Die drei Männer kleideten sich schnell an und verfrachteten den torkelnden, zusammenhanglos redenden Cardone auf den Vordersitz von Tremaynes Wagen. Betty und Ginny nahmen hinten Platz. Tanner beobachtete die ganze Zeit Joes Gesicht, besonders die Augen, ob dort irgend etwas darauf deutete, daß der andere sich verstellte. Aber da war nichts zu sehen. Und doch stimmte da etwas nicht, dachte er; an Cardones übertriebenen Bewegungen war zuviel Präzision. Setzte Joe sein Schweigen ein, um die anderen zu prüfen, fragte er sich?
Oder verzerrte etwa die zunehmende Spannung seine eigenen Beobachtungen?
«Verdammt!«rief Tremayne aus.»Ich habe mein Jackett im Haus gelassen.«
«Ich bringe es morgen in den Club«, sagte John.»Wir sind ja auf elf Uhr verabredet.«
«Nein, ich hole es lieber. Ich habe ein paar Notizen in der Tasche gelassen; die brauche ich vielleicht. Warte mit Bernie hier. Ich bin gleich wieder da.«
Dick rannte hinein und riß sein Jackett von einem Stuhl im Flur. Er sah Leila Osterman an, die im Wohnzimmer eine Tischplatte polierte.
«Wenn ich diese Ringe jetzt wegwische, bleibt den Tanners vielleicht noch etwas Mobiliar«, sagte sie.
«Wo ist Ali?«
«In der Küche. «Leila fuhr fort, auf der Tischplatte herumzureiben.
Als Tremayne die Küche betrat, räumte Alice gerade die Spülmaschine ein.
«Ali?«»Oh! — Dick. Alles klar mit Joe?«
«Joe ist in Ordnung. Wie geht's John?«
«Ist er nicht dort draußen, bei euch?«
«Ich bin hier drinnen.«
«Es ist schon spät; für Witze bin ich zu müde.«
«Mir ist wirklich nicht nach Witzen zumute. Wir waren immer gute Freunde, Ali. Du und Johnny, ihr bedeutet uns sehr viel, Ginny und mir.«
«Wir empfinden das genauso; das weißt du.«
«Das dachte ich auch. Das habe ich wirklich geglaubt. Hör mir zu…«Tremaynes Gesicht war gerötet; er schluckte ein paarmal, konnte das Zucken über seinem linken Auge nicht wegbringen.»Trefft keine Entscheidungen. Laß nicht zu, daß John — redaktionelle Entscheidungen trifft, die Leuten weh tun, solange er nicht begreift, warum sie das tun, was sie tun.«
«Ich verstehe nicht, was du…«
«Das ist sehr wichtig«, unterbrach Tremayne sie.»Er sollte versuchen, das zu verstehen. Das ist ein Fehler, den ich vor Gericht nie mache. Ich versuche immer zu verstehen.«
Alice erkannte die unausgesprochene Drohung.»Ich würde vorschlagen, du sagst das, was du sagen willst, ihm selbst.«
«Das habe ich, und er hat mir keine Antwort gegeben. Deshalb sage ich es dir. Denk daran, Ali. Niemand ist immer voll und ganz das, was er scheint. Nur, daß einige von uns etwas geschickter sind. Denk daran!«
Tremayne drehte sich um und ging hinaus; gleich darauf hörte Ali, wie die Haustüre ins Schloß fiel. Als sie auf die leere Tür blickte, bemerkte sie, daß noch jemand in der Nähe war. Das unverkennbare Geräusch eines leisen Schrittes war zu hören. Jemand war durch das Speisezimmer gegangen und stand jetzt bei der Anrichte um die Ecke herum, so, daß sie den Betreffenden nicht sehen konnte. Sie ging langsam und leise zu dem Bogen. Als sie in den kleinen, schmalen Raum trat, sah sie Leila reglos an der Wand stehen und vor sich hin starren.
Leila hatte das Gespräch in der Küche belauscht. Sie erschrak, als sie Ali sah, und lachte dann nervös. Sie wußte, daß sie ertappt worden war.
«Ich wollte mir einen frischen Lappen holen. «Sie zeigte Ali ein Staubtuch und ging ins Speisezimmer zurück, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Alice stand mitten in dem kleinen Anrichteraum und fragte sich, was das Schreckliches war, das ihnen allen widerfuhr. Irgend etwas, das das Leben jedes einzelnen im Hause betraf.
Sie lagen im Bett; Ali lag auf dem Rücken, John auf der linken Seite, von ihr abgewandt. Die Ostermans waren auf der anderen Seite des Korridors im Gästezimmer einquartiert. Das war das erste Mal am ganzen Abend, daß sie miteinander alleine waren.
Alice wußte, daß ihr Mann erschöpft war, aber sie konnte die Frage — oder war es eine Feststellung? — jetzt nicht länger hinausschieben.
«Zwischen dir und Dick und Joe gibt es irgendwelchen Ärger, nicht wahr?«
Tanner drehte sich herum; er blickte fast erleichtert zur Decke. Er hatte gewußt, daß die Frage kommen würde und hatte sich seine Antwort zurechtgelegt. Eine weitere Lüge; er begann sich an die Lügen zu gewöhnen. Aber es würde nicht mehr lange dauern — das hatte Fassett garantiert. Er begann ganz langsam, versuchte, beiläufig zu sprechen.
«Daß du auch so verdammt clever sein mußt.«
«Bin ich das?«Sie drehte sich auf die Seite herum und sah ihren Mann an.
«Es ist häßlich, aber es wird schon wieder vergehen. Du erinnerst dich doch, wie ich dir erzählt habe, daß Joe Loomis im Zug ein Aktienpaket verkaufen wollte?«
«Ja. Du wolltest nicht, daß Janet zum Mittagessen hinübergeht. Zu den Loomis, meine ich.«»Richtig… Nun, Joe und Dick haben sich mit Loomis eingelassen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen es bleiben lassen.«
«Warum?«
«Ich habe es überprüft.«
«Was?«
«Überprüft habe ich es. Wir haben ein paar Tausend herumliegen, die fünf Prozent einbringen. Ich habe gedacht, warum eigentlich nicht? Also hab ich Andy Harrison angerufen — er ist Syndikus in der Standard, du hast ihn letztes Ostern kennengelernt. Er hat Nachforschungen angestellt.«
«Und was hat er herausgefunden?«
«Die ganze Sache stinkt. Eine krumme Tour.«
«Etwas Ungesetzliches?«
«Das wird es wahrscheinlich nächste Woche sein. Harrison hat vorgeschlagen, daß wir uns damit befassen. Ein Feature. Würde eine Riesen-Show abgeben. Das hab' ich Joe und Dick gesagt.«
«Oh, mein Gott! Du würdest das in dein Programm aufnehmen?«
«Keine Sorge. Wir sind auf Monate ausgebucht. Wichtig ist das nicht. Und selbst wenn wir es tun würden, würde ich es ihnen sagen. Dann könnten sie rechtzeitig aussteigen.«
Ali hörte wieder, wie Cardone und Tremayne sagten: Hast du mit ihm gesprochen? Was hat er gesagt? Johnny soll keine Entscheidungen treffen… Sie waren in Panik gewesen, und jetzt begriff sie.»Joe und Dick sind fast krank vor Angst, das weißt du doch, oder?«
«Ja, ich hatte das Gefühl.«
«Du hattest das Gefühl? Um Himmels willen, das sind deine Freunde! Sie haben Angst! Schreckliche Angst!«
«Okay. Okay. Morgen im Club werde ich ihnen sagen, daß sie ganz ruhig sein können. Der Geier von San Diego fliegt heute nicht mehr.«»Wirklich, das war grausam! Kein Wunder, daß sie alle so aufgeregt waren! Sie meinen, daß du etwas Schreckliches tust. «Ali erinnerte sich an Leilas lautlose Gestalt, die sich gegen die Küchenwand drückte und lauschte, wie Tremayne abwechselnd bettelte und drohte.»Sie haben es den Ostermans gesagt.«
«Bist du sicher? Wie denn?«
«Laß nur, das ist nicht wichtig. Sie müssen glauben, daß du ein Unmensch bist. Morgen früh, um Himmels willen, morgen früh mußt du ihnen sagen, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.«
«Ich hab' doch gesagt, daß ich das tun würde.«
«Das erklärt so viel. Das dumme Geschrei am Pool, den Streit… Ich bin wirklich sehr böse auf dich. «Aber in Wirklichkeit war Alice Tanner das gar nicht; das Unbekannte war ihr jetzt bekannt. Sie konnte sich damit auseinandersetzen. Sie legte sich zurück, immer noch besorgt, immer noch beunruhigt, dafür aber auch in einem Maße ruhig, wie sie das seit einigen Stunden nicht mehr gewesen war.
Tanner schloß die Augen und atmete langsam aus. Seine Lüge hatte funktioniert. Besser als er das angenommen hatte. Jetzt war es leichter für ihn, leichter, die Tatsachen zu verändern.
Fassett hatte recht gehabt; er konnte sie alle im Griff behalten.
Selbst Ali.