Dienstag — 10.10 Uhr
Zu erregt, um sich in eine Bank im Saddle Valley Expreß zwängen zu können, beschloß Tremayne, mit dem Wagen nach New York zu fahren.
Als er auf der Route Five in östlicher Richtung auf die George Washington Brücke zuraste, fiel ihm im Rückspiegel ein hellblauer Cadillac auf. Als er nach links auf die Überholspur abbog und an den anderen Wagen vorbeiraste, folgte ihm der Cadillac. Als er wieder auf die rechte Bahn zurückkehrte und sich in den langsameren Verkehrsfluß hineinzwängte, tat es ihm der Cadillac gleich — immer ein paar Wagen hinter ihm.
An der Brücke näherte er sich einer Mautkabine und sah, daß der Cadillac auf einer schnelleren Spur mit ihm gleichzog. Er versuchte, den Fahrer auszumachen.
Es war eine Frau. Sie wandte das Gesicht ab; er konnte nur ihren Hinterkopf sehen. Und doch wirkte sie auf unbestimmte Weise vertraut.
Der Cadillac jagte davon, ehe er weiter nachdenken konnte. Der Verkehr nahm ihm jede Chance, ihm zu folgen. Er war sicher, daß der Cadillac ihn verfolgt hatte, aber ebenso sicher war, daß die Fahrerin nicht erkannt werden wollte.
Warum? Wer war sie?
War diese Frau >Blackstone
Er stellte fest, daß es ihm unmöglich war, im Büro irgend etwas zustande zu bringen. Er sagte die paar Verabredungen ab, die er getroffen hatte, und sah sich statt dessen die Aufzeichnungen über die letzten Firmenübernahmen durch, die er erfolgreich durch die Gerichte gebracht hatte. Besonders interessierte ihn eine Akte: The Cameron Woolens. Drei Fabriken in einer kleinen Stadt in Massachusetts, die seit Generationen der Familie Cameron gehört hatten. Der älteste Sohn hatte versucht, sie von innen heraus an sich zu ziehen. Ein Erpresser hatte ihn dazu gezwungen, seinen Anteil an der Gesellschaft an eine Bekleidungskette in New York zu verkaufen, die behauptete, sie interessiere sich für die Marke Cameron.
Sie bekamen sie und schlössen die Fabriken; die Stadt ging bankrott. Tremayne hatte die Bekleidungskette vor den Gerichten in Boston vertreten. Die Familie Cameron hatte eine Tochter. Eine unverheiratete Frau, Anfang Dreißig. Selbstbewußt, hartnäckig, verärgert.
Eine Frau hatte den Cadillac gesteuert. Eine Frau, etwa in den richtigen Jahren.
Und doch — jetzt eine Person auswählen, hieß, viele andere Möglichkeiten abzutun. Die Leute, die sich für Firmenübernahmen interessierten, wußten, wen sie anrufen sollten, wenn juristische Situationen etwas kompliziert wurden. Tremayne! Er war der Fachmann. Ein vierundvierzigjähriger Zauberkünstler, der sich in den neuen juristischen Gegebenheiten auskannte, der alte Paragraphen auf dem förmlich explodierenden Gebiet der Zusammenschlüsse einfach beiseite fegte.
War die Frau in dem hellblauen Cadillac die Cameron-Tochter gewesen?
Wie sollte er das wissen? Es gab so viele. Die Camerons. Die Smythes aus Atlanta. Die Boyntons aus Chicago. Die Fergusons aus Rochester. Die Übernahmespezialisten machten sich an die alten Familien heran, die Familien mit Geld. Die alten Familien mit Geld ließen es sich gut gehen; sie waren die idealen Zielobjekte. Wer unter ihnen mochte Blackstone sein?
Tremayne erhob sich aus seinem Sessel und ging ziellos in seinem Büro herum. Er konnte das Eingeschlossensein nicht länger ertragen; er mußte hinaus.
Was Tanner wohl sagen würde, wenn er ihn anrief und ihm vorschlug, gemeinsam den Lunch einzunehmen? Wie würde Tanner reagieren? Würde er annehmen, ganz beiläufig vielleicht? Würde er ablehnen? Würde es möglich sein — falls Tanner annahm —, irgend etwas zu erfahren, das mit der Warnung Blackstones in Verbindung stand?
Tremayne griff zum Telefon und wählte. Sein rechtes Augenlid zuckte, fast tat es weh.
Tanner saß in einer Besprechung. Tremayne war erleichtert; es war ohnehin unsinnig gewesen. Er hinterließ keine Nachricht und eilte aus seinem Büro.
An der Fifth Avenue bog ein Checker Taxi genau vor ihm in die Kreuzung und versperrte ihm den Weg.
«Hey, Mister!«Der Fahrer streckte den Kopf zum Fenster hinaus.
Tremayne fragte sich — ebenso wie ein paar andere Fußgänger
— wen er wohl meinte.
Sie sahen einander an.
«Sie, Mister! Heißen Sie Tremayne?«
«Ich? Ja…«
«Ich hab' eine Nachricht für Sie.«
«Für mich? Wie haben Sie…?«
«Ich muß mich beeilen, die Ampel schaltet gleich um, und ich hab' zwanzig Eier dafür bekommen. Ich soll Ihnen sagen, Sie sollen auf der Vierundfünfzigsten Straße nach Osten gehen. Gehen Sie einfach so lange, bis Sie Mr. Blackstone treffen.«
Tremayne legte dem Fahrer die Hand auf die Schulter.»Wer hat Ihnen das gesagt? Wer hat Ihnen…«
«Was weiß ich denn? Da sitzt so 'n Knilch seit halb zehn hinten in meiner Karre, und ich laß die Uhr laufen. Er hat 'nen Feldstecher und raucht dünne Zigarren.«
Das >Don't Walk<-Zeichen begann zu blinken.
«Was hat er gesagt! — Hier!«Tremayne griff in die Tasche und holte ein paar Geldscheine heraus. Er gab dem Fahrer einen Zehner.»Hier. Und jetzt sagen Sie es mir, bitte!«
«Was ich gesagt habe, Mister. Er ist vor ein paar Sekunden ausgestiegen und hat mir zwanzig Eier gegeben und gesagt, ich soll Ihnen sagen, Sie sollten auf der Vierundfünfzigsten nach Osten gehn. Das ist alles.«
«Das ist nicht alles!«Tremayne packte den Fahrer am Hemd.»Danke für den Zehner. «Der Fahrer stieß Tremaynes Hand weg, drückte auf die Hupe, um die Fußgänger zu verscheuchen, die vor ihm über die Straße gingen, und fuhr davon.
Tremayne hielt seine Panik unter Kontrolle. Er trat auf den Bürgersteig zurück und zog sich unter das Vordach eines Geschäftes zurück und sah die Männer an, die nach Norden gingen, versuchte, einen Mann mit einem Feldstecher oder einer dünnen Zigarre auszumachen.
Als er niemanden fand, begann er sich vorsichtig von Laden zu Laden in Richtung Vierundfünfzigste Straße zu bewegen. Er ging ganz langsam, starrte die Passanten an. Ein paar, die in dieselbe Richtung, aber viel schneller als er gingen, kollidierten mit ihm. Einige andere, die nach Süden gingen, bemerkten das seltsame Verhalten des blonden Mannes in dem teuer geschnittenen Anzug und lächelten.
An der Ecke der Vierundfünfzigsten Straße blieb Tremayne stehen. Trotz der leichten Brise und des leichten Anzugs, den er trug, schwitzte er. Er wußte, daß er nach Osten gehen mußte. Keine Frage.
Eines war klar. Blackstone war nicht die Frau in dem hellblauen Cadillac. Blackstone war ein Mann mit einem Feldstecher und dünnen Zigarren.
Wer war dann aber die Frau? Er hatte sie schon einmal gesehen. Das wußte er!
Er betrat jetzt die Vierundfünfzigste, ging auf der rechten Seite. Er erreichte die Madison Avenue, und niemand hielt ihn auf, niemand gab ihm ein Zeichen. Niemand sah ihn auch nur an. Dann über die Park Avenue mit der Insel in der Mitte.
Niemand.
Lexington Avenue. Vorbei an den großen Baustellen. Niemand. Third Avenue. Second First.
Niemand.
Jetzt erreichte Tremayne den letzten Block. Eine Sackstraße, die am East River endete, zu beiden Seiten von den Vordächern von Apartment-Häusern flankiert. Ein paar Männer mit Aktentaschen und Frauen mit Kaufhaus schachteln kamen und gingen aus beiden Gebäuden. Am Ende der Straße parkte ein hellbeiger Mercedes-Benz quer über die Straße, so als wollte er gerade umkehren. Und daneben stand ein Mann in einem eleganten weißen Anzug und einem Panamahut. Er war ein gutes Stück kleiner als Tremayne. Selbst auf dreißig Meter Entfernung konnte Tremayne erkennen, daß er kräftig gebräunt war. Er trug eine dicke, große Sonnenbrille und sah Tremayne direkt an, als Tremayne auf ihn zuging.
«Mr. - Blackstone?«
«Mr. Tremayne. Tut mir leid, daß Sie so weit gehen mußten. Wissen Sie, wir mußten sicher sein, daß Sie alleine sind.«
«Warum sollte ich das nicht sein?«Tremayne versuchte, den Akzent irgendwo unterzubringen. Er war kultiviert, aber nicht die Art, wie man sie in den nordöstlichen Staaten spricht.
«Ein Mann, der Schwierigkeiten hat, macht oft den Fehler, sich Gesellschaft zu suchen.«»Was für Schwierigkeiten hab' ich denn?«
«Sie haben doch meine Notiz bekommen?«-»Natürlich. Was sollte sie bedeuten?«
«Genau was in ihr steht. Ihr Freund Tanner ist für Sie sehr gefährlich. Und für uns. Wir wollen das nur betonen, so wie das gute Geschäftsleute untereinander tun sollten.«
«Mit welchen geschäftlichen Interessen sind Sie denn befaßt, Mr. Blackstone? Ich nehme an, daß Blackstone nicht Ihr echter Name ist, ich konnte Sie daher mit nichts in Verbindung bringen.«
Der Mann im weißen Anzug, dem Panamahut und der Sonnenbrille trat ein paar Schritte auf den Mercedes zu.
«Das haben wir Ihnen doch gesagt. Seine Freunde aus Kalifornien…«
«Die Ostermans?«
«Ja.«
«Meine Firma hat nie mit den Ostermans zu tun gehabt. Nie.«»Aber Sie, nicht wahr?«Blackstone ging um die Motorhaube herum und stand jetzt auf der anderen Seite des Mercedes.»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
«Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß es schon mein Ernst ist.«
Der Mann griff nach der Türklinke, öffnete die Tür aber nicht. Er wartete.
«Einen Augenblick! Wer sind Sie?«
«Blackstone genügt.«
«Nein! — Das, was Sie gesagt haben! Sie können doch unmöglich… «
Doch, wir können. Das ist es ja gerade. Und da Sie das jetzt wissen, sollte Ihnen das als Beweis ausreichen, daß wir über beträchtlichen Einfluß verfügen.«
«Worauf wollen Sie hinaus?«Tremayne stützte sich auf die Motorhaube des Mercedes und lehnte sich zu Blackstone hinüber.
«Es ist uns in den Sinn gekommen, Sie könnten vielleicht mit Ihrem Freund Tanner zusammengearbeitet haben. Das ist der Grund, weshalb wir Sie sehen wollten. Das wäre übrigens gar nicht ratsam. Wir würden nicht zögern, Ihren Beitrag zu den Osterman-Interessen der Öffentlichkeit bekanntzumachen.«
«Sie sind verrückt! Warum sollte ich mit Tanner zusammenarbeiten? Und in welcher Angelegenheit? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Blackstone nahm die Sonnenbrille ab. Seine Augen waren blau und durchdringend, und Tremayne konnte an seiner Nase und den Wangenknochen ein paar Sommersprossen sehen.»Wenn das stimmt, haben Sie nichts zu befürchten.«
«Natürlich stimmt es! Es gibt überhaupt keinen Grund, daß ich mit Tanner irgendwie zusammenarbeiten sollte!«
«Das ist logisch. «Blackstone öffnete die Tür seines Mercedes.»Sorgen Sie nur dafür, daß es so bleibt.«
«Um Himmels willen, Sie können doch nicht einfach wegfahren! Ich sehe Tanner jeden Tag. Im Club. Im Zug. Was zum Teufel soll ich denn denken, was sagen?«
«Sie meinen, wonach Sie Ausschau halten sollen? Wenn ich Sie wäre, würde ich mich so verhalten, als ob nichts geschehen wäre. Als ob wir uns nie begegnet wären… Vielleicht macht er Andeutungen — wenn Sie die Wahrheit sagen —, vielleicht sucht er. Dann werden Sie es wissen.«
Tremayne richtete sich auf, kämpfte um Fassung.»Ich glaube, es wäre für uns alle am besten, wenn Sie mir sagten, wen Sie vertreten. Das wäre wirklich am besten.«
«Oh, nein, mein Freund. «Blackstones Antwort war von einem kurzen Lachen begleitet.»Sie müssen wissen, uns ist aufgefallen, daß Sie sich in den letzten paar Jahren eine beunruhigende Angewohnheit zugelegt haben. Nichts Ernsthaftes, im Augenblick wenigstens, aber etwas, was wir in Betracht ziehen müssen.«
«Was für eine Angewohnheit?«
«In gewissen Zeitabständen trinken Sie zuviel.«»Das ist lächerlich!«
«Ich sagte ja, nichts Ernstes. Ihre Arbeit ist brillant. Dennoch haben Sie, in solchen Zeiten nicht de übliche Kontrolle über sich. Nein, es wäre ein Fehler, Sie damit zu belasten, besonders in Ihrem augenblicklichen Zustand der Angst.«
«Gehen Sie nicht. Bitte!«
«Wir melden uns wieder. Vielleicht erfahren Sie etwas, das uns weiterhilft. Jedenfalls, wir beobachten Ihre — Arbeit stets mit großem Interesse.«
Tremayne zuckte zusammen.»Was ist mit den Ostermans? Das müssen Sie mir sagen.«
«Wenn Sie in Ihrem Juristenkopf ein Hirn haben, werden Sie gegenüber den Ostermans nichts erwähnen! Nicht einmal eine Andeutung machen! Wenn Osterman mit Tanner zusammenarbeitet, werden Sie das erfahren. Wenn nicht, sollten Sie ihn nicht auf irgendwelche Gedanken über Sie bringen. «Blackstone setzte sich auf den Fahrersitz des Mercedes und ließ den Motor an. Ehe er wegfuhr, sagte er:»Behalten Sie klaren Kopf, Mr. Tremayne. Wir melden uns wieder.«
Tremayne versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen; er spürte, wie sein Augenlid wieder zuckte. Gottseidank hatte er Tanner nicht erreicht! Unvorbereitet hätte er vielleicht etwas gesagt — etwas Dummes, Gefährliches.
War Osterman ein solch gigantischer Narr gewesen — oder Feigling —, um John Tanner gegenüber die Wahrheit über Zürich verlauten zu lassen? Ohne sie zu befragen?
Wenn das der Fall war, würde man Zürich verständigen müssen. Zürich würde sich um Osterman kümmern. Ans Kreuz würden sie ihn schlagen.
Er mußte Cardone finden. Sie mußten entscheiden, was zu tun war. Er rannte zur nächsten Telefonzelle.
Betty sagte ihm, Joe wäre ins Büro gefahren. Cardones Sekretärin sagte ihm, Joe sei noch in Urlaub.
Joe trieb Spielchen. Das Zucken über Tremaynes linkem Auge nahm ihm fast die Sicht.