wie Dick Tremayne oder so spürbar mächtig wie Joe Cardone oder so witzig und clever wie Bernie Osterman, aber sie hätte um nichts in der Welt mit Ginny, Betty oder Leila tauschen wollen. Selbst wenn alles noch einmal von vorne beginnen würde, würde sie auf John Tanner warten. Er war eine seltene Art Mann. Er wollte teilen, mußte teilen. Alles. Keiner der anderen war so. Nicht einmal Bernie, obwohl er John am ähnlichsten war. Selbst Bernie hatte seine Geheimnisse, die er für sich behielt, so sagte Leila wenigstens.
Am Anfang hatte sich Alice gefragt, ob das Bedürfnis ihres Mannes, alles zu teilen, nur die Folge des Mitleids war, das er für sie empfand. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens, ehe sie John Tanner begegnet war, auf der Flucht oder auf der Suche nach einem Zufluchtsort verbracht. Ihr Vater, ein Mensch, der stets darum bemüht war, all die Unbilden der Welt ins rechte Lot zu setzen, hatte nie lang an einem Ort bleiben können.
Ein zeitgenössischer John Brown.
Die Zeitungen hatten ihn am Ende als einen — Verrückten bezeichnet.
Und ganz am Ende hatte ihn die Polizei von Los Angeles getötet.
Sie erinnerte sich noch an die Worte.
Los Angeles, 10. Februar 1945. Jason McCall, von dem die Behörden annehmen, daß er im Sold der Kommunisten stand, wurde heute außerhalb seines Hauptquartiers im Canyon erschossen, als er herauskam und mit etwas herumfuchtelte, das wie eine Waffe aussah. Die Polizei von Los Angeles und Agenten des Federal Bureau of Investigation machten McCalls Aufenthaltsort nach umfänglichen Suchoperationen ausfindig… Die Polizei von Los Angeles und die Agenten des FBI hatten sich freilich nicht die Mühe gemacht festzustellen, daß Jason McCalls Waffe ein verbogenes Stück Metall war, das er seine >Pflugschar< nannte.
Zum Glück war Alice bei einer Tante in Pasadena gewesen, als man ihren Vater erschossen hatte. Sie hatte den jungen Studenten der Journalistik, John Tanner, bei der öffentlichen Untersuchung nach dem Tode ihres Vaters kennengelernt. Die Behörden von Los Angeles wollten, daß die Untersuchung öffentlich durchgeführt wurde. Sie wollten keinen Märtyrer schaffen. Sie wollten klarstellen, daß der Tod McCalls unter gar keinen Umständen Mord gewesen war.
Was er natürlich war.
Der junge Journalist, der gerade aus dem Krieg zurückgekehrt war, wußte das und bezeichnete es auch so. Und obwohl seine Geschichte der Familie McCall keinen Nutzen brachte, brachte es ihn dem traurigen, verwirrten Mädchen näher, das dann später seine Frau wurde.
Alice hörte zu denken auf und drehte sich im Bett herum. Das alles gehörte der Vergangenheit an. Sie war jetzt, wo sie sein wollte.
Einige Minuten später hörte sie unten in der Halle fremde Männerstimmen. Sie wollte sich aufsetzen, als die Tür sich öffnete und ihr Mann hereinkam. Er lächelte, beugte sich über sie und küßte sie leicht auf die Stirn. Sie spürte trotz all seiner Beiläufigkeit, daß irgend etwas an ihm angespannt war.
«Wer ist denn unten?«fragte sie.
«Die Fernsehleute. Sie schließen die Geräte wieder an, aber die Antenne ist irgendwie beschädigt. Sie müssen den Fehler suchen.«
«Also muß ich aufstehen.«
«Ja. Ich kann ja schließlich nicht riskieren, daß du dich zwei gut gebauten Männern in Overalls im Bett zeigst.«
«Du hast auch einmal einen Overall getragen. Erinnerst du dich noch? In deinem letzten Semester hattest du den Job an der Tankstelle.«
«Ich erinnere mich auch noch, wie schnell ich die Overalls los war, wenn ich nach Hause kam. So, und jetzt aufstehen!«Er war wirklich angespannt, dachte sie; er bemühte sich, die
Situation und sich selbst unter Kontrolle zu bekommen. Er erklärte, daß er trotz der vielen Arbeit, die er donnerstags immer hatte, an diesem speziellen Donnerstag zu Hause bleiben würde.
Seine Erklärung war ganz einfach. Nach dem, was gestern nachmittag geschehen war, würde er trotz der noch andauernden polizeilichen Untersuchung seine Familie nicht alleine lassen. So lange nicht, bis alles aufgeklärt war.
Er fuhr mit ihnen in den Club, wo er und Ali mit ihren Nachbarn, Dorothy und Tom Scanlan, ein Doppel spielten. Man sagte Tom nach, er wäre so reich, daß er schon zehn Jahre nicht mehr gearbeitet hätte.
Ali fiel auf, wie entschlossen ihr Mann war, das Spiel zu gewinnen. Es war ihr peinlich, als er Tom vorwarf, falsch gezählt zu haben, und sie war geradezu erschüttert, als er einen ungewöhnlich scharfen Schmetterball so placierte, daß der Ball Dorothys Gesicht nur um Haaresbreite verfehlte.
Sie gewannen den Satz, und die Scanlans lehnten einen zweiten ab. Also gingen sie zum Pool, wo John die Kellner schikanierte. Im späteren Verlauf des Nachmittags entdeckte er McDermott und bestand darauf, daß er mit ihnen einen Drink nahm. McDermott war in den Club gekommen — erklärte John seiner Frau —, um ein Mitglied darauf aufmerksam zu machen, daß sein Wagen an einer lange abgelaufenen Parkuhr in der Stadt stand.
Und dann ging Tanner die ganze Zeit zum Telefon im Clubhaus. Er hätte sich eines an den Tisch neben den Pool bringen lassen können, aber das wollte er nicht. Er behauptete, die Woodward-Besprechungen fingen an, hitzig zu werden, und er wolle nicht in der Öffentlichkeit reden.
Alice glaubte das nicht. Ihr Mann besaß viele Talente, und eines der ausgeprägtesten davon war seine Fähigkeit, unter Druck ruhig, ja kalt zu bleiben. Und doch war er heute ganz offensichtlich der Panik nahe.
Sie kehrten um acht Uhr zum Orchard Drive zurück. Tanner schickte die Kinder ins Bett; Alice rebellierte.
«Jetzt reicht's!«sagte sie entschieden. Sie zog ihren Mann ins Wohnzimmer und packte ihn am Arm.»Du bist unvernünftig, Darling. Ich weiß, wie dir zumute war. Ich habe es auch gespürt, aber du hast den ganzen Tag nur Befehle erteilt und Leute angefaucht: Tu dies! Tu das! Das paßt nicht zu dir. «Tanner erinnerte sich an Fassett. Er mußte ruhig bleiben, normal. Selbst mit Ali.
«Tut mir leid. Wahrscheinlich ist das eine Reaktion auf gestern. Aber du hast recht. Entschuldige bitte.«
«Ist schon vorbei«, meinte sie, ohne seine schnelle Entschuldigung wirklich zu akzeptieren.»Mich hat es wirklich erschreckt, aber jetzt ist alles gut. Es ist vorbei.«
Herrgott, dachte Tanner. Wollte Gott, daß es so einfach wäre.»Es ist vorbei, ich habe mich kindisch benommen, und ich möchte, daß meine Frau sagt, daß sie mich liebt, damit wir ein paar Drinks nehmen und dann zusammen ins Bett gehen können. «Er küßte sie leicht auf die Lippen.»Und das, gnädige Frau, ist die beste Idee, die ich den ganzen Tag hatte.«
«Hast lang gebraucht, bis du darauf kamst«, sagte sie und lächelte ihm zu.»Ich brauche noch ein paar Minuten. Ich habe Janet versprochen, daß ich ihr eine Geschichte vorlese.«
«Was wirst du ihr denn vorlesen?«
«>Die Prinzessin und der Drache<. Denk darüber nach. «Sie löste sich aus seinen Armen und strich ihm leicht über das Gesicht.»Gib mir zehn, fünfzehn Minuten.«
Tanner blickte ihr nach, wie sie die Treppe hinaufging. Sie hatte so viel durchgemacht und jetzt noch das. Omega.
Er sah auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach acht, und Alice würde wenigstens zehn Minuten oben sein, wahrscheinlich doppelt so lange. Er beschloß, Fassett im Motel anzurufen.
Es würde nicht das übliche Gespräch mit Fassett werden. Nicht eines, in dem ihm herablassende Anweisungen erteilt wurden, Predigten. Jetzt war der dritte Tag vorbei, drei Tage, an denen die Verdächtigen von Omega bedrängt wurden.
John Tanner wollte jetzt Einzelheiten wissen. Er hatte ein Recht darauf.
Fassett war erschreckt und über die präzisen Fragen Tanners verärgert.
«Ich kann mir nicht die Zeit nehmen, Sie jedesmal anzurufen, wenn jemand über die Straße kommt.«
«Ich will Antworten hören. Das Wochenende fängt morgen an, und wenn Sie von mir wollen, daß ich damit weitermache, werden Sie mir jetzt sagen, was geschehen ist. Wo sind sie jetzt? Wie waren ihre Reaktionen? Ich muß das wissen.«
Ein paar Augenblicke lang herrschte Schweigen. Als Fassett wieder sprach, klang seine Stimme resigniert.»Also gut… Tremayne ist letzte Nacht in New York geblieben. Das habe ich Ihnen ja gesagt, erinnern Sie sich? Im Biltmore begegnete er einem Mann namens Townsend. Townsend ist ein bekannter Aktienspekulant, der in Zürich arbeitet. Cardone und seine Frau sind heute nachmittag nach Philadelphia gefahren. Sie hat ihre Familie in Chestnut Hill besucht, und er ist nach Bala Cynwyd gefahren, um sich mit einem Mann zu treffen, von dem wir wissen, daß er ein hochrangiger Kapo in der Mafia ist. Sie sind vor einer Stunde nach Saddle Valley zurückgekehrt. Die Ostermans sind im Plaza. Sie essen heute mit einem Ehepaar namens Bronson zu Abend. Die Bronsons sind alte Freunde. Sie stehen auch auf der Liste des Generalstaatsanwalts unter dem Verdacht subversiver Aktivitäten.«
Fassett hielt inne und wartete, daß Tanner etwas sagte.
«Und sie sind nicht zusammengekommen? Haben nicht einmal miteinander telefoniert? Keine Pläne gemacht? Ich will die Wahrheit hören!«
«Wenn sie miteinander gesprochen haben, dann über kein Telefon, das wir kontrollieren können, und das würde bedeuten, daß sie gleichzeitig in öffentlichen Telefonzellen hätten sein müssen, und das war nicht der Fall. Wir wissen, daß sie sich nicht getroffen haben — einfache Überwachung. Wenn einer von ihnen Pläne hat, dann sind das individuelle, nicht koordinierte
Pläne. Wir rechnen darauf, wie ich Ihnen das ja auch sagte. Das ist alles, was es zu sagen gibt.«
«Es scheint also keinerlei Beziehung zu geben. Zu keinem von ihnen?«
«Das ist richtig. Zu dem Schluß sind wir auch gelangt.«
«Das ist aber nicht, was Sie erwartet haben. Sie sagten, die würden in Panik geraten. Omega würde jetzt schon in Panik sein.«
«Ich glaube auch, daß sie das sind. Jeder einzelne von ihnen. Jeder für sich. Unsere Vorhersagen sind da sehr präzise.«
«Was zum Teufel soll das jetzt wieder heißen?«
«Überlegen Sie doch. Ein Ehepaar rast zu einem mächtigen Mafioso. Ein anderes trifft sich mit einem Mann und seiner Frau, die als Fanatiker gelten. Und der Anwalt trifft sich plötzlich mit einem internationalen Aktienspekulanten aus Zürich. Das ist Panik. Das NKWD hat viele Tentakel. Jeder einzelne von ihnen steht am Rande der Panik. Wir brauchen jetzt nur abzuwarten.«
«Von morgen an wird es gar nicht so leicht sein, einfach abzuwarten.«
«Seien Sie ganz natürlich. Sie werden feststellen, daß Sie ganz bequem auf zwei verschiedenen Ebenen funktionieren können. So ist das immer. Es besteht überhaupt keine Gefahr, selbst wenn Sie es nur zur Hälfte schaffen. Sie sind jetzt viel zu sehr miteinander befaßt. Vergessen Sie nicht, Sie brauchen das, was gestern nachmittag war, nicht zu verheimlichen. Reden Sie darüber. Ausführlich. Tun und sagen Sie, was sich ganz natürlich ergibt.«
«Und Sie denken, daß man mir glauben wird?«
«Die haben doch gar keine Wahl! Verstehen Sie denn nicht? Sie haben sich einen Ruf als Reporter gemacht, als Mann, der den Dingen auf den Grund geht. Muß ich Sie denn wirklich daran erinnern, daß die Untersuchungen dann enden, wenn die beobachteten Personen kollidieren? Das ist doch eine uralte Binsenweisheit.«
«Und ich bin der unschuldige Katalysator?«»Das können Sie noch mal sagen. Je unschuldiger, desto besser.«
Tanner zündete sich eine Zigarette an. Er konnte dem anderen nicht länger widersprechen. Seine Logik war einwandfrei. Und die Sicherheit, das Leben von Ali und seinen Kindern lag in den Händen dieses eiskalten Profis.
«Also gut. Ich werde sie alle an der Türe begrüßen wie lang verschollene Brüder und Schwestern.«
«Genauso ist es richtig. Und wenn Ihnen danach ist, dann rufen Sie sie alle am Morgen an und vergewissern sich, daß sie auch kommen. Mit Ausnahme der Ostermans natürlich. Was Sie eben normal tun würden… Und denken Sie daran, wir sind da. Die besten Geräte der größten Firma der Welt arbeiten für Sie. Nicht einmal die winzigste Waffe könnte Ihre Haustüre passieren.«
«Stimmt das?«
«Wir würden es selbst erfahren, wenn jemand ein cfei Zoll langes Messer in der Tasche trägt. Ein vierzölliger Revolver — und Sie wären in sechzig Sekunden aus dem Haus.«
Tanner legte den Hörer auf und nahm einen langen Zug an seiner Zigarette. Als er die Hand vom Telefon nahm, hatte er das Gefühl — das physische Gefühl —, aufspringen, weglaufen zu müssen.
Es war ein seltsames, ein unangenehmes Gefühl der Einsamkeit.
Und dann erkannte er, was es war, und es beunruhigte ihn sehr.
Von einem Mann namens Fassett hing es nun ab, daß er den Verstand behielt. Er befand sich völlig in seiner Hand und unter seiner Kontrolle.