Kapitel 28

Er stand in der abgedunkelten Eingangsnische eines Spielzeygladens. Es kam ihm in den Sinn, daß Scanlans Mercedes im Ort recht bekannt war, und die Tremaynes, de Cardones und vielleicht sogar die Ostermans wußten, daß Scanlan sein nächster Nachbar war. Vielleicht lag darin sogar ein Vorteil für ihn, überlegte er. Wenn man davon ausging, daß er den Wagen ausgeborgt hatte, würde man weiterhin annehmen, daß er in der Gegend geblieben war. Die Suche würde also gründlich sein. Ihm blieb jetzt nur das Warten. Warten, bis kurz nach zwei, ehe er zum alten Lassiter-Bahnhof fuhr.

Im Ortszentrum würde er warten, um zu sehen, wer ihm folgte, wer versuchen würde, ihn daran zu hindern, den Treffpunkt aufzusuchen. Welches Ehepaar? Oder würden es alle drei sein? Denn Omega mußte jetzt von tiefer Angst erfüllt sein. Das Unaussprechliche war gesagt worden, das Geheimnis ans Licht gezerrt.

Omega würde jetzt versuchen, ihn aufzuhalten. Wenn irgend etwas von dem, was Fassett gesagt hatte, stimmte, war das die einzige Möglichkeit, die ihnen offen blieb. Sie mußten ihn aufhalten, ehe er den alten Bahnhof erreichte.

Damit rechnete er. Doch sie würden ihn nicht aufhalten — er würde dafür sorgen, daß es nicht dazu kam. Aber er wollte im voraus wissen, wer der Feind war.

Er blickte die Straße hinauf und hinunter. Vier Leute waren zu sehen. Ein Ehepaar, das einen Dalmatiner spazierenführte, ein Mann, der aus dem Pub kam und der Fahrer, der auf dem Vordersitz seines Taxis schlief.

Tanner sah jetzt, wie sich aus dem Osten langsam das Scheinwerferpaar eines Wagens näherte. Bald erkannte er, daß es sein eigener Kombi war. Er preßte sich in die unbeleuchtete Eingangsnische.

Am Steuer saß Leila Osterman. Alleine.

Tanners Puls beschleunigte sich. Was hatte er getan? Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß eines der Ehepaare sich in einer Krise trennen würde! Und doch war Leila alleine! Und es gab nichts, das Osterman daran hindern konnte, seine Familie als Geisel festzuhalten! Osterman war einer derer, die geschützt wurden, nicht einer der Gejagten. Er konnte sich frei bewegen, das Grundstück verlassen, wenn er das wollte. Er konnte Ali und die Kinder sogar zwingen, mit ihm zu gehen, wenn er das für notwendig hielt!

Leila parkte den Kombi vor dem Pub, stieg aus und ging schnell zu dem Taxifahrer hinüber, rüttelte ihn wach. Sie redeten einen Augenblick miteinander; Tanner konnte die Stimmen nicht hören. Schließlich wandte sich Leila wieder von ihm ab und ging zum Pub zurück, trat ein. Tanner blieb in der Eingangsnische stehen, spielte mit den Münzen, die er in der Tasche hatte, wartete darauf, daß sie wieder herauskam. Das Warten war für ihn wie ein Alptraum. Er mußte zu der Telefonzelle! Er mußte die Polizei erreichen! Er mußte sicherstellen, daß seine Familie in Sicherheit war!

Schließlich erschien sie wieder, stieg in den Wagen und fuhr davon. Fünf oder sechs Häuserblocks westlich von seinem augenblicklichen Standort bog sie nach rechts; der Wagen verschwand.

Tanner rannte über die Straße zu der Telefonzelle. Er warf einen Dime ein und wählte.

«Hello?«

Dem Himmel sei Dank! Es war Ali!

«Ich bin es.«

«Wo bist du…«

«Das ist jetzt nicht wichtig. Alles ist gut… Bei dir alles in Ordnung?«Er hörte scharf hin, ob ihrem Tonfall irgend etwas anzumerken war, das nicht stimmte.

«Natürlich ist hier alles in Ordnung. Wir machen uns große Sorgen um dich. Was machst du?«

Ihre Stimme klang ganz natürlich. Alles war gut.

«Ich habe jetzt keine Zeit. Ich möchte…«

Sie unterbrach ihn.»Leila ist weggefahren, um dich zu suchen. Du hast einen furchtbaren Fehler gemacht… Wir haben miteinander gesprochen. Du und ich, wir hatten unrecht, Darling. Das ist alles ganz anders. Bernie hat sich solche Sorgen gemacht, daß er meinte…«

Er unterbrach sie. Er hatte jetzt keine Zeit übrig, die er vergeuden konnte; nicht mit den Ostermans, nicht jetzt.

«Bleib vorsichtig. Tu, was ich sage. Laß sie nicht aus den Augen!«

Er legte auf, ehe sie etwas sagen konnte. Er mußte die Polizei erreichen. Jede Sekunde zählte jetzt.

«Polizeihauptquartier. Jenkins am Apparat.«

Der eine Mann bei der Polizeibehörde von Saddle Valley, der für Omega freigegeben war, war also zurück. MacAuliff hatte ihn zurückgerufen.

«Hauptquartier«, wiederholte der Beamte ungehalten.

«Hier ist John Tanner…«

«Du lieber Gott, wo waren Sie denn? Wir haben die ganze Gegend nach Ihnen abgesucht.«

«Sie werden mich nicht finden. Nicht, solange ich das nicht will… Jetzt hören Sie mir zu! Die beiden Polizisten im Haus — ich möchte, daß sie bei meiner Frau bleiben. Sie dürfen sie keinen Augenblick alleine lassen! Die Kinder auch nicht! Nie! Keiner von ihnen darf mit Osterman alleine sein!«

«Natürlich! Das wissen wir! Jetzt sagen Sie mir, wo Sie sind! Seien Sie doch kein verdammter Narr!«

«Ich rufe später wieder an. Versuchen Sie gar nicht erst herauszufinden, woher dieser Anruf kam. Ich bin bis dahin nicht mehr hier.«

Er warf den Hörer auf die Gabel und öffnete die Tür, sah sich nach einem besseren Aussichtspunkt als dem Ladeneingang um. Von dort konnte er nicht unbeobachtet weglaufen. Er fing an, die Straße zu überqueren. Der Taxifahrer schlief wieder.

Plötzlich hörte Tanner ohne jegliche Warnung das Dröhnen eines Motors. Die verschwommene Silhouette eines Wagens ohne Scheinwerfer schoß auf ihn zu. Er kam mit ungeheurer Geschwindigkeit irgendwo aus dem Nichts. Er rannte auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zu, nur wenige Schritte vor dem daherrasenden Wagen, machte einen Satz auf den Bordstein.

Im gleichen Augenblick verspürte er einen kräftigen Schlag am linken Bein. Das durchdringende Geräusch von Reifen, die auf Asphalt bremsten, war zu hören. Tanner stürzte, wälzte sich zur Seite und sah, wie der schwarze Wagen den Mercedes nur knapp verfehlte und dann die Valley Road hinunterraste.

Die Stelle an seinem linken Bein tat scheußlich weh; seine Schulter tobte wieder. Hoffentlich würde er gehen können! Er mußte gehen können!

Der Taxifahrer kam auf ihn zugerannt.

«Herrgott! Was ist passiert?«

«Helfen Sie mir aufstehen, ja?«

«Na klar! Klar! Alles in Ordnung? Der muß vielleicht geladen haben! Herrgott! Umbringen hätte der Sie können. Soll ich einen Arzt holen?«

«Nein. Nein, ich glaube nicht.«

«Ich hab' ein Telefon dort drüben! Ich ruf die Bullen an! Die haben in Nullkommanichts einen Doktor hier!«

«Nein! Nein, tun Sie's nicht! Es geht schon. Helfen Sie mir nur ein bißchen auf und ab gehen. «Es bereitete ihm Schmerzen, aber Tanner stellte fest, daß er sich bewegen konnte. Das war das Allerwichtigste. Der Schmerz hatte jetzt keine Bedeutung. Nichts außer Omega hatte etwas zu bedeuten. Und Omega hatte sich zeigen müssen!

«Ich glaube, ich rufe doch lieber die Polizei«, sagte der Fahrer, der immer noch Tanners Arm festhielt.»Solche Rowdys gehören nicht auf die Straße.«

«Nein… Ich meine, ich hab' die Nummer nicht gesehen. Nicht einmal, was für ein Wagentyp das war. Es würde nichts nützen.«

«Ja, wahrscheinlich nicht. Würde dem Schweinehund ja recht geschehen, wenn er gegen einen Baum raste.«

«Ja. Das finde ich auch. «Tanner konnte jetzt wieder alleine gehen. Er würde es schon irgendwie schaffen.

Das Telefon am Taxistand auf der anderen Straßenseite klingelte.

«Das ist mein Telefon… Bei Ihnen alles klar?«

«Sicher. Vielen Dank auch.«

«Samstagnacht. Wahrscheinlich der einzige Anruf, den ich während der ganzen Schicht kriege. Die haben um diese Zeit nur ein Taxi im Einsatz. Und das ist schon eines zuviel. «Der Fahrer setzte sich in Bewegung.»Viel Glück und alles Gute. Brauchen Sie auch wirklich keinen Arzt?«

«Nein, wirklich nicht. Vielen Dank noch mal.«

Er sah zu, wie der Fahrer den Hörer abnahm, sich eine Adresse notierte, und hörte dann seine Stimme, als er sie wiederholte:

«Tremayne. Sechzehn Peachtree. Bin in fünf Minuten da, Madam. «Er legte auf und sah, daß Tanner ihn beobachtete.»Was sagen Sie dazu? Zu einem Motel in Kennedy will sie. Mit wem sie's wohl dort treiben mag?«

Tanner wunderte sich. Die Tremaynes hatten zwei eigene Wagen… Hatte Tremayne die Absicht, den Befehl zu ignorieren, zum alten Lassiter-Bahnhof zu kommen? Oder hoffte er nur, ihn im Ort zu isolieren, indem er sicherstellte, daß das einzige Taxi, das zur Verfügung stand, nicht da war?

Beides war möglich.

Tanner humpelte auf eine Seitengasse zu, die am Pub entlangführte und in erster Linie von Lieferanten benutzt wurde. Sie führte zu einem öffentlichen Parkplatz, aus dem er, wenn es nötig sein sollte, ungesehen entkommen konnte. Er blieb in der finsteren Gasse stehen und massierte sein Bein. In einer Stunde würde er dort einen ansehnlichen Bluterguß haben.

Er sah auf die Uhr. Es war zwölf Uhr neunundvierzig. Noch eine Stunde, dann würde er zu dem alten Bahnhof fahren. Vielleicht würde der schwarze Wagen wiederkommen. Vielleicht würden auch andere kommen.

Er hätte gerne geraucht, wollte aber so nahe bei der Straße kein Streichholz anreißen. Das Glühen der Zigarette konnte er hinter der hohlen Hand verbergen, nicht aber die Flamme eines Streichholzes. Er ging zehn Meter in die dunkle Gasse hinein und zündete sich die Zigarette an. Er hörte etwas. Schritte?

Vorsichtig schlich er wieder zum Eingang an der Valley Road zurück. Der Ort war verlassen. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, kamen aus dem Pub. Dann öffnete sich die Tür des Lokals, und drei Leute kamen heraus: Jim und Nancy Loomis, mit einem Mann, den er nicht erkannte. Er lächelte wehmütig.

Da war er jetzt, John Tanner, der angesehene Chef der Nachrichtenredaktion von Standard Mutual, und verbarg sich in einer finsteren Gasse — schmutzig, vom Regen durchnäßt, mit einer Streifschußnarbe an der Schulter und einem beginnenden Bluterguß am Bein, den ihm ein Fahrer zugefügt hatte, der ihn ermorden wollte — und beobachtete Jim und Nancy aus dem Hinterhalt, wie sie das Pub verließen. Jim Loomis. Omega hatte ihn berührt, und er würde das nie erfahren.

Auf der Valley Road kam aus dem Westen — der Richtung der Staatsstraße fünf — ein Automobil, das leise, mit höchstens zehn Meilen die Stunde, fuhr. Der Fahrer schien auf der Valley Road jemanden oder etwas zusuchen.

Es war Joe.

Er war also nicht nach Philadelphia gefahren. Es gab keinen sterbenden Vater in Philadelphia. Die Cardones hatten gelogen.

Tanner überraschte das nicht.

Er preßte seinen Rücken gegen die Mauer und hoffte, daß man ihn nicht sehen würde, aber er war ein kräftig gebauter Mann. Aus keinem anderen Grund, als weil es ihm ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, zog Tanner die Pistole aus dem Gürtel. Wenn nötig, würde er Cardone töten.

Als der Wagen noch vierzig Fuß von ihm entfernt war, ließen zwei kurze Hupentöne eines zweiten Fahrzeugs, das aus der entgegengesetzten Richtung kam, Cardone anhalten.

Der zweite Wagen rollte schnell heran.

Es war Tremayne. Als er an der Gasse vorbeirollte, konnte Tanner sein von panischer Angst verzerrtes Gesicht sehen.

Der Anwalt hielt neben Cardone an, und die beiden Männer redeten schnell, mit leiser Stimme miteinander. Tanner konnte nichts verstehen, merkte aber, daß die beiden Männer schnell und in großer Erregung redeten. Tremayne wendete auf der Straße, und dann rasten die beiden Fahrzeuge in der gleichen Richtung davon.

Tanner entspannte sich, dehnte die verkrampften Glieder. Jetzt wußte er über alle Bescheid. Über alle, die er kannte, und einen weiteren, von dem er nichts wußte. Omega plus eins, überlegte er. Wer war in dem schwarzen Wagen gesessen? Wer hatte versucht, ihn zu überfahren?

Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Er hatte gesehen, was er sehen mußte. Er würde jetzt bis auf ein paar hundert Meter an den Lassiter-Bahnhof heranfahren und darauf warten, daß Omega sich erklärte.

Er ging aus der Gasse heraus, auf den Wagen zu. Dann blieb er stehen.

Mit dem Wagen stimmte etwas nicht. Im gedämpften Licht der Gaslaternen konnte er sehen, daß das Hinterende des Wagens auf die Straße heruntergesunken war. Die verchromte Stoßstange stand nur ein paar Zoll über dem Pflaster.

Er rannte auf den Wagen zu und holte die Taschenlampe heraus. Die beiden hinteren Reifen waren platt, das Gewicht des schweren Wagens ruhte auf den Felgen. Er kauerte sich nieder und sah zwei Messer in den Reifen stecken.

Wie? Wann? Er war die ganze Zeit höchstens zwanzig Meter entfernt gewesen! Die Straße war verlassen! Niemand! Niemand hatte sich an den Mercedes heranschleichen können, ohne ihm aufzufallen!

Höchstens vielleicht in diesen paar Augenblicken in der Gasse. Jenen Augenblicken, in denen er sich die Zigarette angezündet und sich an die Wand gepreßt hatte, um Tremayne und Cardone zu beobachten. Jenen Sekunden, in denen er geglaubt hatte, Schritte zu hören.

Die Reifen waren vor höchstens fünf Minuten aufgeschlitzt worden!

Herrgott, dachte Tanner. Es hatte doch noch nicht aufgehört! Omega war ihm auf den Fersen. Sie wußten Bescheid. Wußten über jeden Schritt, den er tat, Bescheid. Jede Sekunde!

Was hatte Ali am Telefon sagen wollen? Bernie hatte was? Er ging auf die Zelle zu, holte den letzten Dime aus der Tasche. Während er die Straße überquerte, zog er die Pistole aus dem Gürtel. Vielleicht wartete derjenige, der ihm die Reifen aufgeschnitten hatte, irgendwo, beobachtete ihn.

«Ali?«

«Darling, um Gottes willen, komm nach Hause!«

«Es dauert richt mehr lange, Honey. Ehrlich, es gibt keine Probleme. Gar keine Probleme… Ich möchte dich nur etwas fragen. Das ist wichtig.«

«Es ist genauso wichtig, daß du nach Hause kommst!«

«Du hast vorher gesagt, Bernie hätte sich zu etwas entschlossen. Was war das?«

«Oh… Als du das erstemal anriefst. Leila ist dir nachgefahren; Bernie wollte uns nicht alleine lassen. Aber er machte sich Sorgen, daß du nicht auf sie hören würdest, und dann hat er beschlossen, sich selbst auf die Suche nach dir zu machen, nachdem ja Polizei hier war.«

«Hat er den Triumph genommen?«»Nein. Er hat sich von einem der Polizisten einen Wagen ausgeliehen.«

«O Gott!«Tanner wollte nicht ins Telefon schreien, aber er konnte nicht anders. Der schwarze Wagen, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war! Das plus eins war in Wirklichkeit doch Teil der drei!» Ist er zurück?«

«Nein. Aber Leila ist wieder da. Sie meint, er hat sich vielleicht verfahren.«

«Ich rufe wieder an. «Tanner legte auf. Natürlich hatte Bernie sich >verfahren<. Er hatte noch nicht genügend Zeit gehabt, zurückzufahren. Nicht, seit Tanner in der Gasse gewesen war, nicht, seit man ihm die Reifen aufgeschlitzt hatte.

Und jetzt erkannte er, daß er irgendwie zum Lassiter-Bahnhof mußte. Ihn erreichen und dort Stellung beziehen mußte, ehe irgendein Teil von Omega ihn aufhalten konnte oder erfuhr, wo er war.

Die Lassiter Road lag in nordwestlicher Richtung, etwa drei Meilen vom Ortszentrum entfernt. Und ein oder zwei Meilen dahinter stand der alte Bahnhof. Er würde zu Fuß gehen. Das war alles, was er tun konnte.

Er machte sich so schnell er konnte auf den Weg. Die Schmerzen in seinem Bein ließen bald nach. Nach einer Weile duckte er sich in eine Türnische. Niemand folgte ihm.

Er setzte seinen Marsch im Zick-Zackkurs in nordwestlicher Richtung fort, bis er den Rand der Ortschaft erreichte — dort gab es keine Bürgersteige mehr, nur große Rasenflächen. Lassiter war jetzt nicht mehr weit. Zweimal legte er sich flach auf den Boden, wenn Autos an ihm vorbeirasten, deren Fahrer nur auf die Straße vor ihnen achteten, sonst auf nichts.

Schließlich erreichte er durch ein kleines Wäldchen hinter einem gepflegten Rasen die Lassiter Road.

Auf der grob geteerten Straße bog er nach links und setzte zum letzten Teilstück seines Abenteuers an. Seiner Berechnung nach hatte er höchstens noch eine oder eineinhalb Meilen zu gehen. Wenn sein Bein ihm nicht den Dienst versagte, würde er die verlassene Station in fünfzehn Minuten erreichen. Wenn nicht, dann würde er einfach sein Tempo verlangsamen — aber er würde hinkommen. Seine Uhr zeigte ein Uhr einundvierzig. Er hatte noch Zeit.

Omega würde nicht vor der Zeit kommen. Das konnte man sich nicht leisten. Es — oder sie — wußte nicht, was sie erwartete.

Tanner hinkte die Straße entlang und stellte fest, daß e sich besser — sicherer fühlte, wenn er Scanlans Pistole in der Hand hielt. Er sah ein Licht, das hinter ihm aufblitzte. Scheinwerfer, drei- oder vierhundert Meter entfernt. Er drang in das Wäldchen ein, das die Straße säumte, und legte sich flach auf den schlammigen Boden.

Der Wagen rollte langsam an ihm vorbei. Es war derselbe schwarze Wagen, der ihn an der Valley Road attackiert hatte.

Er konnte den Fahrer nicht sehen; die Straße war nicht beleuchtet, es war also recht dunkel.

Als der Wagen verschwunden war, ging Tanner zur Straße zurück. Er hatte überlegt, ob er vielleicht zwischen den Büschen weitergehen sollte, aber das ging nicht. Auf der Asphaltstraße würde er schneller vorankommen. Er ging weiter, humpelte jetzt wieder, fragte sich, ob der schwarze Wagen einem Polizisten gehörte, der augenblicklich auf 22, Orchard Drive, stationiert war. Ob der Fahrer vielleicht ein Schriftsteller namens Osterman war?

Er hatte fast eine halbe Meile zurückgelegt, als die Lichter wieder auftauchten, nur diesmal vor ihm. Er warf sich in das Gebüsch und hoffte, daß man ihn nicht gesehen hatte, entsicherte seine Pistole, während er auf dem Boden lag.

Der Wagen näherte sich jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit. Der Fahrer raste zurück, um irgend jemanden zu finden.

War es sein Ziel, ihn zu finden? Oder Leila Osterman?

Oder wollte er Cardone erreichen, der keinen sterbenden Vater in Philadelphia hatte. Oder Tremayne, der nicht zu dem Motel am Kennedy Airport unterwegs war.

Tanner stand auf und ging weiter. Sein Bein fühlte sich so an, als würde es ihm jeden Augenblick den Dienst versagen. Er hielt die Pistole fest in der Hand.

Die Straße beschrieb einen leichten Bogen, und dann war er da. Eine einzige Straßenlampe, die schon etwas durchhing, beleuchtete das zerfallende Stationsgebäude. Das alte Bahnhofsgebäude war mit Brettern vernagelt, und aus den Spalten in dem halbverfaulten Holz wucherte Unkraut. Kleine, häßliche Blätter wuchsen aus dem Fundament. Kein Wind, kein Regen war zu verspüren, kein Laut, nur das rhythmische Tropfen von Wasser von Tausenden von Ästen und Blättern — die letzten erschöpften Nachwirkungen des Sturms.

Er stand am Rande der verkommenen, von Unkraut überwucherten Parkfläche und versuchte sich zu entscheiden, wo er Posten beziehen sollte. Es war fast zwei Uhr, und er mußte ein Versteck finden. Das Stationsgebäude selbst! Vielleicht konnte er sich Zutritt verschaffen. Er machte sich auf den Weg, quer über die Kiesfläche.

Ein blinkendes Licht blitzte ihm in die Augen, seine Reflexe ließen ihn einen Satz nach vorne machen. Er rollte sich über die verwundete Schulter ab, fühlte aber keinen Schmerz. Ein kräftiger Scheinwerfer hatte die Düsternis durchstochen, die das Bahnhofsgelände einhüllte, und jetzt hallten Schüsse durch die Nacht. Kugeln bohrten sich rings um ihn in den Boden oder pfiffen ihm über den Kopf. Er rollte sich weiter, wußte, daß eine der Kugeln ihn am linken Arm getroffen hatte.

Jetzt hatte er den Rand der Kiesfläche erreicht und hob seine Pistole, richtete sie auf das blendende Licht. Er feuerte schnell in Richtung auf den Feind. Der Scheinwerfer explodierte; dann hallte ein Schrei. Tanner drückte immer wieder ab, bis das Magazin leer war. Er versuchte, mit der linken Hand in die Tasche zu greifen und einen zweiten Ladestreifen herauszuholen, mußte aber feststellen, daß er den Arm nicht bewegen konnte.

Jetzt herrschte wieder Stille. Er legte die Pistole hin und holte schwerfällig mit der rechten Hand ein Magazin heraus. Dann drehte er die Pistole herum, hielt den heißen Lauf mit den Zähnen fest und schob das frische Magazin in die Kammer, verbrannte sich dabei die Lippen.

Er wartete darauf, daß sein Feind sich bewegte, irgendein Geräusch verursachte. Aber nichts regte sich.

Langsam erhob er sich. Sein linker Arm war jetzt völlig bewegungsunfähig. Er hielt die Pistole vor sich, bereit abzudrücken, wenn sich das geringste im Gras bewegte.

Aber da war nichts.

Tanner schob sich rückwärts durch die Bahnhofstüre, hielt die Waffe in die Höhe, tastete den Boden vorsichtig mit den Füßen ab, um nicht von einem unerwarteten Hindernis zu Fall gebracht zu werden. Jetzt erreichte er die mit Brettern vernagelte Türe, wußte, daß er sich unmöglich Zugang verschaffen konnte, wenn sie zugenagelt war. Sein Körper war jetzt fast bewegungsunfähig. Er verfügte nur noch über wenig Kraft.

Trotzdem drückte er mit dem Rücken gegen die Tür, und das schwere Holz gab leicht nach, ächzte dabei laut. Tanner drehte den Kopf und sah, daß der Spalt drei oder vier Zoll breit war. Die alten Scharniere waren mit Rost verkrustet. Er warf sich mit der rechten Schulter gegen die Tür, und sie gab nach, ließ Tanner in die Finsternis stürzen, auf den verfaulenden Boden des Stationsgebäudes.

Dort blieb er ein paar Sekunden lang liegen. Die Bahnhof sture stand jetzt zu Dreiviertel offen, die obere Hälfte war aus den Angeln gebrochen. Die fünfzig Meter entfernte Straßenlaterne lieferte stumpfes Licht. Zerbrochene oder fehlende Bretter im Dach ließen etwas Helligkeit hereinfallen.

Plötzlich hörte Tanner ein ächzendes Geräusch hinter sich. Unverkennbar ein Schritt auf dem verfaulenden Boden. Er versuchte sich umzudrehen, versuchte aufzustehen. Zu spät. Etwas schmetterte ihm gegen den Schädel. Er fühlte, wie ihn Benommenheit umfing, sah aber den Fuß. Einen in Verbände gehüllten Fuß.

Als er auf dem verfaulenden Boden zusammenbrach und Schwärze ihn umfing, blickte er nach oben in ein Gesicht.

Tanner wußte, daß er Omega gefunden hatte.

Es war Laurence Fassett.

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