Kapitel 5

Dienstag — 3.33 Uhr, Kalifornische Zeit

Das weiße französische Telefon mit seiner gedämpften Hollywood-Klingel hatte wenigstens schon fünfmal Laut gegeben. Leila dachte schläfrig, wie dumm es doch war, es auf Bernies Seite des Bettes zu stellen. Es weckte ihn nie, immer nur sie.

Sie stieß ihren Mann mit dem Ellbogen in die Rippen.»Darling… Bernie. Bernie! Das Telefon.«

«Was?«Osterman schlug verwirrt die Augen auf.»Das Telefon? Oh, das verdammte Telefon. Wer kann das schon hören?«

Er griff in die Dunkelheit und fand die winzige Gabel mit den Fingern.

«Ja? — Ja, hier spricht Bernard Osterman… Ferngespräch?«Er deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab und schob sich in die Höhe. Dann wandte er sich seiner Frau zu.»Wie spät ist es?«

Leila knipste ihre Nachttischlampe an und sah auf die Uhr.»Halb vier. Mein Gott!«

«Wahrscheinlich irgend so ein Idiot wegen dieser Hawaii-Serie. Dort ist es noch nicht einmal Mitternacht. «Bernie lauschte am Hörer.»Ja, Vermittlung, ich warte… Das ist ein sehr fernes Ferngespräch, Honey. Wenn es Hawaii ist, dann können die ihren Produzenten an die Schreibmaschine setzen; ich hab' genug. Wir hätten die Finger davon lassen sollen. Ja, Vermittlung. Bißchen schnell bitte, ja?«

«Du hast doch gesagt, daß du diese Inseln einmal ohne Uniform besuchen möchtest, erinnerst du dich?«»Ja, da muß ich mich wohl entschuldigen… Ja, Vermittlung, hier ist Bernard Osterman, verdammt noch mal! Ja? Ja? Danke… Hello? Ich kann Sie kaum hören. Hello? — Ja, so ist's besser. Wer spricht? — Was? Was haben Sie gesagt? — Wer spricht? Wie heißen Sie? Ich kann nicht verstehen. Ja, gehört hab' ich Sie schon. Aber ich verstehe nicht… Hello? — Hello! Augenblick! Augenblick, hab' ich gesagt!«Osterman schoß hoch und warf die Beine über die Bettkante. Die Decke rutschte ihm über die Füße. Er schlug auf die Gabel des weißen französischen Telefons.»Vermittlung! Vermittlung! Die verdammte Leitung ist tot!«

«Wer war das? Was schreist du denn so? Was haben die denn gesagt?«

«Er — dieser Idiot hat gebrummt wie ein Stier. Er hat gesagt, wir sollten auf den — den — Tan One aufpassen. Das hat er gesagt. Er hat es einmal wiederholt. Den Tan One. Was zum Teufel ist das?«

«Den was?«

«Den Tan One! Das hat er ein paarmal wiederholt!«

«Das gibt doch keinen Sinn… War es wirklich Hawaii? Hat die Vermittlung gesagt, wo das Gespräch her kam?«

Osterman starrte seine Frau in der schwachen Schlafzimmerbeleuchtung an.»Ja. Das hab' ich ganz deutlich gehört. Es war Übersee… Es war Lissabon. Lissabon in Portugal.«

«Wir kennen niemanden in Portugal!«

«Lissabon, Lissabon, Lissabon…«Osterman wiederholte den Namen ein paarmal halblaut.»Lissabon. Neutral. Lissabon war neutral.«

«Was meinst du?«

«Tan One… «

«Tan… Tan. Tanner… Könnte das John Tanner sein? John Tanner!«

«Neutral!«

«Es ist John Tanner«, sagte Leila leise.

«Johnny? — Aber was hat er damit gemeint: >aufpassen

Leila setzte sich auf und griff nach einer Zigarette.»Johnny hat Feinde. Im Hafen von San Diego, der Artikel, den er damals geschrieben hat.«

«San Diego, sicher! Aber Lissabon?«

«Im Daily Variety stand letzte Woche, daß wir nach New York fahren«, fuhr Leila fort und inhalierte tief.»Daß wir dort wahrscheinlich bei unseren ehemaligen Nachbarn, den Tanners, wohnen würden.«

«Und?«

«Vielleicht sind wir zu prominent. «Sie sah ihren Mann an.

«Vielleicht sollte ich Johnny anrufen. «Osterman griff nach dem Telefon.

Leila packte ihn am Handgelenk.»Bist du verrückt?«

Osterman legte sich wieder hin.

Joe schlug die Augen auf und sah auf die Uhr. Sechs Uhr fünfundzwanzig. Zeit, aufzustehen, etwas in der Turnhalle zu trainieren und vielleicht dann ein kurzer Spaziergang zum Club, um eine Stunde Golf zu üben.

Er war ein Frühaufsteher, ganz im Gegensatz zu Betty. Wenn man sie ließ, würde sie bis Mittag schlafen. Sie hatten zwei Doppelbetten, für jeden von ihnen eines, weil Joe die schwächende Wirkung von zwei unterschiedlichen Körpertemperaturen unter derselben Decke kannte. Der Nutzen, den einem der Schlaf brachte, wurde um fast fünfzig Prozent vermindert, wenn er die ganze Nacht mit jemand anderem das Bett teilte. Und da der Zweck des Ehebettes ausschließlich sexueller Natur war, hatte es keinen Sinn, den Nutzen des Schlafes zu verlieren.

Zwei Doppelbetten waren da besser.

Er trat zehn Minuten die Pedale seiner Fahrradmaschine und arbeitete dann fünf Minuten mit siebeneinhalbpfündigen

Hanteln. Er blickte durch das dicke Glasfenster des Dampfbades und sah, daß der Raum bereit war.

Ein Licht über der Wanduhr blitzte auf. Das war die Türglocke. Joe hatte sich das einbauen lassen, für den Fall, daß er alleine zu Hause war und gerade trainierte.

Die Uhr zeigte sechs Uhr einundfünfzig, viel zu früh für jemanden in Saddle Valley, um eine Türglocke zu betätigen. Er legte die zwei Hanteln auf den Boden und ging an die Sprechanlage.

«Ja? Wer ist da?«

«Telegramm, Mr. Cardione.«

«Wer?«

«Hier steht Cardione.«

«Ich heiße Cardone.«

«Ist das nicht elf Apple Place?«

«Ich bin gleich da.«

Er schaltete die Sprechanlage aus und griff sich ein Handtuch von der Stange, drapierte es um sich, als er schnell hinaus eilte. Das, was er gerade gehört hatte, gefiel ihm nicht. Er erreichte die Haustür und öffnete sie. Ein kleiner Mann in Uniform stand Gummi kauend da.

«Warum haben Sie nicht angerufen? Es ist doch ziemlich früh, oder?«

«Ich hatte Anweisung, es persönlich auszuliefern. Ich mußte hierher fahren, Mr. Cardione. Fast fünfzehn Meilen. Wir haben einen Vierundzwanzig-Stunden-Service.«

Cardone unterschrieb die Quittung.»Warum fünfzehn Meilen? Western Union hat doch eine Filiale in Ridge Park.«

«Nicht Western Union, Mister. Das ist ein Kabel-Telegramm — aus Europa.«

Cardone riß dem Uniformierten den Umschlag aus der Hand.»Augenblick. «Er wollte nicht den Anschein erwecken, als wäre er erregt, also ging er ganz normal ins Wohnzimmer, wo er sich erinnerte, Bettys Handtasche auf dem Flügel gesehen zu haben. Er entnahm ihr zwei Ein-Dollar-Noten und ging zur Tür zurück.»Hier bitte. Tut mir leid, daß Sie so weit fahren mußten. «Er schloß die Tür und riß den Umschlag auf.

L'UOMO BRUNO PALIDO NON E AMICO DEL ITALIANO. GUARDA BENE VICINI DI QUESTA MANIERA. PROTECIATE PER LA FINA DELLA SETTIMANA. DA VINCI

Cardone ging in die Küche, fand einen Bleistift neben dem Telefon und setzte sich an den Tisch. Er schrieb die Übersetzung auf die Rückseite einer Zeitschrift.

Der hellbraune Mann ist kein Freund des Italieners. Seien Sie vorsichtig bei solchen Nachbarn. Schützen Sie sich gegen Ende der Woche. Da Vinci

Was hatte das zu bedeuten? Was für >hellbraune Nachbarn

Plötzlich erstarrte Joe Cardone. Der hellbraune Nachbar — das konnte nur John Tanner bedeuten (a.d.Ü.: Tan — ist gleich Sonnenbräune, Anmerkung des Übersetzers). Am Ende der Woche — Freitag — würden die Ostermans eintreffen. Jemand in Europa riet ihm, sich vor John Tanner und dem bevorstehenden Osterman-Wochenende zu schützen.

Er packte das Telegramm und blickte auf die Datumszeile. Zürich.

Herrgott! Zürich!

Jemand in Zürich — jemand, der sich Da Vinci nannte, jemand, der seinen wirklichen Namen kannte, der John Tanner kannte, der über die Ostermans Bescheid wußte, warnte ihn.

Joe Cardone starrte zum Fenster hinaus auf den Rasen seines Hinterhofs. Da Vinci, Da Vinci!

Leonardo.

Künstler, Soldat, Kriegsarchitekt — für jeden etwas.

Mafia!

Herrgott! Wer?

Die Costellanos? Die Batellas? Die Latronas, vielleicht.

Welche der Familien hatte sich gegen ihn gewandt? Und warum? Er war ihr Freund!

Seine Hände zitterten, als er das Telegramm auf den Küchentisch legte. Er las es noch einmal. Jeder Satz beschwor immer gefährlicher werdende Bedeutungen herauf.

Tanner! John Tanner hatte etwas in Erfahrung gebracht! Aber was?

Und warum kam die Nachricht aus Zürich? Was hatten sie mit Zürich zu tun?

Oder die Ostermans?

Was hatte Tanner entdeckt? Was würde er tun? — Einer der Batella-Leute hatte Tanner einmal eine Bezeichnung gegeben… Wie war sie doch?

«Volturno!«

Geier.

«… kein Freund des Italieners… Vorsichtig… Schützen Sie sich… «

Wie? Vor was? Tanner würde sich ihm nicht anvertrauen. Warum sollte er?

Er, Joe Cordone, gehörte nicht dem Syndikat an; auch keiner Famiglia. Was konnte er wissen?

Aber >Da Vincis< Nachricht war aus der Schweiz gekommen.

Und das ließ eine Möglichkeit offen, eine besorgniserregende Möglichkeit. Die Cosa Nostra hatte von Zürich erfahren! Sie würden das gegen ihn verwenden, wenn er nicht imstande war, den >hellbraunen Mann<, den Feind des Italieners, unter Kontrolle zu halten. Wenn er das nicht verhindern konnte, was John Tanner im Begriff war zu tun, was auch immer es sein mochte, würde er vernichtet werden.

Zürich! Die Ostermans!

Er hatte das getan, was er für richtig gehalten hatte! Was er hatte tun müssen, um zu überleben. Osterman hatte ihm das auf eine Art und Weise klargemacht, die keinen Zweifel ließ. Aber jetzt war das in anderen Händen. Nicht in seinen.

Joe Cardone verließ die Küche und kehrte in seine Miniaturturnhalle zurück. Ohne Handschuhe anzuziehen, fing er an, auf den Sack einzuschlagen. Schneller und schneller, immer härter.

In seinem Kopf war ein schrilles Kreischen zu hören.

>Zürich! Zürich! Zürich!<

Virginia Tremayne hörte ihren Mann um Viertel nach sechs aus dem Bett steigen und wußte sofort, daß etwas nicht stimmte. Ihr Mann stand selten so früh auf.

Sie wartete ein paar Minuten. Als er nicht zurückkehrte, zog sie ihren Morgenrock an und ging hinunter. Er war im Wohnzimmer, stand am Erkerfenster, rauchte eine Zigarette und las etwas, das auf einem Stück Papier stand.

«Was machst du denn?«

«Sieh dir das an«, antwortete er mit leiser Stimme.

«Was denn?«Sie nahm ihm das Papier aus der Hand.

Seien Sie mit Ihrem Reporterfreund äußerst vorsichtig. Seine Freundschaft geht nicht über seinen Ehrgeiz hinaus. Er ist nicht das, was er zu sein scheint. Es kann sein, daß wir seine Besucher aus Kalifornien melden müssen. Blackstone

«Was ist das? Wann hast du das bekommen?«

«Ich hörte vor etwa zwanzig Minuten Geräusche vor dem Fenster. Gerade laut genug, um mich zu wecken. Und dann wurde ein Wagen angelassen. Der Motor wurde immer wieder hochgejagt… Ich dachte, du hättest es auch gehört. Du hast die Zudecke hochgezogen.«

«Ich denke schon. Ich habe nicht darauf geachtet…«

«Ich ging hinunter und hab' die Tür geöffnet. Dieser Umschlag lag auf dem Fußabstreifer.«

«Was hat das zu bedeuten?«

«Das weiß ich noch nicht genau.«

«Wer ist Blackstone?«

«Die Kommentare. Die Basis unseres juristischen Systems…«Richard Tremayne warf sich in einen Sessel und preßte sich die

Hand gegen die Stirn. Mit der anderen rollte er seine Zigarette vorsichtig über den Rand eines Aschenbechers.

«Bitte — laß mich nachdenken.«

Virginia Tremayne sah wieder auf das Papier mit der geheimnisvollen Nachricht.»>Reporterfreund<. Bedeutet das…?«

«Tanner hat irgend etwas in Erfahrung gebracht, und der

Betreffende, der uns das gebracht hat, ist in Panik geraten.

Jetzt versuchen sie, mich auch in Panik zu treiben.«

«Warum?«

«Das weiß ich nicht. Vielleicht glauben sie, daß ich ihnen helfen kann. Und wenn nicht, dann bedrohen sie mich. Uns alle.«

«Die Ostermans.«

«Genau. Sie bedrohen uns mit Zürich.«

«Oh, mein Gott! Sie wissen es! Jemand hat es herausgebracht!«

«So sieht es aus.«

«Meinst du, Bernie hat kalte Füße bekommen? Darüber geredet?«

Tremaynes Auge zuckte.»Er wäre von Sinnen, wenn er das täte. Man würde ihn ans Kreuz schlagen, auf beiden Seiten des Atlantik… Nein, das ist es nicht.«

«Was ist es dann?«

«Wer auch immer das geschrieben hat, es ist jemand, mit dem ich in der Vergangenheit zusammengearbeitet habe oder den ich abgelehnt habe. Vielleicht ist es einer meiner augenblicklichen Fälle. Vielleicht eine der Akten, die jetzt auf meinem Tisch liegen. Und Tanner hat Wind davon bekommen und macht jetzt Lärm. Sie erwarten von mir, daß ich ihn aufhalte. Wenn ich das nicht tue, bin ich erledigt. Ehe ich es mir leisten kann… Ehe Zürich für uns zu arbeiten beginnt.«

«Sie können dir doch unmöglich etwas anhaben!«sagte Tremaynes Frau mit gekünstelter Sicherheit.

«Komm schon, Darling. Wir wollen uns doch nichts vormachen. Höflich ausgedrückt, bin ich Spezialist für Firmenübernahmen. Aber in den Vorstandsetagen bin ich ein Pirat. Um Richter Hand zu zitieren, der Firmenmarkt ist zur Zeit mit falschen Käufen verrückt gemacht. Falsch. Das bedeutet Schwindel. Käufe mit Papier.«

«Hast du Schwierigkeiten?«

«Nein, das nicht — ich könnte immer sagen, daß man mich falsch informiert hat. Die Gerichte mögen mich.«

«Sie respektieren dich! Du hast härter gearbeitet als jeder Mann, den ich kenne. Du bist der beste Anwalt, den es gibt!«»Ich wollte, es wäre so.«

«Du bist es!«

Richard Tremayne stand an dem großen Erkerfenster und blickte auf den Rasen seines Vierundsiebzigtausend-Dollar-Ranch-Hauses hinaus.»Ist das nicht komisch. Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin einer der besten, die es gibt, in einem System, das ich verachte… Ein System, das Tanner in einem seiner Programme in Stücke reißen würde, wenn er wüßte, was wirklich dahinter steckt. Und das ist es, was dieser Zettel hier meint.«

«Ich glaube, du hast unrecht. Ich glaube, das ist jemand, den du einmal geschlagen hast und der sich an dir rächen möchte. Der Versuch, dir Angst zu machen.«

«Das ist ihm dann auch gelungen. Was dieser — Blackstone mir sagt, ist nichts, was ich nicht schon weiß. Was ich bin und was ich tue, macht mich zu Tanners natürlichem Feind. Er würde das zumindest so sehen. Wenn er die Wahrheit wüßte.«

Er sah sie an und zwang sich zu einem Lächeln.»Die in Zürich kennen die Wahrheit.«

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