19

Immer wieder gingen Diane Stevens die gleichen Worte durch den Kopf: Ron Jones hier. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, dass ich Ihre Papiere erhalten habe und dass wir Ihrem Wunsch gemäß umdisponiert haben ... Wir haben Ihren Mann vor einer Stunde eingeäschert.

Wie konnte dem Bestattungsinstitut ein derartiger Fehler unterlaufen? War sie vor lauter Trauer so durcheinander gewesen, dass sie sich dort gemeldet und darum gebeten hatte, Richard einzuäschern? Niemals. Und eine Sekretärin hatte sie nicht. Das Ganze war einfach unbegreiflich. Irgendjemand in dem Bestattungsinstitut musste etwas missverstanden und ihren Auftrag mit einem anderen verwechselt haben.

Unterdessen hatte man ihr die Urne mit Richards Asche bringen lassen. Sie stand da und starrte sie an. War Richard wirklich da drin? ... Richard, mit seinem Lachen ... Richard, der sie in die Arme schloss ... mit seinen warmen Lippen, die sich an ihre pressten ... Richard, der so klug gewesen war, immer zu einem Spaß aufgelegt ... »Ich liebe dich« zu ihr sagte ... Richard mit all seinen Träumen, Leidenschaften und tausend anderen Dingen mehr - und all das in diesem kleinen Gefäß?

Diane wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das Telefon klingelte.

»Mrs. Stevens?«

»Ja ...«

»Hier ist das Sekretariat von Tanner Kingsley. Mr. Kingsley wäre Ihnen sehr verbunden, wenn er einen Gesprächstermin mit Ihnen vereinbaren könnte.«

Das war vor zwei Tagen gewesen, und jetzt ging Diane durch die Eingangstür der KIG und begab sich zur Rezeption.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, sagte die Empfangsdame.

»Diane Stevens. Ich habe einen Termin mit Tanner Kingsley.«

»Oh, Mrs. Stevens! Wir alle trauern um Mr. Stevens. Was für eine schreckliche Sache. Einfach furchtbar.«

Diane schluckte. »Ja.«

Tanner sprach mit Retra Tyler. »Ich habe nachher zwei Besprechungen. Ich möchte, dass beide von Anfang bis Ende aufgezeichnet werden.«

»Ja, Sir.«

Er blickte seiner Assistentin hinterher, als sie das Büro verließ.

Kurz darauf summte die Gegensprechanlage. »Mrs. Stevens ist hier, Mr. Kingsley.«

Tanner drückte auf einen der Knöpfe an der elektronischen Schaltkonsole auf seinem Schreibtisch, worauf Diane Stevens auf einem der Bildschirme an der Wand auftauchte. Sie hatte ihr blondes Haar nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden und trug einen weiß-blau gestreiften Rock und eine weiße Bluse. Sie wirkte blass.

»Schicken Sie sie bitte rein.«

Diana kam herein, und Tanner stand auf. »Danke, dass Sie gekommen sind, Mrs. Stevens.«

Diane nickte. »Guten Morgen.«

»Nehmen Sie bitte Platz.«

Diane ließ sich auf einem Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches nieder.

»Ich muss Ihnen wohl nicht eigens sagen, wie sehr wir alle über den brutalen Mord an Ihrem Mann schockiert sind. Ich versichere Ihnen, dass derjenige, der dafür verantwortlich ist, so schnell wie möglich seiner gerechten Strafe zugeführt werden wird.«

Asche ...

»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

»Ja?«

»Hat Ihr Mann hin und wieder mit Ihnen über seine Arbeit gesprochen?«

Diane schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Wir haben das streng von unserem Privatleben getrennt, weil es dabei um so viele technische Dinge ging.«

Im Überwachungsraum am anderen Ende des Flurs hatte Retra Tyler unterdessen ein Gerät zur Stimmerkennung, einen Stimmen-Stress-Analysator und einen Videorecorder eingeschaltet und zeichnete das gesamte Gespräch auf, das in Tanners Büro stattfand.

»Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss, über diese Dinge zu sprechen«, sagte Tanner. »Aber inwieweit wussten Sie darüber Bescheid, dass Ihr Mann mit Drogen zu tun hatte?«

Diane starrte ihn an. Sie war so verblüfft, dass es ihr die Sprache verschlug. Es dauerte eine Weile, bis sie die richtigen Worte fand. »Was ... was wollen Sie damit sagen? Richard hätte sich niemals auf Drogen eingelassen.«

»Mrs. Stevens, die Polizei hat eine schriftliche Drohung der Mafia in seiner Hosentasche gefunden und .«

Die Vorstellung, dass sich Richard auf Drogen eingelassen haben könnte, war völlig abwegig. Könnte es sein, dass Richard ein Doppelleben geführt hatte, von dem sie keine Ahnung hatte? Nein, nein und nochmals nein.

Dianes Herz schlug einen Takt schneller, und sie spürte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Sie haben ihn umgebracht, um mich zu bestrafen. »Mr. Kingsley, Richard hatte nichts .«

Tanners Tonfall klang mitfühlend, gleichzeitig aber auch entschieden. »Tut mir Leid, dass ich Sie damit konfrontieren muss, aber ich habe vor herauszufinden, aus welchem Grund man Ihrem Mann so etwas angetan hat.«

Ich bin der Grund, dachte Diane voller Selbstvorwürfe. Ich bin schuld daran. Richard ist tot, weil ich gegen Altieri ausgesagt habe. Es nahm ihr den Atem.

Tanner Kingsley betrachtete sie. »Ich will Sie nicht länger aufhalten, Mrs. Stevens«, sagte er. »Ich bin mir darüber im Klaren, wie sehr Sie das aufregt. Wir sollten später noch mal darüber sprechen. Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein. Falls Sie sich an irgendetwas erinnern sollten, das uns weiterhelfen könnte, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich anriefen.« Tanner griff in eine Schublade und holte eine Visitenkarte mit geprägter Schrift heraus. »Hier ist meine private Handynummer. Sie können mich Tag und Nacht erreichen.«

Diane nahm die Karte. Sie enthielt lediglich Tanners Namen und eine Telefonnummer.

Zitternd stand Diane auf.

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, dass ich Sie damit behelligen musste. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann -wenn Sie irgendetwas brauchen -, stehe ich Ihnen jederzeit zu Diensten.«

Diane brachte kaum ein Wort hervor. »Vielen Dank. Ich ... danke Ihnen.« Sie wandte sich um und ging wie betäubt hinaus.

Als Diane in die Eingangshalle kam, hörte sie, wie die Frau an der Rezeption mit jemandem sprach. »Wenn man abergläubisch wäre, könnte man meinen, es läge ein Fluch auf der KIG. Und jetzt auch noch Ihr Mann, Mrs. Harris. Wir waren alle völlig fassungslos, als wir von dieser schrecklichen Sache erfuhren. So zu sterben ist einfach furchtbar.«

Solche Worte kamen Diane sehr bekannt vor. Was war dem Mann zugestoßen? Diane drehte sich um, um festzustellen, mit wem die Empfangsdame sprach. Es war eine hinreißend aussehende junge Afroamerikanerin, die eine schwarze Hose und einen seidenen Rollkragenpulli trug. Sie hatte einen großen Smaragdring und einen mit Diamanten besetzten Ehering an den Fingern. Diane hatte mit einem Mal das Gefühl, dass sie unbedingt mit ihr sprechen musste.

Als sie gerade zu ihr gehen wollte, kam Tanners Sekretärin an die Rezeption. »Mr. Kingsley würde jetzt gern mit Ihnen sprechen.«

Diane blickte Kelly Harris nach, als sie in Tanners Büro verschwand.

Tanner erhob sich und begrüßte Kelly. »Danke, dass Sie gekommen sind, Mrs. Harris. Hatten Sie einen angenehmen Flug?«

»Ja, danke.«

»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee oder ...?«:

Kelly schüttelte den Kopf.

»Ich bin mir darüber im Klaren, wie schwer es zurzeit für Sie sein muss, Mrs. Harris, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Im Überwachungsraum betrachtete Retra Tyler Kelly auf dem Bildschirm, während sie das Gespräch aufzeichnete.

»Sind Sie und Ihr Mann gut miteinander ausgekommen?«, fragte Tanner.

»Sehr gut.«

»Würden Sie sagen, dass er ehrlich zu Ihnen war?«

Kelly schaute ihn verdutzt an. »Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Mark war der ehrlichste und offenste Mensch, den ich jemals kennen gelernt habe. Er ...« Sie stockte und konnte kaum weiter sprechen.

»Hat er des Öfteren mit Ihnen über seine Arbeit gesprochen?«

»Nein. Marks Arbeit war sehr ... kompliziert. Wir haben kaum darüber gesprochen.«

»Hatten Sie und Mark viele russische Freunde?«

Kelly blickte ihn verständnislos an. »Mr. Kingsley, ich weiß nicht, was diese Fragen .«

»Hat Ihr Mann Ihnen erzählt, dass er ein großes Geschäft abschließen wollte und demnächst eine Menge Geld verdienen würde?«

Kelly wurde allmählich ungehalten. »Nein. Aber wenn dem so gewesen wäre, hätte es mir Mark bestimmt erzählt.«

»Hat Mark jemals eine Olga erwähnt?«

Kelly hatte mit einem Mal ein ungutes Gefühl. »Mr. Kingsley, was soll das Ganze eigentlich?«

»Die Pariser Polizei hat in der Hosentasche Ihres Mannes eine Mitteilung gefunden. Darin ist von einer Belohnung für gewisse Auskünfte die Rede, und sie ist mit >Alles Liebe, Olga< unterschrieben.«

Kelly saß da wie vom Donner gerührt. »Ich . ich weiß nicht, was .«

»Aber Sie sagten doch, er hätte mit Ihnen über alles gesprochen.«

»Ja, aber .«

»Aus dem, was wir bislang in Erfahrung bringen konnten, schließen wir, dass Ihr Mann offenbar etwas mit dieser Frau zu tun hatte und .«

»Nein!« Kelly sprang auf. »Das sieht Mark ganz und gar nicht ähnlich. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir keinerlei Geheimnisse voreinander hatten.«

»Aber irgendein Geheimnis muss er gehabt haben, und das hat Ihren Mann das Leben gekostet.«

Kelly wurde mit einem Mal schwindlig. »Sie - Sie müssen mich entschuldigen. Ich fühle mich nicht wohl.«

Er wirkte plötzlich zerknirscht. »Das kann ich verstehen. Ich möchte Ihnen helfen, so weit ich kann.« Tanner reichte ihr seine geprägte Visitenkarte. »Unter dieser Nummer können Sie mich jederzeit erreichen, Mrs. Harris.«

Kelly nickte, ohne ein Wort hervorzubringen, und ging blind vor Tränen hinaus.

Kellys Gedanken überschlugen sich, als sie das Gebäude verließ. Wer war Olga? Was hatte Mark mit den Russen zu tun? Und warum sollte er ...?

»Entschuldigen Sie bitte. Mrs. Harris?«

Kelly wandte sich um. »Ja?«

Eine attraktive Blondine stand vor dem Firmengebäude.

»Ich heiße Diane Stevens. Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Auf der anderen Straßenseite gibt es ein Café, wo wir ...«

»Tut mir Leid. Ich ... ich kann jetzt nicht reden.« Kelly wollte weitergehen.

»Es geht um Ihren Mann.«

Kelly blieb abrupt stehen und drehte sich um. »Um Mark? Was wissen Sie über ihn?«

»Können wir irgendwo unter vier Augen miteinander sprechen?«

Tanner war wieder allein in seinem Büro, als sich seine Sekretärin über die Gegensprechanlage meldete. »Mr. Higholt ist da.«

»Schicken Sie ihn rein.«

Kurz darauf begrüßte ihn Tanner. »Guten Tag, John.« »Gut? Es ist ein höllischer Tag. Ich habe den Eindruck, dass irgendjemand sämtliche Mitarbeiter dieser Firma ermorden will. Was zum Teufel geht hier vor?«

»Genau das versuchen wir zurzeit herauszufinden. Ich glaube einfach nicht, dass der Tod dreier unserer Mitarbeiter ein Zufall ist. Irgendjemand möchte dem Ruf unserer Firma Schaden zufügen, aber wir werden den oder die Betreffenden finden und ihnen Einhalt gebieten. Die Polizei hat sich bereit erklärt, mit uns zusammenzuarbeiten, und ich habe Männer eingeschaltet, die sämtlichen Spuren nachgehen sollen, die unsere getöteten Mitarbeiter hinterlassen haben. Ich möchte, dass Sie sich zwei Gespräche anhören, die ich soeben habe aufzeichnen lassen. Die Witwen von Richard Stevens und Mark Harris standen mir Rede und Antwort. Sind Sie bereit?«

»Von mir aus kann’s losgehen.«

»Das ist Diane Stevens.« Tanner drückte auf einen Knopf, worauf ihr Bild auf einem Monitor auftauchte. In der rechten unteren Ecke war eine Graphik mit auf- und absteigenden Kurven zu sehen, während Diane sprach.

Inwieweit wussten Sie darüber Bescheid, dass Ihr Mann mit Drogen zu tun hatte?

Was ... was wollen Sie damit sagen? Richard hätte sich niemals auf Drogen eingelassen.

Die Kurven verliefen stetig auf und ab.

Tanner drückte auf die Vorspultaste. »Das ist Mrs. Mark Harris, deren Mann sich vom Eiffelturm stürzte, beziehungsweise heruntergestoßen wurde.«

Kellys Gesicht erschien auf dem Bildschirm.

Hat Mark jemals eine Olga erwähnt?

Mr. Kingsley, was soll das Ganze eigentlich?

Die Pariser Polizei hat in der Hosentasche Ihres Mannes eine Mitteilung gefunden. Darin ist von einer Belohnung für gewisse Auskünfte die Rede, und sie ist mit »Alles Liebe, Olga« unterschrieben.

Ich ... ich weiß nicht, was ...

Aber Sie sagten doch, er hätte mit Ihnen über alles gesprochen.

Ja, aber ...

Aus dem, was wir bislang in Erfahrung bringen konnten, schließen wir, dass Ihr Mann offenbar etwas mit dieser Frau zu tun hatte und .

Nein! Das sieht Mark ganz und gar nicht ähnlich. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir keinerlei Geheimnisse voreinander hatten.

Die Kurven auf dem Stimmen-Stress-Analysator blieben so gleichmäßig wie zuvor. Kellys Bild verschwand.

»Was sind das für Linien am Bildschirm?«, fragte John Higholt.

»Das ist ein Stimmen-Stress-Analysator, ein so genannter CVS A. Er erfasst kleinste Schwankungen der menschlichen Stimme. Wenn der Befragte lügt, kommt es zu stärkeren Frequenzabweichungen. Das ist modernste Technologie. Und im Gegensatz zum Polygraphen muss man keine Drähte anschließen. Ich bin davon überzeugt, dass beide Frauen die Wahrheit gesagt haben. Sie müssen beschützt werden.«

John Higholt runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit? Vor wem müssen sie beschützt werden?«

»Ich bin der Meinung, dass sie in Gefahr schweben, dass sie unterbewusst mehr wissen, als ihnen klar ist. Beide hatten eine sehr gute Beziehung zu ihren Männern. Ich bin davon überzeugt, dass irgendwann irgendetwas Aufschlussreiches gesagt wurde, das ihnen seinerzeit möglicherweise gar nicht auffiel. Aber sie haben es abgespeichert. Wenn sie darüber nachdenken, besteht die Möglichkeit, dass es ihnen wieder einfällt. In dem Augenblick könnten sie in Lebensgefahr schweben, weil der oder die Täter, die ihre Männer umgebracht haben, es auch auf sie abgesehen haben könnten. Ich werde zusehen, dass ihnen kein Leid geschieht.«

»Wollen Sie sie beschatten lassen?«

»Das war einmal, John. Heutzutage gibt es für so was elektronische Hilfsmittel. Ich lasse Mrs. Stevens’ Apartment überwachen - mit Kameras, Mikrofonen und allem, was dazu erforderlich ist. Wir setzen jede verfügbare Technologie ein, um sie zu bewachen. Sobald jemand versucht, ihr etwas anzutun, wissen wir Bescheid.«

John Higholt dachte einen Moment lang nach. »Was ist mit Kelly Harris?«

»Sie wohnt im Hotel. Leider hatten wir keinen Zugang zu ihrer Suite und konnten sie nicht präparieren. Aber ich habe Männer im Foyer postiert, die sofort eingreifen werden, falls irgendetwas darauf hindeuten sollte, dass es Schwierigkeiten gibt.« Tanner stockte einen Moment. »Ich möchte, dass die KIG fünf Millionen Dollar Belohnung für Hinweise aussetzt, die zur Ergreifung .«

»Moment, Tanner«, wandte John Higholt ein. »Das ist nicht nötig. Wir werden diese Sache aufklären und .«

»Na schön. Wenn es die KIG nicht tut, werde ich persönlich eine Belohnung von fünf Millionen Dollar aussetzen. Immerhin trägt die Firma meinen Namen.« Seine Stimme wurde härter. »Ich möchte, dass diejenigen, die hinter dieser Sache stecken, gefasst werden.«

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