39

Das Klingelzeichen ihres Handys schreckte sie auf. Vorsichtig nahm sie es ans Ohr. »Hallo?«

»Hi, Kelly.«

»Diane! Wo sind Sie?«

»In München. Und wo sind Sie?«

»Auf der Kanalfähre nach Dover. Ich bin auf dem Weg nach London.«

»Wie ist das Gespräch mit Sam Meadows verlaufen?«

Kelly konnte noch immer seine Schreie hören. »Das erzähle ich Ihnen, wenn wir uns treffen. Haben Sie irgendetwas erfahren?«

»Nicht viel. Wir müssen uns überlegen, wie wir weiter vorgehen. Allzu viele Möglichkeiten haben wir nicht mehr. Gary Reynolds’ Flugzeug ist in der Nähe von Denver abgestürzt. Ich glaube, wir sollten uns dorthin begeben. Das ist vielleicht unsere letzte Chance.«

»In Ordnung.«

»In dem Nachruf hieß es, dass Reynolds eine Schwester hat, die in Denver lebt. Möglicherweise weiß sie irgendetwas. Wollen wir uns im Brown Palace Hotel in Denver treffen? Ich fliege in drei Stunden ab.«

»Ich sehe zu, dass ich in Heathrow einen Flug bekomme.«

»Gut. Ich reserviere ein Zimmer unter dem Namen Harriet Beecher Stowe. Und noch was, Kelly .«

»Ja?«

»Ach ... Sie wissen schon.«

»Ich weiß. Sie auch.«

Tanner war allein in seinem Büro und sprach am goldenen Telefon. ». und sie sind wieder entkommen. Sam Meadows hat es schlimm erwischt, und Greg Holliday ist tot.« Er schwieg einen Moment und dachte nach. »Eigentlich können sie jetzt nur noch nach Denver. Genau genommen ist das sogar ihre letzte Möglichkeit ... Sieht so aus, als müsste ich mich persönlich um diese Sache kümmern. Immerhin haben sie sich meine Hochachtung verdient, da ist es nur gerecht, wenn ich mich ihrer annehme.« Er hörte einen Moment lang zu, dann lachte er. »Natürlich. Wiederhören.«

Andrew saß in seinem Büro, ließ seine Gedanken schweifen und hing undeutlichen Traumgesichten nach. Er meinte, wieder im Krankenhausbett zu liegen, und Tanner beugte sich über ihn und sagte: Du hast mich überrascht, Andrew. Eigentlich solltest du tot sein. Aber jetzt sagen mir die Arzte, dass du in ein paar Tagen herauskommst. Ich werde dir ein Büro bei der KIG geben. Ich möchte, dass du siehst, wie ich dir den Arsch rette. Du wolltest ja kein Einsehen haben, nicht wahr, du Blödmann? Tja, jetzt werde ich deine armselige Klitsche in eine Goldgrube verwandeln, und du darfst daneben sitzen und mir dabei zusehen. Zuallererst habe ich übrigens diese blödsinnigen Wohltätigkeitsprojekte gekippt, die du in die Wege geleitet hast, Andrew . Andrew . Andrew .

Die Stimme wurde lauter. »Andrew! Bist du taub?«

Tanner rief ihn. Andrew rappelte sich auf und ging in das Büro seines Bruders.

Tanner blickte auf. »Ich hoffe, ich habe dich nicht bei deiner Arbeit gestört«, sagte er spöttisch.

»Nein, ich habe bloß .«

Tanner musterte seinen Bruder einen Moment lang. »Eigentlich bist du zu gar nichts nütze, nicht wahr, Andrew? Du leistest nichts, du bringst nichts. Ich finde es gut, dass ich jemanden habe, mit dem ich reden kann, aber ich bin mir nicht recht darüber im Klaren, wie lange ich dich noch um mich haben will.«

Kelly traf vor Diane in Denver ein und stieg im noblen Brown Palace Hotel ab.

»Eine Freundin von mir trifft heute Nachmittag ebenfalls hier ein.«

»Möchten Sie zwei Zimmer?«

»Nein, ein Doppelzimmer.«

Als Dianes Maschine am Denver International Airport landete, nahm sie sich ein Taxi und fuhr zum Hotel. Sie nannte an der Rezeption ihren Namen.

»O ja, Mrs. Stowe erwartet Sie bereits. Sie ist in Zimmer 638.«

Diane vernahm es mit Erleichterung.

Kelly wartete schon auf sie. Sie schlossen einander in die Arme.

»Ich habe Sie vermisst.«

»Ich habe Sie ebenfalls vermisst. Wie war der Flug?«, fragte Kelly.

»Ohne Zwischenfälle. Gott sei Dank.«

Diane schaute sie an und sagte: »Wie ist es Ihnen in Paris ergangen?«

Kelly holte tief Luft. »Tanner Kingsley wollte mich umbringen lassen. Und wie war es in Berlin?«

»Das Gleiche«, erwiderte Diane tonlos.

Kelly ging zum Tisch, holte das Telefonbuch und begann darin zu blättern. »Lois Reynolds, Garys Schwester, steht im Telefonbuch. Sie wohnt an der Marion Street.«

»Gut.« Diane warf einen Blick auf ihre Uhr. »Heute Abend ist es zu spät, um noch irgendwas zu unternehmen. Morgen in aller Frühe gehen wir hin.«

Sie nahmen das Abendessen auf ihrem Zimmer zu sich, redeten bis Mitternacht miteinander und machten sich dann bettfertig.

»Gute Nacht«, sagte Diane und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. Das Zimmer wurde in Dunkelheit getaucht.

»Nein!«, schrie Kelly. »Mach das Licht an.«

Diane schaltete sofort die Lampe wieder an. »Tut mir Leid, Kelly. Ich hab’s vergessen.«

»Ich hatte früher immer Angst vor der Dunkelheit, bis ich Mark kennen lernte. Und seit er umgebracht wurde ...« Kelly schnappte nach Luft und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Dann atmete sie tief durch. »Ich wünschte, ich könnte es überwinden.«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen. Wenn Sie sich wieder sicher fühlen, werden Sie es schaffen.«

Als Diane und Kelly am nächsten Morgen aus dem Hotel kamen, stand eine Reihe Taxis vor dem Eingang. Die beiden Frauen stiegen in den ersten Wagen, und Kelly nannte dem Fahrer die Nummer von Lois Reynolds’ Haus an der Marion Street.

Fünfzehn Minuten später hielt der Fahrer am Straßenrand. »Da wären wir.«

Kelly und Diane starrten entgeistert aus dem Fenster. Sie blickten auf die geschwärzten Überreste eines Hauses, das bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Nur mehr Asche, verkohlte Holztrümmer und das eingelassene Betonfundament waren übrig geblieben.

»Diese Mistkerle haben sie umgebracht«, sagte Kelly. Sie warf Diane einen verzweifelten Blick zu. »Hier kommen wir nicht mehr weiter.«

Diane dachte nach. »Doch, ich glaube, es gibt noch eine letzte Chance.«

Ray Fowler, der mürrisch wirkende Direktor des Flughafens von Denver, betrachtete Kelly und Diane mit finsterer Miene. »Mal sehen, ob ich das recht verstanden habe. Sie beide wollen einen Flugzeugabsturz untersuchen, und zwar ohne jede Vollmacht, und ich soll dafür sorgen, dass Sie den Fluglotsen befragen können, der seinerzeit Dienst hatte, damit er Ihnen ein paar vertrauliche Auskünfte gibt? Habe ich das richtig verstanden?«

Diane und Kelly warfen sich einen kurzen Blick zu.

»Na ja«, sagte Kelly, »wir hatten gehofft .«

»Was hatten Sie gehofft?«

»Dass Sie uns helfen würden.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Mr. Fowler, wir möchten nur sichergehen, dass Gary Reynolds tatsächlich durch einen Unfall umgekommen ist.«

Ray Fowler musterte sie eingehend. »Das ist ja interessant«, sagte er. Er saß einen Moment lang versonnen da, dann ergriff er wieder das Wort. »Ich habe viel über diese Sache nachgedacht. Vielleicht sollten Sie tatsächlich mal mit Howard Miller darüber sprechen. Er war der Dienst habende Fluglotse, als der Unfall passiert ist. Hier ist seine Adresse. Ich rufe ihn an und sage ihm Bescheid, dass Sie vorbeikommen.«

»Vielen Dank. Das ist sehr freundlich«, sagte Diane.

»Ich mache das nur deshalb«, knurrte Ray Fowler, »weil der Untersuchungsbericht der Flugaufsichtsbehörde meiner Meinung nach Blödsinn ist. Wir haben die Überreste der Maschine gefunden, aber seltsamerweise fehlte die Black Box. Sie ist einfach verschwunden.«

Howard Miller wohnte in einem kleinen, mit gelbbraunem Mörtel verputzten Haus rund zehn Kilometer vom Flughafen entfernt. Er war ein kleiner, lebhafter Mann um die vierzig. Er öffnete die Tür, noch ehe Diane und Kelly klingelten.

»Kommen Sie rein. Ray Fowler hat mir mitgeteilt, dass Sie kommen. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir würden gern mit Ihnen reden, Mr. Miller.«

»Nehmen Sie Platz.« Sie setzten sich auf die Couch.

»Möchten Sie einen Kaffee?«

»Nein danke.«

»Sie sind wegen Gary Reynolds’ Absturz hier.«

»Ja. War es ein Unglücksfall oder ...?«:

Howard Miller zuckte die Achseln. »Ich weiß es beim besten Willen nicht. In all den Jahren, die ich hier schon arbeite, habe ich so was noch nie erlebt. Alles lief völlig plangemäß. Gary Reynolds bat über Funk um Landeerlaubnis, und wir haben sie erteilt. Dann, als er nur noch zwei Meilen entfernt war, meldete er, dass er in einen Hurrikan geraten sei. Einen Hurrikan! Auf unserem Wetterradar war nichts zu sehen. Später habe ich mich beim Wetteramt erkundigt. Zum fraglichen Zeitpunkt herrschte kein Wind. Ehrlich gesagt, dachte ich, er wäre betrunken oder unter Drogeneinfluss. Und im nächsten Moment ist er dann an einer Bergflanke zerschellt.«

»Meines Wissen hat man die Black Box nicht gefunden«, sagte Kelly.

»Das kommt hinzu«, entgegnete Howard Miller nachdenklich. »Alles andere haben wir gefunden. Aber was ist aus der Black Box geworden? Die verdammte Flugaufsicht kam her und dachte, wir hätten uns mit unseren Aufzeichnungen vertan. Die wollten uns nicht glauben, als wir ihnen berichtet haben, was vorgefallen war. Kennen Sie das Gefühl, wenn man regelrecht spürt, dass irgendetwas nicht stimmt?«

»Ja.« »Ich habe das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt, aber ich kann Ihnen nicht sagen, was. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.«

Enttäuscht standen Diane und Kelly auf. »Tja, trotzdem vielen Dank, Mr. Miller. Wir sind Ihnen sehr verbunden.«

»Keine Ursache.«

Als Miller die beiden Frauen zur Tür begleitete, sagte er:

»Ich hoffe, Garys Schwester kommt wieder auf die Beine.«

Kelly blieb stehen. »Was?«

»Sie liegt im Krankenhaus, müssen Sie wissen. Das arme Ding. Ihr Haus ist mitten in der Nacht abgebrannt. Die Ärzte wissen noch nicht, ob sie durchkommt.«

Diane erstarrte. »Was ist passiert?«

»Die Feuerwehr nimmt an, dass der Brand durch einen Kurzschluss verursacht wurde. Lois konnte sich aus der Tür in den Vorgarten schleppen, aber als die Feuerwehrmänner zu ihr kamen, war sie in ziemlich schlechter Verfassung.«

Diane versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen. »In welchem Krankenhaus ist sie?«

»Im Hospital der University of Colorado. In der Spezialabteilung für Brandverletzungen.«

»Tut mir Leid«, sagte die Schwester an der Anmeldung der Universitätsklinik, »aber Miss Reynolds darf keine Besucher empfangen.«

»Können Sie uns sagen, in welchem Zimmer sie liegt?«, fragte Kelly.

»Nein, das kann ich leider nicht.«

»Es handelt sich um einen Notfall«, sagte Diane. »Wir müssen mit ihr sprechen und .«

»Niemand darf ohne eine schriftliche Genehmigung mit ihr sprechen«, erwiderte sie mit Entschiedenheit.

Diane und Kelly blickten sich an.

»Na dann, vielen Dank.«

Die beiden Frauen gingen weg. »Was machen wir nun?«, fragte Kelly. »Das ist unsere letzte Chance.«

»Ich habe eine Idee.«

Ein Bote in Uniform, der ein großes, mit Schleifen versehenes Paket trug, ging zur Anmeldung. »Ich habe ein Paket für Lois Reynolds.«

»Ich nehme es entgegen«, sagte die Schwester.

Der Bote schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Aber ich habe den Auftrag, es persönlich zu übergeben. Es ist sehr wertvoll.«

Die Schwester zögerte einen Moment. »Dann muss ich mitkommen.«

»Meinetwegen.«

Er folgte der Schwester zum Ende des Ganges. Als sie zu Zimmer 391 kamen, blieb die Schwester stehen und wollte die Tür öffnen, worauf ihr der Bote das Paket übergab. »Sie können es ihr bringen«, sagte er.

Der Bote ging zu Diane und Kelly, die eine Etage tiefer auf einer Bank warteten.

»Zimmer 391«, teilte er ihnen mit.

»Danke«, sagte Diane und reichte ihm ein paar Geldscheine.

Die beiden Frauen stiegen die Treppe in den zweiten Stock hinauf, traten auf den Korridor und warteten, bis die Schwester ein Telefongespräch entgegennahm und ihnen den Rücken zukehrte. Dann liefen sie rasch den Flur entlang und traten in Zimmer 391.

Lois Reynolds lag im Bett, umgeben von Schläuchen und Kabeln, die an ihrem Körper angebracht waren. Sie hatte die Augen geschlossen, als Diane und Kelly an ihr Bett traten.

»Miss Reynolds«, sagte Diane leise. »Ich bin Diane Stevens, und das ist Kelly Harris. Unser Männer haben bei der KIG gearbeitet.«

Lois Reynolds schlug langsam die Augen auf und versuchte, den Blick auf sie zu richten. »Was?« Sie brachte kaum mehr als ein gehauchtes Flüstern zustande.

»Unsere Männer haben bei der KIG gearbeitet«, sagte Kelly. »Sie wurden beide umgebracht. Wir dachten, Sie können uns vielleicht helfen, weil Ihrem Bruder ebenfalls etwas zugestoßen ist.«

Lois Reynolds versuchte den Kopf zu schütteln. »Ich kann Ihnen nicht helfen ... Gary ist tot.« Tränen traten ihr in die Augen.

Diane beugte sich zu ihr. »Hat Ihnen Ihr Bruder vor dem Unfall irgendetwas gesagt?«

»Gary war ein wunderbarer Mann.« Sie sprach langsam und mit gequälter Stimme. »Er kam bei einem Flugzeugabsturz um.«

»Hat er irgendetwas gesagt«, fragte Diane geduldig, »das uns helfen könnte herauszufinden, was vorgefallen ist?«

Lois Reynolds schloss die Augen.

»Miss Reynolds, bitte schlafen Sie nicht wieder ein. Bitte. Es ist sehr wichtig. Hat Ihr Bruder irgendetwas gesagt, das uns weiterhelfen könnte?«

Lois Reynold schlug die Augen wieder auf und blickte Diane fragend an. »Wer sind Sie?«

»Wir glauben, dass Ihr Bruder ermordet wurde«, sagte Diane.

Lois Reynolds murmelte: »Ich weiß es .«

»Weshalb?«, fragte Kelly.

»Prima .« Es war nur ein Flüstern.

Kelly beugte sich näher zu ihr. »Prima?«

»Gary hat mir . hat mir ein paar . ein paar Tage vor seinem Tod . davon erzählt. Ihre Maschine kann . kann das Wetter beeinflussen. Armer Gary. Er ... er ist nicht mehr nach Washington gekommen.«

»Nach Washington?«, fragte Diane.

»Ja . Sie wollten alle hin . mit einer Senatorin über . über Prima sprechen . Gary hat gesagt . Prima wäre gefährlich .«

»Können Sie sich an den Namen der Senatorin erinnern?«, fragte Kelly.

»Nein.«

»Denken Sie bitte nach.«

Lois murmelte etwas vor sich hin. »Senatorin soundso .«

»Senatorin wie?«, fragte Kelly.

»Levin . Luven . van Luven. Er wollte sie sprechen. Er wollte sich mit .«

Die Tür flog auf, und ein Arzt, der einen weißen Kittel trug und ein Stethoskop um den Hals hängen hatte, kam mit energischen Schritten in das Zimmer. Er musterte Diane und Kelly mit funkelnden Blicken. »Hat man Ihnen nicht gesagt, dass hier keine Besucher zugelassen sind?«

»Tut mir Leid«, sagte Kelly. »Wir mussten . wir mussten mit .«

»Gehen Sie bitte.«

Die beiden Frauen blickten zu Lois Reynolds. »Auf Wiedersehen. Gute Besserung.«

Der Mann blickte ihnen hinterher, als sie das Zimmer verließen. Sobald die Tür geschlossen war, trat er ans Bett, beugte sich über Lois Reynolds und ergriff ein Kissen.

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