Kapitel 24

Der Julisturm war in weniger als einer Stunde da. Die Wetterberichte im Radio kündigten Winde von Orkanstärke an, von Hatteras bis Rhode Island wurde den Seglern Sturmalarm gegeben, und die Ortschaft Saddle Valley war weder isoliert noch geschützt genug, um den Fluten zu entgehen.

Ali erwachte beim ersten Donnerschlag, und John sagte ihr — flüsterte ihr zu — von lauten Radioklängen übertönt, daß sie mit Bernie und Leila wegfahren wollten. Er drückte sie an sich und bat sie, keine Fragen zu stellen, Vertrauen zu ihm zu haben.

Die Kinder wurden ins Wohnzimmer gebracht, ein Fernseher vor den Kamin gestellt. Ali packte zwei Koffer und stellte sie neben den Garageneingang. Leila kochte Eier und packte Sellerie und Mohren ein.

Bernie hatte gesagt, daß sie vielleicht ein oder zwei Stunden nicht anhalten würden.

Tanner beobachtete die Vorbereitungen, und seine Gedanken wanderten ein Vierteljahrhundert in die Vergangenheit.

Evakuierung!

Um halb drei klingelte das Telefon. Es war Tremayne, sichtlich bemüht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, und doch irgendwie hysterisch wirkend. Er schilderte — falsch, dachte Tanner — die Ereignisse an der verlassenen Lassiter Station und erklärte, er und Ginny seien noch zu verstört, um zum Dinner herüberzukommen. Das Samstag-abend-Dinner eines Osterman-Weekends.

«Du mußt mir sagen, was hier vorgeht!«sagte Alice Tanner in der Anrichte zu ihrem Mann. Ein Transistorradio plärrte in voller

Lautstärke, und sie versuchte es leiser zu schalten. Er hielt ihre Hand, hinderte sie daran und zog sie an sich.

«Hab Vertrauen zu mir. Bitte, hab Vertrauen«, flüsterte er.»Im Wagen erkläre ich es dir.«

«Im Wagen?«Alis Augen weiteten sich vor Angst. Sie hielt sich die Hand vor den Mund.»O mein Gott! Was du damit sagst, ist… Du kannst nicht reden.«

«Hab Vertrauen zu mir. «Tanner ging in die Küche und sagte, besser gesagt, erklärte mit Gesten Bernie:»Wir wollen jetzt laden. «Sie gingen die Koffer holen.

Als Tanner und Osterman aus der Garage zurückkehrten, stand Leila am Küchenfenster und blickte in den Hinterhof.»Das entwickelt sich jetzt zu einem richtigen Orkan.«

Das Telefon klingelte, und Tanner nahm ab.

Cardone war wütend. Er beteuerte immer wieder, daß er den Schweinehund, der sie betäubt hätte, in Stücke reißen würde. Er war auch verwirrt, völlig durcheinander. Seine Uhr war achthundert Dollar wert, und man hatte sie ihm nicht weggenommen. Er hatte ein paar hundert Dollar in der Brieftasche gehabt, und auch die hatte man nicht angerührt.

«Die Polizei sagte, Dick wären einige Papiere gestohlen worden. Irgend etwas mit Zürich.«

Von Cardone war ein scharfer Atemzug zu hören, dann herrschte Schweigen. Als er weitersprach, war er kaum zu vernehmen.»Das hat doch nichts mit mir zu tun!«Und dann erzählte er Tanner schnell und ohne viel Überzeugungskraft, daß er telefonisch aus Philadelphia verständigt worden wäre, daß sein Vater sehr krank sei. Er und Betty würden zu Hause bleiben. Vielleicht würden sie alle am Sonntag zusammenkommen. Tanner legte auf.

«Hey!«Leila blickte auf den Rasen hinaus.»Seht euch diese Schirme an. Die werden ja praktisch weggeweht.«

Tanner sah zu dem Fenster über der Spüle hinaus. Die zwei großen Sonnenschirme bogen sich unter der Gewalt des Windes. Das Tuch spannte sich gegen die dünnen

Metallstreben. Bald würden sie entweder zerreißen oder sich umdrehen. Tanner wußte, daß es sehr seltsam wirken würde, wenn er sich nicht darum kümmerte. Es würde nicht normal aussehen.

«Ich hole sie herein. Das dauert nur zwei Minuten.«

«Soll ich helfen?«

«Hat doch keinen Sinn, daß wir beide naß werden.«

«Dein Regenmantel ist in dem Schrank im Flur.«

Der Wind war stark, und es goß in Strömen. Er schützte sein Gesicht mit den Händen und kämpfte sich zu dem Tisch vor. Er griff unter dem flatternden Tuch nach oben und spürte, wie seine Finger den Metallgriff erfaßten. Er fing an, ihn zu drücken. Etwas klirrte gegen die schmiedeeiserne Tischplatte. Metallstücke spritzten auf, sein Arm brannte. Noch ein Knall. Zu seinen Füßen stoben Zementstücke vom Tischsockel. Dann ein weiterer Schuß, jetzt von der anderen Seite.

Tanner warf sich unter den Metalltisch, duckte sich, versuchte Deckung vor den Kugeln zu finden.

Jetzt peitschten schnell hintereinander rings um ihn Schüsse, fegten Metall und Steinpartikel hoch.

Er fing an, rückwärts ins Gras zu kriechen, aber die kleinen Eruptionen rings um ihn lähmten ihn förmlich. Er schnappte sich einen Stuhl und hielt ihn vor sich hin, als wären es die letzten Fäden eines sich auflösenden Seils und als befände er sich hoch über einem Abgrund. Er erstarrte, erwartete seinen Tod.

«Laß los! Verdammt noch mal! Laß los!«

Osterman zerrte an ihm, schlug ihm ins Gesicht, riß ihm die Hände vom Stuhl. Sie rannten zum Haus zurück; Kugeln klatschten rings um sie gegen die Wand.

«Bleib da weg! Weg von der Türe!«schrie Bernie. Aber entweder kam das bereits zu spät, oder seine Frau hörte nicht auf ihn. Leila riß die Türe auf, und Bernie Osterman warf Tanner hinein, sprang über ihn. Leila duckte sich unter das Fenster und warf die Türe ins Schloß.

Die Schüsse verstummten.

Ali rannte zu ihrem Mann und drehte ihn herum, hielt seinen Kopf in den Armen, zuckte zusammen, als sie das Blut an seinen nackten Armen sah.

«Bist du getroffen?«schrie Bernie.

«Nein… Nein, alles in Ordnung.«

«Nichts ist in Ordnung! O Gott! Seht doch seine Arme!«Ali versuchte, mit der Hand das Blut wegzuwischen.

«Leila! Ich brauche Alkohol! Jod! Ali hast du Jod?«

Alice, der die Tränen über die Wangen strömten, konnte die Frage nicht beantworten. Leila packte sie an den Schultern und sagte mit scharfer Stimme:

«Hör auf, Ali! Du sollst aufhören! Wo sind Binden, Verbandszeug? Johnny braucht Hilfe!«

«Irgend so ein Sprayzeug — in der Anrichte. Und Watte. «Sie ließ ihren Mann nicht los. Leila kroch auf die Anrichte zu.

Bernie untersuchte Tanners Arme.»Das ist nichts Schlimmes. Nur ein paar Kratzer. Ich glaube nicht, daß etwas steckengeblieben ist.«

John blickte zu Bernie auf und schämte sich.»Du hast mir das Leben gerettet. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

«Kannst mir ja zum nächsten Geburtstag einen Kuß geben. Gutes Mädchen, Leila. Gib das Zeug her. «Osterman nahm eine Sprühdose und richtete die Düse auf Tanners Arme.»Ali, ruf die Polizei an! Geh nicht ans Fenster, aber sieh zu, daß du diesen fetten Metzger herkriegst, den ihr hier als Polizeicaptain habt!«

Alice ließ widerstrebend von ihrem Mann ab und kroch am Küchenfenster vorbei. Jetzt griff sie nach oben und holte den Hörer von der Gabel.

«Die Leitung ist tot.«

Leila stöhnte. Bernie sprang auf Ali zu und riß ihr den Hörer aus der Hand.

«Sie hat recht.«

John Tanner drehte sich herum und drückte die Arme gegen die Kachelwand. Er war wieder in Ordnung. Er konnte sich bewegen.

«Wir wollen herausfinden, wo sie stehen«, sagte er langsam.»Was meinst du?«fragte Bernie.

«Bleibt ihr Mädchen auf dem Boden. Bernie, der Lichtschalter ist neben dem Telefon. Schalte das Licht ein, sobald ich bis drei gezählt habe.«

«Was hast du vor?«

«Tu, was ich dir sage.«

Tanner kroch zur Küchentür und stand auf, so daß man ihn vom Fenster aus nicht sehen konnte. Der Regen, der Wind, das gelegentliche Rollen des Donners waren die einzigen Geräusche, die in dem Raum zu hören waren.

«Fertig? Ich fange jetzt zu zählen an.«

«Was hat er vor?«Ali wollte aufstehen, aber Osterman packte sie und hielt sie am Boden fest.

«Du kennst das schon, Bernie«, sagte John.»Handbuch für Infanterie. Überschrift: Nachtpatrouille. Keine Sorge. Die Chancen stehen tausend zu eins zu meinen Gunsten.«

«Nicht nach dem Buch, das ich kenne.«

«Mund halten! — Eins, zwei, drei!«

Osterman knipste den Lichtschalter an, und die Deckenbeleuchtung flammte auf. Tanner sprang zur Anrichte hinüber.

Es kam. Das Signal. Der Beweis, daß der Feind da war.

Ein Knall, Glas zersplitterte, und die Kugel krachte in die Wand, ließ den Verputz wegsplittern. Osterman schaltete das Licht ab.

Auf dem Boden schloß John Tanner die Augen und sagte mit leiser Stimme.»So sieht's also aus. Die Mikrofone waren eine Lüge… Alles eine Lüge.«

«Nein! Bleib da! Zurück!«schrie Leila, ehe einer von ihnen begriff, was sie meinte. Sie warf sich quer durch die Küche auf die Türe zu, dicht gefolgt von Alice.

Tanners Kinder hatten die Schüsse draußen nicht gehört; der Regen, der Donner und das Fernsehen hatten sie übertönt. Aber den Schuß, der in die Küche abgefeuert worden war, hatten sie gehört. Die beiden Frauen warfen sich jetzt über sie, zogen sie zu Boden, schützten sie mit dem eigenen Leib.

«Ali, schaff sie ins Speisezimmer! Bleibt auf dem Boden!«befahl Tanner.»Bernie, du hast keine Waffe, oder?«

«Tut mir leid, habe nie eine gehabt.«

«Ich auch nicht. Ist das nicht komisch? Ich war immer dagegen, daß man sich Waffen kauft. Das ist so verdammt primitiv.«

«Was werden wir jetzt tun?«Leila gab sich Mühe, ruhig zu bleiben.

«Wir werden hier verschwinden«, antwortete Tanner.»Die Schüsse kommen von den Büschen. Aber der Heckenschütze weiß nicht, ob wir bewaffnet sind oder nicht. Er wird nicht von vorne das Feuer aufnehmen. Zumindest glaube ich das nicht. Auf dem Orchard Drive kommen verhältnismäßig oft Wagen durch. Wir zwängen uns jetzt alle in den Kombi und sehen, daß wir hier verschwinden.«

«Ich öffne die Tür«, sagte Osterman.

«Für einen einzigen Nachmittag hast du genug den Helden gespielt. Jetzt bin ich dran… Wenn wir es richtig einteilen, gibt es überhaupt keine Probleme. Die Tür geht schnell auf.«

Sie krochen in die Garage.

Die Kinder lagen im hinteren Teil des Kombis zwischen den Koffern, beengt aber geschützt. Leila und Ali kauerten sich hinter den Vordersitz auf den Boden. Osterman saß am Steuer, und Tanner stand neben der Garagentür, bereit, sie hochzuziehen.

«Los jetzt, laß den Motor an!«Er würde warten, bis der Motor auf Touren lief und dann das Tor öffnen und in den Wagen springen. Es gab keine Hindernisse. Der schwere Wagen würde an dem kleinen Triumph vorbeirollen und dann die Einfahrt hinunterrasen.

«Los Bernie! Laß ihn endlich an!«

Aber Osterman öffnete seine Tür und stieg aus. Er sah Tanner an.

«Tot.«

Tanner drehte den Zündschlüssel im Triumph. Der Motor reagierte nicht. Osterman klappte die Motorhaube des Kombi auf und winkte John heran. Die beiden Männer sahen den Motor an, Tanner hielt ein Streichholz.

Jeder einzelne Draht war abgezwickt worden.

«Kann man diese Tür von außen öffnen?«fragte Bernie.

«Ja. Sofern nicht abgesperrt ist.«

«War sie das?«

«Nein.«

«Hätten wir sie öffnen gehört?«

«Wahrscheinlich nicht bei dem Regen.«

«Dann ist es möglich, daß jemand hier drinnen ist.«

Die beiden Männer blickten zu der schmalen Toilettentüre. Sie war geschlossen. Das einzige Versteck in der Garage.»Holen wir sie raus«, flüsterte Tanner.

Ali, Leila und die beiden Kinder gingen ins Haus zurück. Bernie und John sahen sich an den Garagenwänden nach irgendwelchen Gegenständen um, die als Waffen dienen konnten. Tanner nahm schließlich eine verrostete Axt, Osterman einen Spaten. Beide Männer näherten sich der verschlossenen Tür.

Tanner gab Bernie ein Zeichen, sie aufzuziehen. Tanner rannte vor und hielt die Axt zum Schlag bereit.

Der kleine Raum war leer. Aber an die Wand war mit schwarzer Sprühfarbe der griechische Buchstabe Omega geschmiert.

Загрузка...