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Der Hauptsitz der Kingsley International Group befand sich im Süden von Manhattan, zwei Häuserblocks vom East River entfernt. Das eingezäunte und elektronisch überwachte Firmengelände umfasste rund zwei Hektar Grund und Boden, auf dem vier große Betonbauten und zwei kleine Häuser für das Personal standen.

Um zehn Uhr morgens betraten Earl Greenburg und Robert Praegitzer das weitläufige, moderne Foyer des Hauptgebäudes, das mit Sofas, Tischen und einem halben Dutzend Sesseln ausgestattet war.

Detective Greenburg warf einen Blick auf die diversen Zeitschriften, die auf einem Tisch lagen: Virtual Reality, Nuclear and Radiological Terrorism, Robotics World ... Er nahm eine Ausgabe der Genetic Engineering News zur Hand und wandte sich an Praegitzer. »Reicht es nicht schon, dass du die Dinger immer beim Zahnarzt lesen musst?«

Praegitzer grinste. »Doch.«

Die beiden Polizisten wandten sich an die Empfangsdame und wiesen sich aus. »Wir haben einen Termin mit Mr. Tanner Kingsley.«

»Er erwartet Sie. Ich rufe jemanden, der Sie zu seinem Büro bringt.« Sie gab jedem von ihnen einen KIG-Besucherausweis. »Geben Sie die bitte wieder ab, wenn Sie gehen.«

»Selbstverständlich.«

Die Empfangsdame drückte auf einem Summer, und kurz darauf tauchte eine attraktive junge Frau auf.

»Die Herren haben einen Termin mit Mr. Tanner Kingsley.«

»Ja. Ich bin Retra Tyler, eine von Mr. Kingsleys Assistentinnen. Folgen Sie mir bitte.«

Die beiden Detectives gingen einen langen, schmucklosen Korridor entlang, vorbei an einer Reihe geschlossener Türen. Am Ende des Ganges lag Tanners Büro.

Im Vorzimmer erwartete sie Kathy Ordonez, Tanners aufgeweckte junge Sekretärin, die an ihrem Schreibtisch saß.

»Guten Morgen, meine Herren. Sie dürfen gleich hineingehen.«

Sie stand auf und öffnete die Tür zu Tanners Büro. Als die beiden Polizisten eintraten, blieben sie stehen und sahen sich beeindruckt um.

Das riesige Büro war mit allerlei geheimnisvollen elektronischen Geräten voll gestopft, und die schalldichten Wände waren von Plasmabildschirmen gesäumt, auf denen Liveübertragungen aus aller Welt liefen - Aufnahmen aus Konferenzzimmern, Büros und Laboratorien, aber auch aus Hotelzimmern, in denen Besprechungen stattfanden. Jeder Bildschirm verfügte über integrierte Lautsprecher, die so leise gestellt waren, dass man lediglich Satzfetzen in einem Dutzend verschiedener Sprachen hörte.

Anhand von Einblendungen konnte man erkennen, aus welcher Stadt die jeweiligen Bilder eingespielt wurden: Mailand ... Johannesburg ... Zürich ... Madrid ... Athen. An der hinteren Wand stand ein Bücherregal mit acht übereinander angebrachten Borden voller dicker, in Leder gebundener Bände.

Tanner Kingsley saß hinter einem Mahagonischreibtisch, auf dem sich eine Konsole mit einem halben Dutzend bunter Knöpfe und Tasten befand. Er trug einen eleganten, maßgeschneiderten grauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine blau karierte Krawatte.

Tanner erhob sich, als die beiden Detectives hereinkamen.

»Guten Morgen, meine Herren.«

»Guten Morgen«, sagte Earl Greenburg. »Wir .«

»Ja, ich weiß, wer Sie sind. Die Detectives Earl Greenburg und Robert Praegitzer.« Er schüttelte ihnen die Hand. »Nehmen Sie bitte Platz.«

Die beiden Polizisten setzten sich.

Praegitzer starrte auf die rasch wechselnden Bilder aus aller Welt, die auf den zahllosen Bildschirmen zu sehen waren. Bewundernd schüttelte er den Kopf. »Das ist ja die modernste Technik, die es heutzutage .«

Tanner hob die Hand. »Das hier ist nicht die Technik von heute. Diese Technologie wird frühestens in zwei, drei Jahren auf dem Markt sein. Damit können wir gleichzeitig Telekonferenzen in einem Dutzend verschiedener Länder verfolgen. Die Informationen, die von unseren Niederlassungen in aller Welt eingehen, werden von diesen Computern automatisch geordnet und erfasst.«

»Mr. Kingsley, entschuldigen Sie bitte, wenn ich eine einfache Frage stelle. Was genau macht eine Denkfabrik?«

»Grundsätzlich? Wir lösen Probleme. Das heißt, wir überlegen uns Lösungen für Probleme, die sich in Zukunft stellen könnten. Manche Menschen meinen, Denkfabriken konzentrieren sich nur auf ein bestimmtes Gebiet - seien es militärische, wirtschaftliche oder politische Fragen. Wir hingegen befassen uns mit der nationalen Sicherheit, mit Kommunikationstechnik, Mikrobiologie, Umweltthemen. Die KIG ist ein unabhängiges Unternehmen, das für diverse Regierungen Analysen und Beurteilungen der globalen Langzeitfolgen ihrer Politik anfertigt.«

»Interessant«, sagte Praegitzer.

»Fünfundachtzig Prozent unserer Mitarbeiter sind Akademiker, und mehr als sechzig Prozent haben einen Doktortitel.«

»Sehr eindrucksvoll.«

»Mein Bruder Andrew hat die Kingsley International Group gegründet, um Entwicklungshilfe für Länder der Dritten Welt zu leisten. Deshalb sind wir dort hauptsächlich mit Aufbauprojekten beschäftigt.«

Über einen der Bildschirme zuckte mit einem Mal ein greller Blitz, gefolgt von einem Donnergrollen. Alle drehten sich um und schauten hin.

»Habe ich nicht irgendwo gelesen, dass Sie Experimente mit dem Wetter anstellen?«, fragte Detective Greenburg.

Tanner verzog das Gesicht. »Ja, das wird hier bei uns als Kingsleys Groschengrab bezeichnet. Einer der wenigen großen Fehlschläge, die der KIG jemals unterlaufen sind. Es war ein Projekt, von dem wir uns sehr viel versprochen haben. Stattdessen stellen wir es jetzt ein.«

»Kann man denn das Wetter beeinflussen?«, fragte Praegitzer.

Tanner schüttelte den Kopf. »Nur in einem begrenzten Ausmaß. Viele Menschen haben es versucht. Vor etwa hundert Jahren experimentierte der Physiker Nikola Tesla mit dem Wetter. Er fand heraus, dass man die Ionisierung der Atmosphäre durch Radiowellen verändern kann. Im Jahr 1958 veranstaltete das Verteidigungsministerium Experimente mit Kupferspänen, die man in der Ionosphäre abwarf. Zehn Jahre später kam es dann zum Projekt Popeye, bei dem die Regierung versuchte, die Monsunsaison zu verlängern, um den Ho-Chi-minh-Pfad durch Unmengen von Schlamm unpassierbar zu machen. Man verwendete Silberjodid als Katalysator und jagte es in den Himmel, um die Wolken damit anzureichern, worauf sich Eispartikel bildeten, die schließlich den Niederschlag auslösten.«

»Hat es geklappt?«

»Ja, aber nur in begrenztem Umfang. Es gibt mehrere Gründe dafür, weshalb man das Wetter niemals gänzlich wird beeinflussen können. Eines der Probleme ist die durch El Nino bewirkte Erwärmung des Pazifischen Ozeans, die sich auf die gesamte Großwetterlage und das Ökosystem auswirkt, während La Nina die Wassertemperatur im Pazifik abkühlt. Aufgrund des Zusammenspiels beider ist es realistisch gesehen unmöglich, gezielt das Wetter zu verändern, geschweige denn die Folgen zu beherrschen. Die südliche Hemisphäre besteht zu rund achtzig Prozent aus Meeren, während es in der nördlichen Hemisphäre etwa sechzig Prozent sind, was zu einer weiteren Instabilität führt. Hinzu kommt der Jetstream, der ausschlaggebend für die Richtung ist, in die die Stürme ziehen, und den kann man nicht beeinflussen.«

Greenburg nickte, dann zögerte er kurz. »Wissen Sie, weshalb wir hier sind, Mr. Kingsley?«

Tanner musterte Greenburg einen Moment lang. »Ich hoffe doch, dass das nur eine rhetorische Frage ist. Sonst würde ich sie als Beleidigung empfinden. Die Kingsley International Group ist eine Denkfabrik. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden sind vier meiner Mitarbeiter auf geheimnisvolle Art und Weise ums Leben gekommen oder verschwunden. Wir haben in allen größeren Städten auf der Welt Niederlassungen und beschäftigen rund achtzehnhundert Mitarbeiter, weshalb es aus ersichtlichen Gründen schwierig für mich ist, mit allen in Kontakt zu bleiben. Aber ich habe bislang in Erfahrung gebracht, dass zwei der ermordeten Mitarbeiter offenbar in illegale Tätigkeiten verwickelt waren. Das hat sie das Leben gekostet - aber ich kann Ihnen versichern, dass der Ruf der Kingsley International Group dadurch keinen Schaden nehmen wird. Ich rechne damit, dass unsere Leute die Sache binnen kurzer Zeit aufklären werden.«

Greenburg ergriff wieder das Wort. »Mr. Kingsley, da ist noch etwas anderes. Soweit wir wissen, beging vor sechs Jahren ein japanischer Wissenschaftler namens Akira Iso in Tokio Selbstmord. Vor drei Jahren verübte eine Schweizer Wissenschaftlerin namens Madeleine Schmider in .«

Tanner unterbrach ihn. »In Zürich. Keiner von beiden beging Selbstmord. Sie wurden ermordet.«

Die beiden Kriminalpolizisten blickten ihn überrascht an.

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Praegitzer.

Tanners Tonfall wurde eine Spur härter. »Sie wurden meinetwegen umgebracht.«

»Sie wollen sagen ...?«:

»Akira Iso war ein glänzender Wissenschaftler. Er war für einen japanischen Elektronikkonzern tätig, die Tokyo First International Group. Ich bin Iso bei einer internationalen Industriemesse in Tokio begegnet. Wir verstanden uns auf Anhieb, und ich hatte das Gefühl, dass ihm die KIG bessere Arbeitsbedingungen bieten konnte als die Firma, bei der er angestellt war. Deshalb bot ich ihm an, hier zu arbeiten, und er nahm an. Er war regelrecht begeistert.« Tanner war sichtlich bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. »Wir einigten uns darauf, dass wir die Angelegenheit vertraulich behandeln wollten, bis er unter Wahrung aller Fristen kündigen konnte. Aber offensichtlich hat er es irgendjemandem gegenüber erwähnt, denn in einer Zeitung wurde eine Nachricht darüber veröffentlicht und . « Wieder stockte Tanner einen Moment lang, dann fuhr er fort. »Einen Tag, nachdem die Nachricht erschien, wurde Iso in einem Hotelzimmer tot aufgefunden.«

»Mr. Kingsley«, fragte Robert Praegitzer, »gibt es möglicherweise noch andere Erklärungen für seinen Tod?«

Tanner schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe nicht geglaubt, dass er Selbstmord begangen hat. Deshalb habe ich Privatdetektive engagiert und sie mit einigen meiner Mitarbeiter nach Japan geschickt, damit sie herausfinden, was vorgefallen sein könnte. Sie konnten keinerlei Hinweise auf eine Straftat entdecken, und ich dachte, dass ich mich möglicherweise geirrt hätte, dass ihn vielleicht irgendetwas Furchtbares belastet hatte, von dem ich nichts wusste.« »Und warum sind Sie sich inzwischen so sicher, dass er ermordet wurde?«, wollte Greenburg wissen.

»Wie Sie bereits erwähnten, beging vor drei Jahren eine Wissenschaftlerin namens Madeleine Schmider in Zürich angeblich Selbstmord. Sie wissen jedoch vermutlich nicht, dass auch Madeleine Schmider bei ihrem Arbeitgeber kündigen und zu unserem Unternehmen kommen wollte.«

Greenburg runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie darauf, dass die beiden Todesfälle etwas miteinander zu tun haben könnten?«

Tanners Miene wirkte wie versteinert. »Weil das Unternehmen, für das sie arbeitete, ein Ableger der Tokyo First international Group ist.«

Danach herrschte einen Moment lang betroffenes Schweigen.

»Irgendwas begreife ich dabei nicht«, sagte Praegitzer schließlich. »Warum sollten sie eine Angestellte ermorden, nur weil sie kündigen will? Wenn .«

»Madeleine Schmider war keine einfache Angestellte. Ebenso wenig wie Iso. Sie waren hervorragende Physiker, die unmittelbar vor ein paar Problemlösungen standen, die dem Unternehmen ein unvorstellbares Vermögen eingebracht hätten.«

»Hat die Schweizer Polizei Ermittlungen im Fall Schmider angestellt?«

»Ja. Wir ebenfalls. Aber wir konnten wieder nichts beweisen. Allerdings befassen wir uns nach wie vor mit all diesen rätselhaften Todesfällen, und ich rechne damit, dass wir sie aufklären werden. Die KIG verfügt über weit reichende Beziehungen in aller Welt. Wenn ich irgendwelche nützlichen Auskünfte erhalte, reiche ich sie gern an Sie weiter. Ich hoffe doch, dass es umgekehrt genauso sein wird.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte Greenburg.

Ein vergoldetes Telefon auf Tanners Schreibtisch klingelte.

»Entschuldigen Sie mich.« Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. »Hallo . ja . Die Ermittlungen verlaufen bislang sehr zufrieden stellend. Im Moment sind zwei Detectives bei mir, die sich bereit erklärt haben, mit uns zu kooperieren.« Er warf einen kurzen Blick zu Praegitzer und Greenburg. »Gut . Ich sage Ihnen Bescheid, wenn wir weitere Nachrichten erhalten.« Er legte den Hörer wieder auf.

»Mr. Kingsley«, fragte Greenburg, »sind Sie hier mit Projekten befasst, die der Geheimhaltung unterliegen?«

»Meinen Sie damit, ob wir mit etwas beschäftigt sind, das so geheim ist, dass man deswegen ein halbes Dutzend Menschen ermordet? Detective Greenburg, es gibt über hundert Denkfabriken auf der Welt, darunter einige, die sich mit genau den gleichen Problemen befassen wie wir. Wir bauen hier keine Atombomben. Die Antwort auf Ihre Frage lautet Nein.«

Die Tür ging auf, und Andrew Kingsley kam mit einem Stapel Unterlagen ins Büro. Andrew Kingsley hatte nur wenig Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Seine Augen wirkten trüb und glanzlos. Er hatte schüttere graue Haare, ein zerfurchtes Gesicht und ging leicht gebeugt. Neben Tanner, der vor Vitalität und Intelligenz strotzte, wirkte Andrew Kingsley begriffsstutzig und apathisch. Er sprach stockend und hatte sichtlich Mühe, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.

»Hier sind die, du weißt schon, die Unterlagen, um die du gebeten hast, Tanner. Tut mir Leid, dass ich sie . , dass ich nicht früher damit fertig geworden bin.«

»Das ist völlig in Ordnung, Andrew.« Tanner wandte sich den beiden Kriminalpolizisten zu. »Das ist mein Bruder Andrew. Andrew, das sind die Detectives Greenburg und Praegitzer.«

Andrew musterte sie mit unstetem Blick und zwinkerte dann.

»Andrew, willst du ihnen von deinem Nobelpreis erzählen?«

Andrew schaute Tanner an und sagte dann versonnen:

»Ja, der Nobelpreis . der Nobelpreis .«

Sie blickten ihm hinterher, als er sich abwandte und hinausschlurfte.

Tanner seufzte. »Wie ich schon erwähnt habe, war Andrew der Gründer dieses Unternehmens, ein wahrhaft brillanter Mann. Vor sieben Jahren verlieh man ihm für eine seiner Entdeckungen den Nobelpreis. Bedauerlicherweise war er an einem Experiment beteiligt, das missglückte, und das ... das hat ihn verändert.« Tanner klang verbittert.

»Er muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein.«

»Das können Sie sich gar nicht vorstellen.«

Earl Greenburg stand auf und streckte die Hand aus. »Tja, dann wollen wir Sie nicht weiter behelligen, Mr. Kingsley. Wir melden uns wieder.«

»Meine Herren .« Tanners Tonfall war hart wie Stahl.

»Sehen wir zu, dass diese Verbrechen aufgeklärt werden, und zwar rasch.«

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