Prolog

Berlin

Sonja Verbrügge hatte keine Ahnung, dass dies ihr letzter Tag auf Erden sein sollte. Sie drängte sich durch die Touristenscharen, die an diesem Sommertag auf den Gehsteigen der Straße Unter den Linden flanierten. Nur keine Panik, sagte sie sich immer wieder. Du musst ruhig bleiben.

Die dringende Nachricht, die Franz auf ihrem Computer hinterlassen hatte, hatte sie erschreckt. Lauf weg, Sonja! Geh ins Hotel Artemisia. So schnell wie möglich. Dort bist du fürs Erste sicher. Warte, bis du etwas von ...

Die Nachricht war mit einem Mal abgebrochen. Warum hatte Franz sie nicht fertig geschrieben? Was war eigentlich los? Am Abend zuvor hatte sie gehört, wie ihr Mann am Telefon zu jemandem gesagt hatte, Prima müsste um jeden Preis aufgehalten werden. Wer war Prima?

Frau Verbrügge näherte sich der Charlottenstraße, an der das Artemisia lag, ein Hotel, das nur Frauen aufnahm. Ich werde dort auf Franz warten. Er wird mir schon erklären, worum es überhaupt geht.

Die Ampel schaltete gerade auf Rot um, als Sonja Verbrügge an die nächste Kreuzung kam, und als sie an der Bordsteinkante stehen blieb, stieß jemand im dichten Gedränge gegen sie, sodass sie auf die Straße stolperte. Verdammte Touristen! Eine Limousine, die in zweiter Reihe stand, fuhr plötzlich auf sie zu, streifte sie und brachte sie zu Fall. Sofort scharten sich Menschen um sie.

»Is she all right?« »Ist ihr etwas passiert?«

»Peut-elle marcher?«

In diesem Augenblick hielt ein vorbeifahrender Krankenwagen. Zwei Sanitäter sprangen heraus und nahmen sich der gestürzten Frau an. »Wir kümmern uns schon um sie.«

Ehe sie sichs versah, wurde Sonja Verbrügge in den Krankenwagen gehoben. Dann wurde die Tür geschlossen, und im nächsten Moment raste das Fahrzeug davon.

Sie versuchte, sich aufzusetzen, stellte aber fest, dass sie auf einer Trage festgeschnallt war. »Mir geht’s gut«, protestierte sie. »Das war doch nichts. Ich .«

Einer der Sanitäter beugte sich über sie. »Ist schon in Ordnung, Frau Verbrügge. Ganz ruhig.«

Sie blickte zu ihm auf, war mit einem Mal beunruhigt.

»Woher wissen Sie, wie ich ...?«:

Sie spürte den scharfen Einstich einer Injektionsnadel an ihrem Arm, und gleich darauf ergab sie sich der Dunkelheit.

Paris

Mark Harris stand allein auf der Aussichtsplattform des Eiffelturms, ohne den peitschenden Regen ringsum zu beachten. Von Zeit zu Zeit zuckten Blitze am Himmel, in deren Schein die wirbelnden Tropfen wie diamantene Wasserfälle auffunkelten.

Am anderen Ufer der Seine befanden sich das vertraute Palais de Chaillot und die Trocadero-Gärten, doch er nahm sie nicht wahr. Er war in Gedanken versunken und beschäftigte sich ein ums andere Mal mit der überraschenden Nachricht, die demnächst aller Welt bekannt gegeben werden würde.

Mittlerweile peitschte der Wind den Regen zu einem tobenden Mahlstrom. Mark Harris schirmte das Handgelenk mit dem Ärmel ab und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie verspäteten sich. Und warum hatten sie darauf bestanden, sich hier mit ihm zu treffen, um Mitternacht? Während er sich noch darüber wunderte, hörte er, wie die Fahrstuhltür aufging. Zwei Männer, die sich durch den fauchenden Wind und die durchdringende Nässe kämpften, kamen auf ihn zu.

Mark Harris war erleichtert, als er sie erkannte. »Ihr seid spät dran.«

»Das liegt an dem verdammten Wetter, Mark. Tut mir Leid.«

»Tja, nun seid ihr ja da. Das Meeting in Washington ist doch anberaumt, nicht wahr?«

»Deswegen müssen wir mit dir reden. Wir haben heute Morgen lange darüber diskutiert, wie wir die Sache am besten angehen, und sind zu dem Entschluss gekommen .«

Während sie miteinander sprachen, hatte sich der zweite Mann hinter Mark Harris geschoben und schlug fast im gleichen Augenblick zu. Ein schwerer, stumpfer Gegenstand traf ihn am Schädel, und im nächsten Moment spürte er, wie er hochgehoben und über die Brüstung in den kalten, peitschenden Regen geworfen wurde. Dann stürzte er achtunddreißig Stockwerke tief auf den harten Gehsteig.

Denver

Gary Reynolds war im zerklüfteten Umland von Kelowna in Kanada unweit von Vancouver aufgewachsen und hatte dort auch seinen Pilotenschein gemacht, sodass er es gewohnt war, über das tückische Bergland zu fliegen. Er steuerte eine Cessna Citation II und achtete mit wachsamen Blicken auf die schneebedeckten Gipfel rundum.

Eigentlich war die Maschine für eine zweiköpfige Besatzung bestimmt, aber heute war kein Copilot dabei. Nicht bei diesem Flug, dachte Reynolds grimmig.

Er hatte einen falschen Flugplan beim Kennedy Airport eingereicht. Kein Mensch käme auf die Idee, in Denver nach ihm Ausschau zu halten. Er wollte über Nacht bei seiner Schwester bleiben und sich am nächsten Morgen in Richtung Osten begeben, um sich mit den anderen zu treffen. Sämtliche Vorbereitungen zum Ausschalten von Prima waren abgeschlossen, und ...

Ein eingehender Funkspruch riss ihn aus seinen Gedanken. »Citation eins-eins-eins Lima Foxtrot, hier ist die Flugleitung des Denver International Airport. Bitte melden.«

Gary Reynolds drückte auf die Sendetaste. »Hier Citation eins-eins-eins Lima Foxtrot. Bitte um Landeerlaubnis.«

»Eins Lima Foxtrot, geben Sie Ihre Position durch.«

»Eins Lima Foxtrot. Ich bin fünfzehn Meilen nordöstlich von Denver Airport. Höhe fünfzehntausend Fuß.«

Er sah den Pike’s Peak auf der rechten Seite aufragen. Der Himmel war hellblau, die Sicht klar. Ein gutes Zeichen.

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann meldete sich wieder der Tower. »Eins Lima Foxtrot, Sie haben Landeerlaubnis auf Landebahn zwo-sechs. Ich wiederhole, zwosechs.«

»Eins Lima Foxtrot, Roger.«

Gary Reynolds spürte, wie das Flugzeug ohne jede Vorwarnung mit einem Mal durchsackte. Verdutzt blickte er aus dem Cockpitfenster. Ein starker Wind war aufgekommen, und innerhalb von Sekunden wurde die Cessna von heftigen Turbulenzen erfasst, die die Maschine herumschleuderten. Er zog das Handrad zurück und versuchte, Höhe zu gewinnen. Es war sinnlos. Er steckte mitten in einem rasenden Wirbelsturm. Die Maschine war völlig außer Kontrolle. Er hämmerte auf die Sendetaste.

»Hier Eins Lima Foxtrot. Ich habe einen Notfall.«

»Eins Lima Foxtrot, was ist mit Ihnen los?«

Gary Reynolds schrie jetzt ins Mikrofon. »Ich wurde von Scherwinden erfasst! Schwere Turbulenzen! Ich stecke mitten in einem verdammten Hurrikan!«

»Eins Lima Foxtrot, Sie sind nur viereinhalb Minuten vom Denver Airport entfernt, und unsere Bildschirme zeigen keinerlei Turbulenzen an.«

»Was eure Bildschirme anzeigen, ist mir egal! Ich sage euch .« Seine Stimme wurde mit einem Mal schrill. »Mayday! May .«

Erschrocken sahen die Lotsen im Kontrollturm, wie der Leuchtpunkt auf ihren Radarsichtgeräten verschwand.

Manhattan

In der Morgendämmerung scharten sich ein halbes Dutzend Zivilfahnder und Polizisten in Uniform am East River unweit von Pier siebzehn um eine vollständig bekleidete Leiche, die unter der Manhattan Bridge am Ufer des Flusses lag. Die Leiche war offenbar ins Wasser geworfen worden, sodass der Kopf im Gezeitenstrom hin und her pendelte.

Der verantwortliche Kriminalpolizist, Detective Earl Greenburg von der Manhattan South Homicide Squad, hatte den Fundort vorschriftsmäßig absichern lassen. Niemand durfte sich der Leiche nähern, bis die Polizeifotografen ihre Aufnahmen gemacht hatten. Jetzt machte er sich Notizen, während seine Mitarbeiter die Umgebung nach Spuren ab suchten. Über die Hände des Opfers waren durchsichtige Plastiktüten gestülpt worden.

Carl Ward, der Gerichtsmediziner, beendete seine Untersuchung, stand auf und wischte den Schmutz von seiner Hose. Er wandte sich an die beiden Kriminalpolizisten. Detective Earl Greenburg war ein erfahrener, routiniert wirkender Mann mit einem eindrucksvollen Erfolgsregister. Detective Robert Praegitzer, grauhaarig und abgebrüht, hatte eine ruhige, lockere Art an sich, als könnte ihn nichts mehr schrecken.

Ward wandte sich an Greenburg. »Ihr könnt ihn übernehmen, Earl.«

»Was haben wir?«

»Die Todesursache ist offensichtlich. Man hat ihm die Kehle durchschnitten, mitten durch die Halsschlagader. Außerdem hat er zwei kaputte Kniescheiben, und allem Anschein nach sind auch ein paar Rippen gebrochen. Den hat jemand ordentlich durch die Mangel gedreht.«

»Wann ist der Tod eingetreten?«

Ward blickte auf das Wasser, das um den Kopf des Opfers schwappte. »Schwer zu sagen. Meiner Schätzung nach wurde er irgendwann nach Mitternacht hier abgeladen. Wenn wir ihn in der Pathologie haben, kriegt ihr einen vollständigen Bericht.«

Greenburg wandte sich der Leiche zu. Graues Sakko, dunkelblaue Hose, hellblauer Schlips, eine teure Uhr am linken Handgelenk. Er kniete sich hin und nahm sich die Taschen des Opfers vor. Mit den Fingerspitzen stieß er auf einen Zettel, fasste ihn vorsichtig am Rand und zog ihn heraus.

»Das ist Italienisch.« Er sah sich um. »Gianelli?«

Einer der Polizisten in Uniform kam angestürmt. »Ja, Sir?«

Greenburg reichte ihm die Nachricht. »Können Sie das lesen?«

Gianelli las laut und langsam vor. »Letzte Chance. Triff dich mit mir am Pier siebzehn, und bring den Rest vom Dope mit, sonst landest du bei den Fischen.« Er gab den Zettel zurück.

Robert Praegitzer blickte verdutzt auf. »Ein Mafiamord? Warum lassen die ihn einfach hier liegen, in aller Öffentlichkeit?«

»Gute Frage.« Greenburg ging die anderen Taschen des Opfers durch. Er zog eine Brieftasche voller Banknoten heraus. »Auf sein Geld hatten sie’s jedenfalls nicht abgesehen.«

Er nahm eine Karte aus der Brieftasche. »Der Name des Opfers ist Richard Stevens.«

Praegitzer runzelte die Stirn. »Richard Stevens ... Stand über den nicht kürzlich irgendwas in der Zeitung?«

»Über seine Frau«, sagte Greenburg. »Diane Stevens. Sie tritt zurzeit vor Gericht auf, im Mordprozess gegen Tony Altieri.«

»Stimmt«, sagte Praegitzer. »Sie sagt gegen den Capo di Capos aus.«

Und beide wandten sich wieder Richard Stevens Leiche zu.

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