Als Diane am nächsten Morgen aufwachte, saß Kelly in einem Sessel und starrte die Wand an.
»Morgen«, sagte Diane. »Haben Sie ein bisschen geschlafen?«
Sie bekam keine Antwort.
»Wir müssen uns überlegen, was wir weiter unternehmen. Wir können hier nicht ewig bleiben.«
Keine Antwort.
»Kelly«, rief Diane aufgebracht, »hören Sie mich?«
Kelly fuhr herum. »Was fällt Ihnen ein? Ich bin mitten in einem Mantra.«
»Oh, tut mir Leid. Ich wollte nicht .«
»Vergessen Sie’s.« Kelly stand auf. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie schnarchen?«
Diane zuckte zusammen. Sie meinte, Richards Stimme zu hören, als sie zum ersten Mal eine Nacht zusammen verbracht hatten. Liebling, weißt du, dass du schnarchst? Lass es mich anders ausdrücken. Es ist eigentlich gar kein Schnarchen. Deine Nase gibt die ganze Nacht lang herrliche Melodien von sich, die wie Engelsmusik klingen. Dann hatte er sie in die Arme genommen und ...
»Tja, es ist aber so«, sagte Kelly. Sie ging zum Fernseher und schaltete ihn an. »Mal sehen, was in der Welt passiert ist.« Sie zappte von einem Sender zum nächsten, hielt aber plötzlich inne, als sie auf eine Nachrichtensendung mit Ben Roberts stieß. »Das ist ja Ben!«, rief sie.
»Wer ist Ben?«, fragte Diane, so als sei es ihr mehr oder weniger gleichgültig.
»Ben Roberts. Er moderiert Nachrichtensendungen und Talkshows. Er ist der einzige Talkmaster, den ich gut finde. Er und Mark waren gute Freunde. Eines Tages .« Sie verstummte mit einem Mal.
Ben Roberts sagte gerade:
». und soeben hat uns die Mitteilung erreicht, dass Anthony Altieri, der mutmaßliche Mafiaboss, der kürzlich bei einem Mordprozess freigesprochen wurde, heute Morgen seiner Krebserkrankung erlagen ist. Er war ...«
Kelly wandte sich an Diane. »Haben Sie das gehört? Altieri ist tot.«
Diane empfand gar nichts. Es war eine Nachricht aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit.
Sie schaute Kelly an und sagte: »Ich glaube, es wäre besser, wenn wir uns trennten. Zu zweit sind wir zu auffällig.«
»Stimmt«, versetzte Kelly trocken. »Wir haben die gleiche Größe.«
»Ich habe damit gemeint .«
»Ich weiß, was Sie gemeint haben. Aber ich könnte ja weiße Schminke auftragen und .«
Diane blickte sie verdutzt an. »Was?«
»War nur ein Witz«, versetzte Kelly. »Die Idee mit der Trennung ist großartig. Das ist ja fast eine Art Plan, nicht wahr?«
»Kelly .«
»Jedenfalls war es ausgesprochen interessant, Sie kennen zu lernen, Mrs. Stevens.«
»Wir ziehen hier aus«, erwiderte Diane kurz und knapp.
Im Foyer drängten sich die Teilnehmerinnen eines Frauenkongresses, die sich gerade anmeldeten, während ein halbes Dutzend Gäste auschecken wollte. Kelly und Diane mussten sich anstellen.
Harry Flint, der draußen auf der Straße stand und ins Foyer blickte, sah sie und zog sich sofort wieder zurück. Er griff zu seinem Handy. »Sie sind gerade ins Foyer gekommen.«
»Gut. Ist Carballo schon bei Ihnen, Mr. Flint?«
»Ja.«
»Gehen Sie genauso vor, wie ich es Ihnen gesagt habe. Überwachen Sie den Eingang zum Hotel von beiden Seiten, damit sie in der Falle sitzen, egal, wohin sie sich wenden. Ich möchte, dass sie spurlos verschwinden.«
Kelly und Diane hatten sich endlich zum Schalter durchgekämpft.
Die Frau an der Kasse lächelte sie an. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt bei uns.«
»Sehr angenehm, vielen Dank«, sagte Diane. Immerhin leben wir noch.
»Wissen Sie, wohin wir uns jetzt wenden sollen?«, fragte Kelly, als sie zur Tür gingen.
»Nein. Ich will nur aus Manhattan weg. Was ist mit Ihnen?«
Ich will von dir weg. »Zurück nach Paris.«
Sie traten hinaus und blickten sich sorgfältig um. Auf dem Gehsteig herrschte das übliche Getümmel, aber ansonsten wirkte alles normal.
»Wiedersehen, Mrs. Stevens«, sagte Kelly mit erleichtertem Unterton.
»Wiedersehen, Kelly.«
Kelly wandte sich nach links und lief auf die nächste Ecke zu. Diane blickte ihr einen Moment lang hinterher, drehte sich dann nach rechts und ging in die andere Richtung. Sie hatten kaum mehr als fünf Schritte getan, als plötzlich Harry Flint und Vince Carballo zu beiden Seiten der Häuserzeile auftauchten. Carballo hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck. Flint grinste wie immer vor sich hin.
Die beiden Männer drängten sich zwischen den Passanten hindurch und näherten sich den Frauen. Diane und Kelly wandten sich um und blickten einander erschrocken an. Man hatte ihnen aufgelauert. Beide gingen raschen Schrittes zum Eingang des Hotels zurück, aber vor der Tür herrschte so ein Gedränge, dass sie nicht hineinkonnten.
Sie steckten in der Klemme, und die beiden Männer kamen immer näher.
Kelly wandte sich an Diane, war aber wie vom Donner gerührt, als sie sah, dass Diane lächelte und Flint und Carballo fröhlich zuwinkte.
»Sind Sie verrückt geworden?«, flüsterte Kelly.
Diane, die immer noch lächelte, holte ihr Handy heraus.
»Wir sind jetzt vor dem Hotel«, sagte sie rasch. »Ah, gut. Ihr seid um die Ecke?« Sie grinste und zeigte Kelly das Siegeszeichen. »Sie sind in einer Minute hier«, sagte sie laut. Sie blickte zu Flint und Carballo und sagte ins Telefon: »Nein, sie sind nur zu zweit.« Diane hörte einen Moment lang zu und lachte dann. »Genau ... Sie sind hier? Okay.«
Kelly und die beiden Männer beobachteten völlig verwirrt, wie Diane von der Bordsteinkante auf die Straße trat und die entgegenkommenden Autos musterte. Dann hob sie die Hand und winkte aufgeregt einem Wagen zu, der sich vom anderen Ende der Straße aus näherte. Flint und Carballo waren stehen geblieben, als wüssten sie nicht recht, was hier vor sich ging. Diane deutete auf die beiden Männer. »Da drüben«, rief sie einem entgegen kommenden Wagen zu und winkte aufgeregt. »Da drüben.«
Flint und Carballo schauten sich an und fassten einen raschen Entschluss. Sie machten kehrt und verzogen sich um die nächste Ecke.
Kelly starrte Diane an, während ihr Herz wie wild hämmerte. »Sie sind weg«, sagte sie. »Mit ... mit wem haben Sie gesprochen?«
Diane atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen.
»Mit niemandem. Mein Akku ist leer.«