Kelly starrte Diane verblüfft an. »Das war Klasse. Ich wünschte, ich wäre darauf gekommen.«
»Das kommt schon noch«, erwiderte Diane trocken.
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Aus Manhatten abhauen.«
»Wie denn?«, fragte Kelly. »Die überwachen bestimmt sämtliche Bahnhöfe, Flughäfen, Busbahnhöfe, Autovermietungen .«
Diane dachte einen Moment lang nach. »Wir könnten nach Brooklyn fahren. Dort suchen sie uns bestimmt nicht.«
»Gut«, sagte Kelly. »Nur zu.«
»Was?«
»Ich komme nicht mit.«
Diane wollte etwas Unfreundliches sagen, dann überlegte sie es sich anders. »Sind Sie sich sicher?«
»Ja, Mrs. Stevens.«
»Nun ja, dann werden wir uns ... Auf Wiedersehen«, sagte Diane.
»Wiedersehen.«
Kelly sah, wie Diane ein Taxi anhielt und einstieg. Einen Moment lang stand sie zögernd und unschlüssig da, an einer Straße, die sie nicht kannte, ohne zu wissen, wohin oder an wen sie sich wenden sollte. Die Tür des Taxis wurde zugeschlagen und der Wagen setzte sich in Bewegung.
»Warten Sie!«, schrie Kelly.
Das Taxi hielt an. Kelly rannte zu ihm hin.
Diane öffnete die Tür, Kelly stieg ein und ließ sich in den Sitz sinken.
»Wieso haben Sie es sich anders überlegt?«
»Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch nie in Brooklyn war.«
Diane schaute Kelly einen Moment lang an und schüttelte den Kopf.
»Wohin soll’s gehen?«, erkundigte sich der Fahrer.
»Bringen Sie uns bitte nach Brooklyn«, sagte Diane.
Das Taxi fuhr los. »Welche Gegend?«
»Fahren Sie einfach ein bisschen herum.«
Kelly blickte Diane ungläubig an. »Wissen Sie etwa nicht, wohin wir gehen wollen?«
»Ich weiß es, wenn wir dort sind.«
Wieso bin ich bloß umgekehrt?, fragte sich Kelly.
Während der Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander. Nach knapp zwanzig Minuten überquerten sie die Brooklyn Bridge.
»Wir suchen ein Hotel«, erklärte Diane dem Fahrer.
»Wollen Sie ein nettes Hotel? Ich kenne eins. Das Adams. Es wird Ihnen gefallen.«
Das Adams Hotel war ein vierstöckiger Ziegelbau mit einer Markise über dem Eingang und einem Portier, der die Gäste an der Tür empfing.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte der Fahrer, als das Taxi am Straßenrand hielt.
»Das sieht gut aus«, sagte Diane.
Kelly sagte nichts.
Der Portier begrüßte sie, als sie aus dem Taxi stiegen.
»Guten Tag. Steigen Sie bei uns ab?«
Diane nickte. »Ja.« »Haben Sie Gepäck?«
»Die Fluggesellschaft hat unsere Koffer verschlampt«, erwiderte Diane rasch. »Können wir hier irgendwo einkaufen und uns ein paar Kleidungsstücke besorgen?«
»Am Ende des Blocks ist ein sehr schönes Damenbekleidungsgeschäft. Aber vielleicht möchten Sie vorher einchecken. Dann können Sie sich Ihre Sachen direkt auf Ihr Zimmer schicken lassen.«
»Gut. Sind Sie sicher, dass noch ein Zimmer für uns frei ist?«
»Um diese Jahreszeit sollte das kein Problem sein.«
Der Angestellte an der Rezeption reichte ihnen die Anmeldeformulare. Kelly unterschrieb ihres und sagte laut: »Emily Bronte.«
Diane warf dem Mann an der Rezeption einen kurzen Blick zu, um festzustellen, ob ihm der Name irgendwie bekannt vorkam. Nein.
Diane trug sich unter Mary Cassatt ein.
Der Angestellte nahm die Anmeldescheine. »Möchten Sie mit Kreditkarte bezahlen?«
»Ja, wir .«
»Nein«, warf Diane rasch ein.
Kelly blickte sie an und nickte zögernd.
»Gepäck?«
»Das kommt noch. Wir sind gleich wieder da.«
»Sie haben Suite Nummer fünf-eins-fünf.«
Der Angestellte blickte ihnen hinterher, als sie hinausgingen. Zwei wahre Schönheiten. Und allein. Was für ein Jammer.
Das Geschäft hieß »For Madame« und bot alles, was das Herz begehrte. Hier gab es Damenkleidung jedweder Art, aber auch eine Lederwarenabteilung, in der man Handtaschen und Koffer kaufen konnte.
Kelly blickte sich um und sagte: »Sieht so aus, als hätten wir Glück gehabt.«
Eine Verkäuferin kam zu ihnen. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Wir sehen uns nur um«, erklärte ihr Diane.
Die Verkäuferin sah zu, wie die beiden sich mit suchenden Blicken durch die einzelnen Abteilungen bewegten.
»Schauen Sie!«, sagte Kelly. »Strümpfe.« Sie nahm ein halbes Dutzend. Diane tat es ihr gleich.
»Strumpfhosen ...«
»BHs«
»Slips.«
Nach kurzer Zeit hatte jede von ihnen beide Arme voller Wäschestücke.
Die Verkäuferin kam herbeigeeilt, um ihnen behilflich zu sein, und trug die Einkäufe der ungewöhnlichen Kundinnen zum Kassentisch, während Diane und Kelly ihren Einkauf fortsetzten.
Kelly betrachtete eine Reihe Hosen, die an einem Ständer hingen. Sie suchte vier aus und wandte sich dann an Diane.
»Man weiß ja nie, wann wir wieder zum Einkaufen kommen.«
Diane nahm ebenfalls vier Hosen und ein gestreiftes Sommerkleid.
»Das können Sie nicht tragen«, sagte Kelly. »Mit Streifen wirken Sie zu dick.«
Diane wollte das Kleid bereits zurückhängen, warf dann einen Blick zu Kelly und reichte es der Verkäuferin. »Ich nehme das hier.«
Die Verkäuferin sah voller Erstaunen zu, wie Kelly und Diane die übrigen Ständer durchgingen. Am Ende hatten sie vier Koffer voller Kleidung gekauft.
Kelly schaute sich die Sachen an und grinste. »Das sollte eine Weile reichen.«
Als sie zur Kasse kamen, fragte die Kassiererin: »Möchten Sie bar oder per Kreditkarte bezahlen?«
»Mit Kredit .«
»Bar«, sagte Diane.
Kelly und Diane öffneten ihre Handtaschen und teilten sich die Rechnung. Beide hatten den gleichen Gedanken: Allmählich wird das Bargeld knapp.
»Wir wohnen im Adams«, sagte Kelly zu der Kassiererin.
»Könnten Sie uns das vielleicht .«
»Möchten Sie, dass wir Ihnen die Sachen liefern? Selbstverständlich. Wie heißen Sie?«
Kelly zögerte einen Moment. »Charlotte Bronte.«:
Diane warf ihr einen kurzen Blick zu und sagte rasch:
»Emily. Emily Bronte.«
Kelly erinnerte sich wieder. »Richtig.«
Die Kassiererin betrachtete sie mit großer Verwunderung. Sie wandte sich an Diane. »Und wie heißen Sie?«
»Ich ... äh ...« Diane überlegte fieberhaft. Mit welchem Namen hatte sie unterschrieben? Georgia O’Keeffe ... Frida Kahlo . Joan Mitchell?
»Sie heißt Mary Cassatt«, sagte Kelly.
Die Kassiererin schluckte. »Natürlich.«
Neben »For Madame« befand sich eine Drogerie. »Wir haben schon wieder Glück.« Diane lächelte.
Raschen Schrittes gingen sie hinein und zum nächsten Großeinkauf über.
»Wimperntusche.«
»Rouge.«
»Zahnbürsten.«
»Zahnpasta.«
»Tampons und Slipeinlagen.«
»Lippenstift.«
»Haarclips.«
»Puder.«
Bis Diane und Kelly wieder im Hotel eintrafen, hatte man die vier Koffer bereits auf ihr Zimmer gebracht.
Kelly starrte sie an. »Ich frage mich, welche Ihre sind und welche meine.«
»Das ist doch egal«, beruhigte sie Diane. »Wir werden etwa eine Woche hier sein, also sollten wir erst mal alles verstauen.« »Vermutlich.«
Sie hängten die Kleider und die Hosen auf, packten ihre Wäsche in die Schubladen und stellten die Toilettenartikel ins Badezimmer.
Als die Koffer leer und alle Sachen weggeräumt waren, zog Diane ihre Schuhe und das Kleid aus und ließ sich auf eines der Betten sinken.
»Das fühlt sich herrlich an.« Sie seufzte zufrieden. »Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen aussieht, aber ich esse heute Abend im Bett. Und danach nehme ich ein langes, heißes Bad. Von hier bringt mich so schnell niemand mehr weg.«
Ein freundliches Zimmermädchen in Uniform klopfte an die Tür und brachte einen Stapel frischer Handtücher in die Suite.
Zwei Minuten später kam sie wieder aus dem Badezimmer. »Klingeln Sie bitte nach mir, wenn Sie irgendetwas brauchen. Einen schönen Abend noch.« »Danke.« Kelly blickte ihr hinterher, als sie ging.
Diane blätterte in einer Hausbroschüre, die sie neben dem Bett gefunden hatte. »Wissen Sie, wann das Hotel gebaut wurde?«
»Ziehen Sie sich an«, sagte Kelly. »Wir gehen.«
»Es wurde im Jahr .«
»Ziehen Sie sich an. Wir müssen von hier weg.«
Diane blickte sie an. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein. Hier passiert gleich irgendetwas Schreckliches.«
Ihre Stimme klang panisch.
Diane setzte sich erschrocken auf. »Was soll denn hier passieren?«
»Ich weiß es nicht. Aber wir müssen von hier weg, sonst werden wir beide sterben.«
Ihre Angst wirkte ansteckend, aber in Dianes Augen war sie völlig unbegründet.
»Kelly, Sie reden dummes Zeug. Wenn .«
»Ich bitte Sie, Diane.«
Im Nachhinein wusste Diane nicht mehr, ob sie nachgegeben hatte, weil Kelly sie so gedrängt hatte, oder weil sie sie zum ersten Mal mit ihrem Vornamen angeredet hatte.
»Na schön.« Diane stand auf. »Wir packen unsere Sachen und .«
»Nein! Lassen Sie alles hier.«
Diane schaute Kelly ungläubig an. »Alles hier lassen? Wir haben sie doch gerade erst -«
»Schnell! Wir müssen sofort weg!«
»Na schön.« Hoffentlich weiß sie, was sie tut, dachte Diane, während sie sich widerwillig anzog.
»Rasch!« Es klang wie ein erstickter Schrei.
Diane knöpfte in aller Eile ihr Kleid zu.
»Raus jetzt!«
Sie schnappten sich ihre Handtaschen und stürmten durch die Tür.
Ich muss schon genauso verrückt sein wie sie, dachte Diane ärgerlich.
Als sie ins Foyer kamen, musste Diane regelrecht rennen, um mit Kelly Schritt zu halten. »Würden Sie mir vielleicht verraten, wohin wir gehen?«
Draußen blickte sich Kelly um. »Auf der anderen Straßenseite ist ein Park. Ich ... ich muss mich hinsetzen.«
Wütend folgte sie Kelly in den Park.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Diane.
In diesem Augenblick wurde das Hotel von einer gewaltigen Explosion erschüttert, dann sahen Diane und Kelly, wie das Fenster ihres Zimmers aus der Fassung gerissen wurde und allerlei Trümmer durch die Luft flogen.
Fassungslos und ungläubig starrte Diane auf die andere Straßenseite. »Das ... das war eine Bombe. In unserem Zimmer.« Voller Entsetzen wandte sie sich an Kelly. »Woher . woher haben Sie das gewusst?«
»Das Zimmermädchen.«
Diane blickte sie verständnislos an. »Was ist mit ihr?«
»Zimmermädchen tragen keine Manolo-Blahnik-Schuhe für dreihundert Dollar.«
Diane bekam kaum Luft. »Wie . wie haben sie uns gefunden?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Kelly. »Aber bedenken Sie, mit wem wir es zu tun haben.«
Voller Furcht saßen sie beide da.
»Hat Tanner Kingsley Ihnen irgendwas gegeben, als Sie in seinem Büro waren?«, fragte Diane.
Kelly schüttelte den Kopf. »Nein. Hat er Ihnen was gegeben?«
»Nein.«
Dann fiel es ihnen mit einem Mal ein.
»Seine Karte!«
Sie öffneten ihre Handtaschen und holten die Visitenkarten heraus, die Tanner Kingsley ihnen gegeben hatte.
Diane versuchte, ihre zu zerreißen, aber sie ließ sich nicht einmal knicken. »Da ist irgendein Chip drin«, sagte sie aufgebracht.
Kelly versuchte, ihre durchzubiegen. »In meiner ebenfalls. Damit hat uns der Mistkerl aufspüren können.«
Diane nahm Kellys Karte und sagte wütend: »Jetzt nicht mehr.«
Kelly sah, wie Diane auf die Straße trat und die Karten auf den Boden warf. Binnen kürzester Zeit fuhren ein Dutzend Pkw und Lastwagen darüber.
In der Ferne waren Sirenen zu hören, die rasch näher kamen.
Kelly stand auf. »Wir sollten lieber von hier weg, Diane. Da sie uns jetzt nicht mehr aufspüren können, sind wir in Sicherheit. Ich kehre nach Paris zurück. Was haben Sie vor?«
»Ich versuche herauszufinden, warum das alles passiert.«
»Seien Sie vorsichtig.«
»Sie auch.«
Diane zögerte einen Moment. »Kelly - danke. Sie haben mir das Leben gerettet.«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, erwiderte Kelly betreten. »Ich habe Sie angelogen.«
»Aha?«
»Wissen Sie noch, was ich über Ihre Bilder gesagt habe?«
»Ja.« »Eigentlich mochte ich sie - sehr sogar. Sie sind gut.«
Diane lächelte. »Danke. Ich fürchte, ich war Ihnen gegenüber ziemlich unverschämt.«
»Diane?«
»Ja?«
»Ich hatte keine Hausmädchen, als ich klein war.«
Diane lachte, dann umarmten sie einander.
»Ich bin froh, dass wir uns begegnet sind«, sagte Diane.
»Ich auch.«
Sie standen da, blickten einander an, und mit einem Mal fiel es ihnen schwer, sich voneinander zu verabschieden.
»Ich habe eine Idee«, sagte Diane. »Hier ist meine Handynummer, falls Sie mich brauchen.« Sie schrieb sie auf einen Zettel.
»Hier ist meine«, erwiderte Kelly und gab sie Diane.
»Tja, dann auf Wiedersehen.«
»Ja«, sagte Diane zögernd. »Ich ... Auf Wiedersehen, Kelly.«
Diane blickte Kelly hinterher. An der Ecke drehte sie sich noch einmal um und winkte. Diane winkte zurück. Als Kelly verschwunden war, blickte Diane zu dem schwarzen Loch empor, in dem sie beinahe den Tod gefunden hätten, und mit einem Mal lief es ihr eiskalt über den Rücken.