Auf dem Neonschild über der Tür stand WILTON HOTEL FOR WOMEN.
Kelly und Diane gingen ins Foyer und trugen sich unter falschen Namen ein. Die Frau an der Rezeption reichte Kelly einen Schlüssel. »Suite Nummer vier-zwo-vier. Haben Sie Gepäck?«
»Nein, wir .«
»Es ging verloren«, warf Diane ein. »Morgen früh müsste es hier sein. Übrigens, unsere Männer wollen uns demnächst abholen. Könnten Sie sie auf unser Zimmer schicken und .«
Die Frau an der Rezeption schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Männer dürfen nicht nach oben.«
»Oh?« Diane bedachte Kelly mit einem zufriedenen Lächeln.
»Wenn sie sich hier unten mit Ihnen treffen möchten .«
»Ist schon gut. Dann müssen sie eben ohne uns zurechtkommen.«
Suite Nummer 424 bestand aus einem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer mit einer Couch, mehreren Sesseln, Tischen und einem Kleiderschrank und einem Schlafzimmer mit zwei bequem aussehenden Doppelbetten.
Diane blickte sich um. »Das ist doch hübsch, nicht wahr?«
»Was machen wir hier eigentlich?«, versetzte Kelly säuerlich. »Wollen wir etwa ins Guinness-Buch der Rekorde? Alle halbe Stunde ein anderes Zimmer?«
»Haben Sie eine bessere Idee?«
»Das ist keine Idee«, erwiderte Kelly verächtlich. »Das ist ein Katz-und-Maus-Spiel, und wir sind die Maus.«
»Ich darf gar nicht daran denken, dass uns möglicherweise der Kopf der größten Denkfabrik der Welt umbringen will«, sagte Diane.
»Dann denken Sie nicht daran.«
»Leichter gesagt, als getan. Bei der KIG gibt es eine Menge Schlaumeier.«
»Tja, dann müssen wir eben noch schlauer sein.«
Kelly runzelte die Stirn. »Wir brauchen irgendeine Waffe. Können Sie mit einer Pistole umgehen?«
»Nein.«
»Verdammt. Ich auch nicht.«
»Ist auch egal. Wir haben sowieso keine.«
»Wir sieht’s mit Karate aus?«
»Nein, aber ich war am College im Diskussionsseminar«, erwiderte Diane trocken. »Vielleicht kann ich ihnen ausreden, uns umzubringen.«
»Genau.«
Diane ging zum Fenster und blickte auf den Verkehr auf der Vierunddreißigsten Straße. Plötzlich riss sie die Augen auf und keuchte. »Oh!«
Kelly stürmte zu ihr. »Was ist los? Was haben Sie gesehen?«
Diane hatte einen trockenen Hals. »Ein ... ein Mann ist vorbeigegangen. Er sah genauso aus wie Richard. Einen Moment lang dachte ich .« Sie wandte sich vom Fenster ab.
»Soll ich einen Gespensterjäger holen?«, fragte Kelly verächtlich.
Diane wollte etwas erwidern, schwieg dann aber. Was soll’s? Wir sind bald weg.
Kelly musterte Diane und dachte: Warum hältst du nicht einfach den Mund und malst irgendwas?
Tanner war wütend, als Flint ihn per Handy anrief. »Tut mir Leid, Mr. Kingsley. Sie waren nicht in ihrem Zimmer im Mandarin. Sie waren weg. Sie müssen gewusst haben, dass ich komme.«
»Diese Weiber wollen mich austricksen«, versetzte Tanner aufgebracht. »Mich! Ich melde mich wieder.« Er knallte den Hörer auf die Gabel.
Andrew lag auf der Couch in seinem Büro und träumte, er stünde auf der großen Bühne der Stockholmer Konzerthalle. Das Publikum jubelte begeistert und rief: »Andrew! Andrew!« Ein ums andere Mal hallte sein Name durch den Saal.
Er hörte den Applaus des Publikums, als er über die Bühne ging, um von König Carl XVI. Gustav von Schweden den Nobelpreis entgegenzunehmen. Als er die Hand nach der Urkunde ausstreckte, fing jemand an, ihn zu beschimpfen.
»Andrew, du Mistkerl, komm her.«
Die Stockholmer Konzerthalle verblasste, und Andrew war wieder in seinem Büro. Tanner rief nach ihm.
Er braucht mich, dachte Andrew glücklich. Langsam erhob er sich und ging in das Büro seines Bruders.
»Bin schon da«, sagte Andrew.
»Ja, das sehe ich«, blaffte Tanner ihn an. »Setz dich.«
Andrew nahm sich einen Stuhl.
»Ich muss dir ein paar Sachen beibringen, großer Bruder. Teilen und herrschen.« Tanner schlug einen arroganten Ton an. »Ich habe dafür gesorgt, dass Diane Stevens meint, die Mafia habe ihren Mann umgebracht, und Kelly Harris sorgt sich um eine nicht existierende Olga. Hast du verstanden?«
»Ja, Tanner«, sagte Andrew gedankenverloren.
Tanner tätschelte seinem Bruder die Schulter. »Du bist der ideale Ansprechpartner für mich, Andrew. Es gibt ein paar Sachen, die ich mit dir bereden möchte, weil ich mit niemand anderem darüber sprechen kann. Aber dir kann ich alles sagen, weil du zu dumm bist, um es zu begreifen.« Er schaute seinem Bruder in die Augen und sah dessen geistesabwesenden Blick. »Du siehst nichts, du hörst nichts, du sagst nichts.« Tanner wurde mit einem Mal ernst. »Wir müssen ein Problem lösen. Zwei Frauen sind verschwunden. Sie wissen, dass wir hinter ihnen her sind, um sie zu töten, deshalb versuchen sie unterzutauchen. Wo könnten sie sich verstecken, Andrew?«
Andrew schaute seinen Bruder einen Moment lang an.
»Ich - ich weiß es nicht.«
»Es gibt zwei Möglichkeiten, das herauszufinden. Zunächst mal versuchen wir es nach der kartesianischen Methode, indem wir logisch Schritt für Schritt vorgehen. Lass uns einfach nachdenken.«
Andrew blickte ihn an und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Wenn du meinst .«
Tanner fing an, auf und ab zu gehen. »In Stevens’ Apartment kehren sie nicht zurück, weil das zu gefährlich wäre - wir lassen es überwachen. Wir wissen, dass Kelly Harris keine Freunde in den Staaten hat, denen sie trauen würde, weil sie seit langem in Paris lebt.« Er blickte seinen Bruder an.
»Kannst du mir folgen?«
Andrew zwinkerte. »Ich ... Ja, Tanner.«
»Nun, würde sich Diane Stevens an Freunde wenden, wenn sie Hilfe sucht? Das glaube ich nicht. Das wäre zu gefährlich. Sie könnten sich möglicherweise an die Polizei wenden, aber andererseits wissen sie auch, dass man sie wahrscheinlich auslachen würde. Was also könnten sie unternehmen?« Er schloss ein paar Sekunden lang die Augen, dann fuhr er fort. »Natürlich könnten sie daran denken, sich abzusetzen, aber sie sind sich vermutlich darüber im Klaren, dass wir sämtliche Flughäfen, Bahnhöfe und Busbahnhöfe überwachen. Was also käme noch in Frage?«
»Ich . ich . bin ganz deiner Meinung, Tanner.«
»Ein Hotel käme in Frage, Andrew. Sie könnten sich in einem Hotel verstecken. Aber in was für einem Hotel? Zwei verängstigte Frauen, die auf der Flucht sind. Sie müssten immer damit rechnen, dass man Verbindung mit uns aufnimmt, egal, für welches sie sich entscheiden, verstehst du? Sie können sich nicht sicher fühlen. Kannst du dich noch an Sonja Verbrügge in Berlin erinnern? Wir haben sie mit der dringenden Nachricht überlistet, die wir ihr auf den Bildschirm geschickt haben. Sie ist im Hotel Artemisia abgestiegen, weil dort nur Frauen unterkommen. Deshalb dachte sie, sie wäre dort in Sicherheit. Nun ja, ich glaube die Damen Stevens und Harris denken ganz ähnlich. Was also schließen wir daraus?«
Er wandte sich wieder seinem Bruder zu. Andrew hatte die Augen geschlossen und schlief. Tanner ging zu ihm und schlug ihm ins Gesicht.
Andrew fuhr hoch. »Was ...?«:
»Pass gefälligst auf, wenn ich mit dir rede, du Trottel.«
»Ich . Tut mir Leid, Tanner. Ich war nur .«
Tanner ging an den Computer. »Nun ja, mal sehen, welche Hotels in Manhattan nur Frauen aufnehmen.«
Tanner klinkte sich ins Internet ein, stellte ein paar Recherchen an und druckte das Ergebnis aus. Er las die Namen laut vor. »Das El Carmelo Residence an der Westlichen Vierzehnten Straße, das Centro Maria Residence an der Westlichen Vierundfünfzigsten Straße, das Parkside Evangeline an der Südlichen Gramercy und das Wilton Hotel for Women.« Er blickte auf und lächelte. »Dort könnten sie laut kartesianischer Logik sein, Andrew. Nun wollen wir doch mal sehen, was uns die Technologie verrät.«
Tanner ging zu einem Landschaftsgemälde an der Wand, griff dahinter und drückte auf einen versteckten Knopf. Ein Teil der Wand glitt auf, und dahinter kam ein Bildschirm mit einem digitalisierten Stadtplan von Manhattan zum Vorschein.
»Weißt du noch, was das ist, Andrew? Du hast diese Apparatur mal bedient. Du hast das sogar so gut beherrscht, dass ich regelrecht eifersüchtig auf dich war. Das ist ein Global Positioning System. Damit können wir jedermann auf der Welt orten. Kannst du dich noch erinnern?«
Andrew nickte und bemühte sich, wach zu bleiben.
»Als die beiden Damen mein Büro verließen, habe ich jeder von ihnen meine Visitenkarte gegeben. Die Karten sind mit einem Computerchip versehen, der nicht größer als ein Sandkorn ist. Das Signal, das er aussendet, wird per Satellit erfasst, und wenn das Global Positioning System aktiviert wird, ermittelt es ihren genauen Aufenthaltsort.« Er wandte sich an seinen Bruder. »Begreifst du das?«
Andrew schluckte. »Ich ... ich ... Ja, Tanner.«
Tanner wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Er drückte auf einen zweiten Knopf. Ein roter Lichtpunkt blinkte auf dem Stadtplan auf und bewegte sich nach unten. In einem dicht bebauten Gebiet verharrte er, wanderte dann weiter, eine Straße entlang und bewegte sich so langsam, dass die Namen der Geschäfte deutlich zu sehen waren.
Tanner deutete darauf. »Das ist die Westliche Vierzehnte Straße.« Das rote Licht wanderte weiter. »Das ist das Tequila Restaurant, eine Apotheke, das Saint Vincent’s Hospital, Banana Republic, eine Kirche, Our Lady of Guadalupe.« Das Licht blieb stehen. »Und das ist das Wilton Hotel for Women«, sagte Tanner mit triumphierendem Unterton. »Was wiederum meine Überlegungen bestätigt. Ich hatte Recht, siehst du?«
Andrew leckte sich die Lippen. »Ja. Du hattest Recht .«
Tanner schaute Andrew an. »Du darfst jetzt wieder gehen.« Er griff zu seinem Handy und wählte eine Nummer.
»Mr. Flint, sie sind im Wilton Hotel an der Westlichen Vierunddreißigsten Straße.« Er stellte das Telefon ab, blickte auf und sah Andrew in der Tür stehen. »Was gibt’s?«, fragte Tanner unwirsch.
»Darf ich nach, du weißt schon, nach Schweden fahren und den Nobelpreis in Empfang nehmen, den man mir verliehen hat?«
»Nein, Andrew. Das war vor sieben Jahren.«
»Oh.« Andrew drehte sich um und schlurfte in sein Büro.
Tanner dachte an die dringende Reise nach Europa, die er vor drei Jahren unternommen hatte ...
Er war gerade mit einem schwierigen logistischen Problem beschäftigt, als sich seine Sekretärin über die Gegensprechanlage bei ihm meldete. »Zürich ist für Sie am Apparat, Mr. Kingsley.«
»Ich habe gerade alle Hände voll zu tun ... Schon gut, ich rede mit ihnen.« Er nahm den Hörer ab. »Ja?« Tanners Miene wurde immer grimmiger, während er zuhörte. »Ich verstehe«, sagte er unwirsch. »Sind Sie sicher? Nein, schon gut. Ich kümmere mich persönlich darum.«
Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Kathy, sagen Sie dem Piloten, er soll die Challenger klar machen. Wir fliegen nach Zürich. Zwei Personen.«
Madeleine Schmider saß in einer Nische im La Rotonde, einem der besten Restaurants von Zürich. Sie war Anfang dreißig, hatte ein bezauberndes ovales Gesicht, einen wunderschönen Teint und einen Bubikopf. Offensichtlich war sie schwanger.
Als Tanner an ihren Tisch kam, stand Madeleine Schmider auf und streckte ihm die Hand hin. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Er ließ sich gegenüber von ihr nieder.
»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.« Sie sprach mit einem melodiösen Schweizer Akzent. »Als ich Ihren Anruf erhielt, dachte ich zuerst, es sei ein Scherz.«
»Warum?«
»Na ja, Sie sind so ein bedeutender Mann, und als man mir mitteilte, dass Sie eigens nach Zürich kommen würden, um mit mir zu sprechen, konnte ich mir nicht vorstellen .«
Tanner lächelte. »Ich will Ihnen erklären, weshalb ich hier bin. Weil ich gehört habe, dass Sie eine hervorragende Wissenschaftlerin sind, Madeleine. Ich darf Sie doch Madeleine nennen?«
»Oh, bitte sehr, Mr. Kingsley.«
»Wir beim KIG schätzen Menschen, die etwas können. Sie sind jemand, der für uns arbeiten sollte, Madeleine. Wie lange sind Sie schon bei der Tokyo First National Group?«
»Sieben Jahre.«
»Nun ja, die Sieben ist Ihre Glückszahl, denn ich biete Ihnen eine Stelle bei der KIG an. Sie verdienen doppelt so viel wie jetzt, leiten Ihre eigene Abteilung und .«
»Oh, Mr. Kingsley!« Sie strahlte ihn an.
»Haben Sie Interesse, Madeleine?«
»O ja! Sehr sogar. Natürlich kann ich nicht gleich anfangen.«
Tanner verzog das Gesicht. »Was meinen Sie damit?«
»Na ja, ich bekomme ein Kind und will demnächst heiraten .«
Tanner lächelte wieder. »Das ist doch kein Problem. Wir kümmern uns um alles.«
»Aber ich kann aus noch einem weiteren Grund nicht sofort kündigen«, sagte Madeleine Schmider. »Ich bin zurzeit mit einem Projekt befasst, und wir sind gerade dabei . Wir sind fast fertig damit.« »Madeleine, ich weiß nicht, um welches Projekt es geht, und es interessiert mich auch nicht. Tatsache aber ist, dass Sie das Angebot, das ich Ihnen gemacht habe, sofort annehmen müssen. Genau genommen hatte ich sogar gehofft, dass Sie und Ihr Verlobter« - er lächelte - »oder sollte ich sagen, Ihr künftiger Mann, mit mir nach Amerika fliegen würden.«
»Ich könnte kommen, sobald das Projekt abgeschlossen ist. In sechs Monaten, spätestens in einem Jahr.«
Tanner schwieg einen Moment. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht sofort bei uns anfangen können?«
»Ja. Ich leite dieses Projekt. Es wäre unfair, wenn ich einfach aussteigen würde.« Sie strahlte wieder. »Nächstes Jahr?«
Tanner lächelte. »Auf jeden Fall.«
»Tut mir Leid, dass Sie die Reise umsonst auf sich genommen haben.«
»Sie war nicht umsonst, Madeleine«, sagte Tanner freundlich. »Ich habe Sie kennen gelernt.«
Sie errötete. »Sie sind sehr freundlich.«
»Ach, ich habe Ihnen übrigens ein Geschenk mitgebracht. Mein Mitarbeiter bringt es heute Abend um sechs bei Ihnen zu Hause vorbei. Er heißt Harry Flint.«
Am nächsten Morgen wurde Madeleine Schmider tot in ihrer Küche aufgefunden. Sie lag am Boden vor dem Herd, dessen Gashahn aufgedreht war.
Tanner widmete sich wieder dem gegenwärtigen Problem. Flint hatte ihn noch nie enttäuscht. Er würde Diane Stevens und Kelly Harris bald beseitigen, und wenn die beiden aus dem Weg geräumt waren, konnte das Projekt fortgesetzt werden.