Mittwoch — 10.15
Es war viertel nach zehn, bis Tanner sein Büro erreichte. Es war ihm fast unmöglich gewesen, sein Haus zu verlassen, aber er wußte, daß Fassett recht hatte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und sah sich geistesabwesend seine Post und die verschiedenen Hausmitteilungen an. Jeder wollte einen sprechen. Keiner wollte ohne seine Zustimmung eine Entscheidung treffen.
Er nahm das Telefon und wählte New Jersey.
«Hello, Ali?«
«Tag, Honey. Hast du was vergessen?«
«Nein… Nein. Ich wollte nur deine Stimme hören. Was machst du?«
Auf Orchard Place 22, Saddle Valley, New Jersey, lächelte Alice Tanner. Ein Gefühl der Wärme durchzog sie.»Was ich mache? Nun, ich beaufsichtige der Anweisung des großen Paschas gemäß den Sohn der beiden, wie er den Keller saubermacht. Und ebenfalls gemäß Anweisung des großen Paschas verbringt seine Tochter einen heißen Julivormittag damit, Lesen zu üben. Wie sollte sie sonst vor Erreichen des zwölften Lebensjahres die Aufnahmeprüfung nach Berkeley schaffen?«
Tanner spürte die Anklage, die in diesen Worten lag. Als seine Frau ein junges Mädchen gewesen war, hatte sie oft einsame, schreckliche Sommertage verbracht. Ali wollte, daß es Janet nicht auch so ging.
«Nun, übertreib's nicht. Laß ein paar Kinder rüberkommen.«
«Das mach ich vielleicht. Aber Nancy Loomis hat angerufen und gefragt, ob Janet zum Mittagessen kommen kann…«
«Ali…«Tanner nahm den Hörer in die linke Hand.»Ich würde mich auf ein paar Tage bei den Loomis ein wenig rar machen… «
«Was soll das heißen?«
John erinnerte sich seiner täglichen Zugfahrten mit Jim Loomis.»Jim hat da so ein kleines Aktienmanöver vor. Eine Menge Leute im Zug wollen mitmachen. Wenn ich ihm bis nächste Woche aus dem Weg gehen kann, kann ich mich da raushalten.«»Was sagt Joe?«
«Er weiß nichts davon. Loomis möchte nicht, daß Joe etwas erfährt. Hausrivalität, denke ich.«
«Ich sehe nicht ein, daß es etwas damit zu tun hat, wenn Janet… «»Ist aber besser so. Wir haben das Geld nicht, auf das er aus ist.«
«Das kannst du zweimal sagen!«
«Und — tu mir einen Gefallen. Bleib heute in der Nähe des Telefons.«
Alice sah unwillkürlich den Hörer an, den sie in der Hand hielt.»Warum?«
«Ich kann jetzt nichts sagen, aber ich erwarte einen wichtigen Anruf. Wovon wir immer geredet haben…«
Alice Tanner senkte unwillkürlich ihre Stimme und lächelte.»Jemand hat dir etwas angeboten!«
«Könnte sein. Die wollen mich zu Hause anrufen und eine Verabredung zum Mittagessen mit mir treffen.«
«Oh, John. Wie aufregend!«
«Es könnte interessant sein. «Plötzlich schmerzte es ihn, mit ihr zu sprechen.»Wir reden später noch mal.«
«Klingt herrlich, Darling. Ich drehe die Glocke auter. So laut, daß man sie in New York hören kann.«
«Ich ruf dich später an.«
«Dann kannst du mir ja Einzelheiten erzählen.«
Tanner legte den Hörer langsam auf die Gabel. Die Lügen hatten angefangen… Aber seine Familie würde zu Hause sein.
Er wußte, daß er sich jetzt um seine Arbeit kümmern mußte. Fassett hatte ihn gewarnt. Es durfte keinen Bruch in seinem normalen Verhalten geben, und der Normalzustand für einen Nachrichtenchef war ein Zustand, der fast der Hysterie nahe kam. Und Tanner war bei Standard Mutual dafür bekannt, daß er Schwierigkeiten unter Kontrolle bekommen konnte. Wenn es je in seinem Berufsleben eine Zeit gab, in der er Chaos vermeiden mußte, dann war diese Zeit jetzt da.
Er nahm den Telefonhörer ab.»Norma. Ich lese Ihnen jetzt die Liste der Leute vor, die ich heute morgen empfange, und Sie rufen sie an. Sagen Sie jedem, daß ich nicht viel Zeit habe, und geben Sie keinem mehr als fünfzehn Minuten, wenn ich es nicht ausdrücklich sage. Es wäre gut, wenn jeder seine Probleme und Vorschläge jeweils auf eine halbe Schreibmaschinenseite zusammenfassen würde. Das können Sie denen ja sagen. Ich habe hier noch ziemlich viel auf dem Tisch.«
Damit war er bis nach halb eins beschäftigt. Dann schloß er seine Tür und rief seine Frau an.
Niemand meldete sich.
Er ließ das Telefon fast zwei Minuten lang klingeln, bis die Abstände zwischen den einzelnen Klingelsignalen länger und länger zu werden schienen.
Keine Antwort am Telefon — dem Telefon, dessen Glocke so laut eingestellt war, daß man sie in New York hören konnte.
Es war zwölf Uhr fünfunddreißig. Ali ging wahrscheinlich davon aus, daß zwischen zwölf und halb zwei niemand anrufen würde. Wahrscheinlich hatte sie etwas aus dem Supermarkt gebraucht. Oder sie hatte beschlossen, mit den Kindern auf ein paar Hamburger in den Club zu fahren. Oder sie hatte Nancy Loomis nicht abweisen können und Janet zum Mittagessen hinübergebracht. Oder sie war in die Bücherei gefahren — Ali pflegte an den Sommernachmittagen häufig am Pool zu liegen und zu lesen.
Tanner versuchte sich Ali bei all diesen Dingen vorzustellen. Daß sie das eine oder das andere oder einiges oder gar alles tat.
Er wählte wieder, und wieder meldete sich niemand. Er rief den Club an.
«Tut mir leid, Mr. Tanner. Wir haben sie draußen ausrufen lassen. Mrs. Tanner ist nicht da.«
Die Loomis. Natürlich, sie war zu den Loomis gegangen.
«Hello, John. Alice hat gesagt, Janet hätte sich den Magen verdorben. Vielleicht ist sie mit ihr zum Arzt gefahren.«
Um acht Minuten nach eins hatte John Tanner weitere zweimal zu Hause angerufen. Das letzte Mal hatte er das Telefon fast fünf Minuten lang klingeln lassen. Er malte sich aus, wie Ali atemlos zur Tür herein gerannt kam und wartete ein weiteres Klingelzeichen ab, hoffte, daß sie abnehmen würde.
Aber es geschah nicht.
Immer wieder sagte er sich, daß er sich albern verhielt. Er selbst hatte den Streifenwagen hinter ihnen gesehen, als Ali ihn zum Bahnhof fuhr. Fassett hatte ihn gestern davon überzeugt, daß seine Wachhunde gründlich waren.
Fassett.
Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer, die Fassett ihm für Notfälle gegeben hatte. Es war eine Nummer in Manhattan.
«Grover…«
Wer? dachte Tanner.
«Hello? Hello? — Hier spricht George Grover.«
«Mein Name ist John Tanner. Ich versuche, Laurence Fassett zu erreichen.«
«Oh, hello, Mr. Tanner. Ist etwas? Fassett ist nicht da. Kann ich Ihnen helfen?«
«Sind Sie ein Kollege von Fassett?«
«Ja, das bin ich, Sir.«
«Ich kann meine Frau nicht erreichen. Ich habe ein paarmal anzurufen versucht. Sie meldet sich nicht.«
«Vielleicht ist sie aus dem Haus gegangen. Ich würde mir da keine Sorgen machen. Sie wird überwacht.«
«Sind Sie da ganz sicher?«
«Natürlich.«
«Ich habe sie gebeten, in der Nähe des Telefons zu bleiben. Sie dachte, ich erwarte einen wichtigen Anruf…«
«Ich nehme Verbindung mit unseren Männern auf und rufe Sie dann gleich wieder an. Das wird Sie beruhigen.«
Tanner legte auf. Plötzlich war es ihm peinlich, daß er angerufen hatte. Aber fünf Minuten verstrichen, und sein Telefon klingelte nicht. Er wählte Fassetts Nummer, aber sie war besetzt. Er legte schnell wieder auf und fragte sich, ob
Grover nicht gerade versucht hatte, ihn anzurufen. So mußte es sein. Er würde es gleich wieder versuchen.
Aber sein Apparat klingelte nicht.
Tanner nahm den Hörer auf und wählte langsam und sorgfältig, vergewisserte sich, daß jede Ziffer stimmte.
«Grover.«
«Hier ist Tanner. Ich dachte, Sie wollten gleich zurückrufen!«»Tut mir leid, Mr. Tanner. Wir haben da ein Problem. Nichts, worüber Sie sich Sorgen zu machen brauchten.«
«Was verstehen Sie unter Problem?«
«Den Kontakt mit unseren Außendienstleuten herzustellen. Das ist nicht ungewöhnlich. Schließlich können wir nicht erwarten, daß sie jede Sekunde in der Nähe des Autotelefons sind. Wir werden sie in Kürze erreichen und Sie dann zurückrufen.«
«Das genügt mir nicht!«John Tanner knallte den Hörer auf die Gabel und sprang auf. Gestern nachmittag hatte Fassett ihm ihre Bewegungen in allen Einzelheiten geschildert — bis zu den präzisen Vorgängen zum Zeitpunkt seines Telefonanrufs. Und jetzt konnte dieser Grover keinen der Männer erreichen, die angeblich seine Familie bewachten. Was hatte Fassett gesagt?
«Wir haben dreizehn Agenten in Saddle Valley…«
Und Grover konnte keinen einzigen von ihnen erreichen.
Dreizehn Männer und keiner war zu erreichen!
Er ging zur Türe.»Ich muß dringend weg, Norma. Passen Sie bitte auf mein Telefon auf. Wenn ein gewisser Grover anruft, sagen Sie ihm, ich wäre nach Hause gefahren.«
SADDLE VALLEY GEGRÜNDET 1862 Willkommen
«Und wohin jetzt, Mister?«
«Geradeaus. Ich zeige es Ihnen.«
Das Taxi erreichte den Orchard Drive, sie waren jetzt nur noch zwei Straßen von seinem Haus entfernt; Tanners Puls hämmerte. Immer wieder malte er sich den Kombi in der Einfahrt aus. Noch eine Biegung, und er würde ihn sehen können — wenn er da war. Wenn er da war, würde alles in Ordnung sein. Herrgott! Laß doch alles in Ordnung sein!
Der Kombi stand nicht in der Einfahrt.
Tanner sah auf die Uhr.
Zwei Uhr fünfundvierzig. Viertel vor drei! Und Ali war nicht da!» Links. Das Haus mit den Holzschindeln.«
«Ein schönes Haus, Mister. Wirklich schön.«
«Schnell!«
Das Taxi bog in die Einfahrt. Tanner zahlte und riß die Tür auf. Er wartete den Dank des Fahrers nicht ab.
«Ali! Ali!«Tanner rannte durch den Wäscheraum, um in der Garage nachzusehen.
Nichts. Der kleine Triumph stand dort.
Stille.
Und doch war da etwas. Ein Geruch. Ein schwacher, Übelkeit erregender Geruch, den Tanner nicht unterbringen konnte.
«Ali! Ali!«Er rannte zur Küche zurück und sah durch das Fenster den Pool. O Gott! Er starrte die Wasseroberfläche an und rannte zur Hoftüre. Das Schloß hatte sich verklemmt, er warf sich dagegen, riß den Riegel ab und rannte hinaus.
Gott sei Dank! Im Wasser war nichts!
Sein kleiner Welsh-Terrier regte sich im Schlaf. Die Leine des Tieres war mit einer Öse an einem gespannten Drahtseil befestigt, und er fing sofort mit seiner scharfen, hysterisch klingenden Stimme zu bellen an.
Er rannte ins Haus zurück zur Kellertüre.
«Ray! Janet! Ali!«
Stille. Nur das unablässige Bellen des Hundes draußen.
Er ließ die Kellertür offen und rannte zur Treppe.
Hinauf!
Er nahm jeweils ein paar Stufen mit einem Satz; die Türen zu den Kinderzimmern und dem Gästezimmer standen offen. Die Türe zu seinem und Alis Schlafzimmer war verschlossen.
Und dann hörte er es. Den leisen Klang eines Radios. Alis Uhrenradio mit der automatischen Abschaltvorrichtung, die das Radio zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb einer Stunde abschaltete. Er und Ali benutzten immer diese Abschaltvorrichtung, wenn sie das Radio benutzten, nie den gewöhnlichen Schalter. Es war eine Angewohnheit. Und Ali war seit zweieinhalb Stunden nicht mehr da. Jemand anderer hatte das Radio eingeschaltet.
Er öffnete die Tür.
Da war niemand.
Er wollte schon kehrtmachen und die restlichen Räume des Hauses durchsuchen, als er es sah. Ein Zettel mit roten Farbstiftbuchstaben darauf neben dem Uhrenradio.
Er trat an den Nachttisch.
Ihre Frau und Ihre Kinder haben eine unerwartete Fahrt gemacht. Sie finden sie bei einem alten Bahnhof an der Lassiter Road.
In seiner Panik erinnerte Tanner sich an den alten aufgegebenen Bahnhof. Er stand mitten im Wald, an einer selten benutzten Nebenstraße.
Was hatte er getan? Um Gottes willen, was hatte er getan? Er hatte sie umgebracht! Wenn das so war, würde er Fassett umbringen! Grover umbringen! Alle umbringen, die hätten aufpassen sollen!
Er rannte aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter in die Garage. Die Tür stand offen, und er sprang in den Sitz des Triumph und ließ den Motor an.
Tanner jagte den kleinen Sportwagen durch die Einfahrt, fegte durch die lange Kurve des Orchard Drive und versuchte sich zu erinnern, was der schnellste Weg nach Lassiter Road war. Er erreichte einen Teich, Lassiter Lake, wie er sich erinnerte. Die Bewohner von Saddle Valley benutzten ihn im Winter zum
Eislaufen. Lassiter Road lag auf der anderen Seite und schien in einem ziemlich verwilderten Waldstreifen zu verschwinden.
Er hielt das Gaspedal niedergedrückt, fing an, auf sich selbst einzureden, dann zu schreien.
Ali! Ali! Janet! Ray!
Die Straße war kurvig. Blinde Flecken, Kurven, Sonnenstrahlen, die zwischen den dicht beieinanderstehenden Bäumen hindurchblitzten. Es gab keine anderen Fahrzeuge, überhaupt keine Spuren von Leben.
Plötzlich tauchte der alte Bahnhof vor ihm auf. Und da war auch sein Kombi — auf dem verwahrlosten Parkplatz, umgeben von hohem Gras. Tanner trat neben dem Kombi auf die Bremsen. Niemand war zu sehen.
Er sprang aus dem Triumph und rannte auf den Kombi zu.
Im nächsten Augenblick verlor er die Kontrolle über sein Bewußtsein. Das Schreckliche war Wirklichkeit. Das Unglaubliche war geschehen.
Auf dem Boden vor der vorderen Sitzbank saß seine Frau. Zusammengesunken, reglos. Und hinten die kleine Janet und sein Sohn. Die Köpfe unten, reglos auf die roten Sitzpolster drapiert. Herrgott! Herrgott! Es war geschehen! Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er zitterte am ganzen Körper.
Er riß die Türe auf, schrie vor Schrecken auf, und plötzlich schlug ihm ein Geruch entgegen, derselbe Übelkeit erregende Geruch, den er in seiner Garage wahrgenommen hatte. Er packte Alis Kopf und zog sie in die Höhe, so erschreckt, daß all seine Empfindungen wie gelähmt waren.
«Ali! Ali! Mein Gott! Bitte! Ali!«
Seine Frau schlug langsam die Augen auf. Sie blinzelte. Bei Bewußtsein und doch nicht bei Bewußtsein. Sie bewegte de Arme.
«Wo… wo? Die Kinder!«Sie zog das Wort hysterisch in die Länge. Ihr Schrei riß Tanner in die Wirklichkeit zurück, ließ ihn wieder mit seinen Sinnen eins werden. Er sprang auf und griff über den Sitz nach seinem Sohn und seiner Tochter.
Sie bewegten sich. Sie lebten! Sie lebten alle!
Ali stieg aus dem Kombi und sank zu Boden. Ihr Mann hob seine Tochter vom Rücksitz und hielt sie fest, als sie zu weinen anfing.
«Was ist passiert? Was ist passiert?«Alice Tanner zog sich in die Höhe.
«Nicht sprechen, Ali. Du mußt jetzt atmen, ganz tief durchatmen. Komm!«Er ging zu ihr und reichte ihr die schluchzende Janet.»Ich hole jetzt Ray.«
«Was ist passiert? Sag nicht, daß ich nicht…«
«Sei still. Du mußt jetzt nur atmen. Kräftig durchatmen!«
Er half seinem Sohn vom Rücksitz. Dem Jungen war übel, er fing an, sich zu übergeben. Tanner legte seinem Sohn die Hand auf die Stirn und hielt ihn mit dem linken Arm an der Hüfte.»John, du kannst nicht einfach…«
«Du mußt jetzt gehen. Versuche Janet dazu zu bringen, daß sie auch geht! Tu, was ich sage!«
Alice Tanner tat gehorsam und benommen, was ihr Mann befahl. Der Junge begann den Kopf in Tanners Hand zu bewegen.
«Fühlst du dich jetzt besser, Junge?«
«Mann! — Mann! Wo sind wir?«Plötzlich hatte der Junge Angst.
«Schon gut. Alles ist gut… Ihr seid alle — alle — in Ordnung.«
Tanner sah zu seiner Frau hinüber. Sie hatte Janets Füße auf den Boden gestellt und hielt sie in den Armen. Das Kind weinte jetzt laut, und Tanner sah zu, angefüllt mit Haß und Furcht. Er ging zum Kombi, um nachzusehen, ob die Schlüssel in der Zündung steckten.
Sie steckten nicht. Das ergab keinen Sinn.
Er sah unter den Sitzen nach, im Handschuhfach, auf dem Rücksitz. Dann sah er sie. In ein Stück weißes Papier gewickelt, mit einem Gummiband darum. Das Päckchen war zwischen die Notsitze gezwängt, so, daß man es kaum sehen konnte.
Seine Tochter weinte jetzt laut, und Alice Tanner hob das Kind auf und versuchte es zu beruhigen, wiederholte immer wieder, daß ja alles gut wäre.
Tanner vergewisserte sich, daß seine Frau ihn nicht sehen konnte, hielt das kleine Packen hinter den Rücksitz, zog das Gummiband herunter und Wickelte das Papier auseinander.
Es war leer.
Er zerknüllte das Papier und schob es sich in die Tasche. Er würde Ali jetzt sagen, was passiert war. Sie würden weggehen. Weit weg. Aber er würde es ihr nicht vor den Kindern sagen.
«Steig in den Wagen!«Tanner sagte das ganz leise zu seinem Sohn und ging dann zu seiner Frau und nahm ihr das hysterisch weinende Mädchen weg.»Hol die Schlüssel aus dem Triumph, Ali. Wir fahren nach Hause.«
Seine Frau stand vor ihm, die Augen vor Furcht geweitet. Tränen strömten ihr über das Gesicht. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, gab sich alle Mühe, nicht zu schreien.
«Was ist passiert? Was ist mit uns passiert?«
Das Heulen eines Motors hinderte Tanner an der Antwort. In seiner Wut war er dankbar dafür. Der Saddle-Valley-Streifenwagen jagte heran und bremste höchstens zehn Meter von ihnen entfernt.
Jenkins und McDermott sprangen aus dem Wagen. Jenkins hatte den Revolver gezogen.
«Alles in Ordnung?«Er rannte auf Tanner zu. McDermott eilte zu dem Kombiwagen und redete leise auf den Jungen ein, der auf dem Rücksitz saß.
«Wir haben den Zettel in Ihrem Schlafzimmer gefunden. Übrigens, wir haben wahrscheinlich den größten Teil Ihres Eigentums sicherstellen können.«
«Unseres was?«Alice Tanner starrte den Polizeibeamten an.»Welches Eigentum?«
«Zwei Fernsehgeräte, Mrs. Tanners Schmuck, eine Kassette mit Silberbesteck, etwas Bargeld. Wir haben eine Liste auf dem Revier. Wir wissen nicht, ob wir alles haben. Die haben den
Wagen ein paar Straßen von Ihrem Haus entfernt stehen lassen. Vielleicht haben sie sonst noch etwas mitgenommen. Sie müssen das prüfen.«
Tanner reichte seine Tochter Ali.
«Wovon zum Teufel reden Sie?«
«Man hat Sie beraubt. Ihre Frau muß zurückgekommen sein, als die gerade bei der Arbeit waren. Sie und die Kinder sind in der Garage mit Gas betäubt worden. Das waren Profis, gar kein Zweifel.
Wirkliche Profimethoden…
«Sie lügen«, sagte Tanner leise.»Da war nichts…«
«Bitte!«unterbrach Jenkins.»Das Wichtigste sind jetzt Ihre Frau und die Kinder.«
Wie auf ein Zeichen rief McDermott jetzt auf dem Kombi.»Ich möchte den Jungen ins Krankenhaus bringen, Jetzt!«
«Oh, mein Gott!«Alice Tanner rannte zu dem Wagen, die Tochter in den Armen haltend.
«McDermott kann sie mitnehmen«, sagte Jenkins.
«Wie kann ich Ihnen vertrauen? Sie haben mich belogen. In meinem Haus fehlte nichts. Da waren keine Fernseher verschwunden, keinerlei Anzeichen eines Einbruchs! Warum haben sie gelogen?«
«Jetzt ist keine Zeit. Ich schicke Ihre Frau und die Kinder mit McDermott weg«, sagte Jenkins schnell.
«Die kommen mit mir!«
«Nein, das tun sie nicht. «Jenkins hob die Pistole leicht an.
«Ich bringe Sie um, Jenkins.«
«Was steht dann roch zwischen Ihnen und Omega?«sagte Jenkins ruhig.»Seien Sie vernünftig. Fassett ist schon unterwegs. Er möchte Sie sprechen.«
«Es tut mir leid. Wirklich, aufrichtig leid. Das wird — das kann nie wieder vorkommen.«
«Was ist denn vorgekommen? Wo war denn Ihr unfehlbarer Schutz?«»Ein logistischer Fehler in einem Überwachungsplan, der nicht überprüft war. Das ist die Wahrheit. Es hat keinen Sinn, Sie zu belügen. Ich trage die Verantwortung.«
«Sie waren nicht hier draußen.«
«Trotzdem bin ich verantwortlich. Für das Leder-Team trage ich die Verantwortung. Omega sah, daß ein Posten nicht gesichert war — übrigens weniger als fünfzehn Minuten lang —, und sie haben zugeschlagen.«
«Das kann ich nicht zulassen. Sie haben das Leben meiner Frau und meiner Kinder aufs Spiel gesetzt!«
«Ich sagte Ihnen doch, es ist unmöglich, daß sich das wiederholt. Außerdem — und in gewisser Weise sollte Sie das beruhigen — bestätigt jener Nachmittag, daß Omega nicht tötet. Terror ja. Mord nein.«
«Warum? Weil Sie das sagen? Ich glaube das einfach nicht. Der CIA ist nicht unfehlbar, dafür gibt es genügend Beispiele. Sie treffen keine Entscheidungen mehr für mich, damit das einmal klar ist.«
«Oh? Dann treffen Sie die jetzt?«
«Ja.«
«Seien Sie kein Narr. Wenn nicht Ihretwegen, dann um Ihrer Familie willen.«
Tanner stand auf. Durch die Jalousetten sah er, daß vor dem Motelfenster zwei Männer Wache hielten.
«Ich bringe sie weg.«
«Wohin werden Sie gehen?«
«Ich weiß nicht. Jedenfalls bleibe ich nicht hier.«
«Sie glauben, daß Omega Ihnen nicht folgen wird?«
«Warum sollte es das… Warum sollten sie das? Ich habe mit ihnen nichts zu tun.«
«Das werden sie nicht glauben.«
«Dann werde ich ihnen das klarmachen!«
«Wollen Sie eine Anzeige in die Times setzen?«»Nein!«Tanner fuhr herum und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den CIA-Mann.»Sie werden das tun! Sie können das machen, wie Sie wollen, denn wenn Sie es nicht tun werden, wird jede Nachrichtensendung im ganzen Land von dieser Operation berichten, und wie ungeschickt und dumm Sie sie durchgeführt haben. Das überleben Sie nicht.«
«Sie auch nicht, weil Sie tot sein werden und Ihre Frau auch. Ihr Sohn und Ihre Tochter — tot.«
«Sie können mir nicht drohen…«
«Um Himmels willen, schauen Sie sich doch die Geschichte an! Schauen Sie sich an, was wirklich passiert ist!«brach es aus Fassett heraus. Dann senkte er die Stimme plötzlich und hob die Hand an die Brust, sprach langsam.»Nehmen Sie mich… Meine Frau ist in Ost-Berlin getötet worden. Sie haben sie aus keinem anderen Grunde ermordet, als weil sie mit mir verheiratet war. Man — erteilte mir eine Lektion. Und um mir diese Lektion zu erteilen, nahmen sie mir meine Frau. Drohen Sie mir nicht — ich habe das alles hinter mir. Sie waren in Sicherheit. Schön, jetzt sind Sie es nicht mehr.«
Tanner war betroffen.»Was wollen Sie damit sagen?«
«Ich will Ihnen sagen, daß Sie genau das tun werden, was wir geplant haben. Wir sind jetzt zu nahe am Ziel. Ich will Omega.«
«Sie können mich nicht zwingen, und das wissen Sie auch!«
«Doch, das kann ich… Wenn Sie nämlich aussteigen, wenn Sie fliehen, ziehe ich jeden Agenten aus Saddle Valley ab. Dann sind Sie alleine… Und ich glaube nicht, daß Sie alleine mit der Situation fertig werden.«
«Ich schaffe meine Familie weg…«
«Seien Sie nicht verrückt! Omega hat sich einen ganz gewöhnlichen logistischen Fehler zunutze gemacht. Das bedeutet, daß sie, wer auch immer sie sind, wachsam sind. Äußerst wachsam, schnell und gründlich. Welche Chance, glauben Sie wohl, daß Sie haben? Welche Chance geben Sie Ihrer Familie? Wir haben zugegeben, daß wir einen Fehler gemacht haben. Wir werden keine mehr machen.«
Tanner wußte, daß Fassett recht hatte. Wenn man ihn jetzt im Stich ließ, verfügte er nicht über die Mittel, um die Lage zu kontrollieren.
«Sie überlassen nichts dem Zufall, wie?«
«Taten Sie das je — in einem Minenfeld?«
«Ich glaube nicht… Das heute nachmittag. Was war das?«
«Terrortaktik. Ohne Identifizierung. Für den Fall, daß Sie sauber sind. Wir erkannten, was geschehen war und haben eine Gegenerklärung aufgebaut. Wir werden einen Teil Ihres Eigentums zurückhalten — Kleinigkeiten, wie Schmuck, bis das vorbei ist. Das macht es authentisch.«
«Womit Sie sagen wollen, daß Sie von mir erwarten, daß ich diese Einbruchsgeschichte mitmache.«
«Natürlich. Das ist am sichersten.«
«Ja… Natürlich. «Tanner griff in die Tasche nach Zigaretten. Das Telefon klingelte, und Fassett nahm ab.
Er sprach mit leiser Stimme und wandte sich dann Tanner zu.»Ihre Familie ist wieder zu Hause. Alles in Ordnung. Noch etwas verängstigt, aber okay. Ein paar von unseren Männern schaffen Ordnung. Es sieht ziemlich übel aus. Sie versuchen, Fingerabdrücke abzunehmen. Natürlich wird man feststellen, daß die Diebe Handschuhe trugen. Ihrer Frau haben wir gesagt, daß Sie noch auf dem Revier sind und Ihre Aussage machen.«
«Verstehe.«
«Möchten Sie, daß wir Sie zurückbringen?«
«Nein… Nein, das möchte ich nicht. Ich nehme an, ich werde ohnehin verfolgt.«
«Sicherheitsüberwachung ist der korrekte Begriff.«
Tanner ging in das Village Pub, das einzige elegante Lokal von Saddle Valley, und rief die Tremaynes an.
«Ginny, hier spricht John. Ich würde gerne mit Dick sprechen. Ist er da?«
«John Tanner?«
Warum sagte sie das? Sein Name. Sie kannte seine Stimme.»Ja. Ist Dick da?«
«Nein — natürlich nicht. Er ist im Büro. Was ist denn?«
«Nichts Wichtiges.«
«Kannst du es nicht auch mir sagen?«
«Ich brauche bloß einen kleinen juristischen Rat. Ich versuch's in seinem Büro. Wiedersehen. «Tanner wußte, daß er es schlecht gemacht hatte. Er hatte sich auffällig benommen.
Aber das hatte Virginia Tremayne auch.
Tanner wählte New York.
«Tut mir leid, Mr. Tanner. Mr. Tremayne ist in Long Island. Eine Besprechung.«
«Es ist dringend. Können Sie mir die Nummer geben?«Tremaynes Sekretärin gab sie ihm widerstrebend. Er wählte.»Tut mir leid, Mr. Tremayne ist nicht hier.«
«Sein Büro hat gesagt, er hätte dort eine Besprechung.«
«Er hat heute morgen angerufen und abgesagt. Es tut uns leid, Sir.«
Tanner legte den Hörer auf und wählte dann die Nummer der Cardones.
«Daddy und Mommy sind den ganzen Tag nicht da. Onkel John. Sie haben gesagt, sie kommen nach dem Abendessen. Soll ich sagen, daß sie anrufen sollen?«
«Nein — nein, das ist nicht notwendig…«
Er hatte ein leeres Gefühl im Magen. Er wählte die Vermittlung, gab ihr die Nummer und die seiner Kreditkarte, und dann klingelte dreitausendvierhundert Meilen entfernt in Beverly Hills ein Telefon.
«Hier bei Osterman.«
«Ist Mr. Osterman da?«
«Nein, er ist nicht im Hause. Wer spricht bitte?«
«Ist Mrs. Osterman da?«
«Nein.«
«Wann erwarten Sie sie zurück?«
«Nächste Woche. Wer spricht bitte?«
«Cardone. Joseph Cardone.«
«C-A-R-D-O-N-E… «
«Richtig. Wann sind sie abgereist?«
«Sie sind gestern abend nach New York geflogen. Mit dem Zehn-Uhr-Flug, glaube ich.«
John Tanner legte auf. Die Ostermans waren in New York! Sie waren um sechs Uhr früh eingetroffen!
Die Tremaynes, die Cardones, die Ostermans.
Alle da. Niemand zu erreichen.
Einer oder alle.
Omega!