31

Kelly und Diane wachten zur gleichen Zeit auf. Kelly setzte sich im Bett auf und blickte zu Diane. »Guten Morgen. Wie haben Sie geschlafen?«

»Ich hatte ein paar verrückte Träume.«

»Ich auch.« Diane zögerte. »Kelly - als Sie im Hotel aus dem Fahrstuhl gestiegen sind, wollte ich gerade an die Tür des Penthouses klopfen. Glauben Sie, das war Zufall?«

»Natürlich. Und wir haben beide Glück gehabt, dass .«

Sie sah Dianes Miene. »Was meinen Sie damit?«

»Wir haben bislang sehr viel Glück gehabt«, sagte Diane nachdenklich. »Riesenglück sogar. Es ist, als ... als ob uns irgendjemand oder irgendetwas hilft und uns behütet.«

Kelly hatte den Blick auf sie geheftet. »Sie meinen - wie eine Art Schutzengel?«

»Ja.«

»Diane«, sagte Kelly verständnisvoll, »ich weiß, dass Sie an solche Dinge glauben, aber ich nicht. Ich weiß, dass ich keinen Engel habe, der über mich wacht.«

»Vielleicht sehen Sie ihn nur nicht«, erwiderte Diane.

Kelly verdrehte die Augen. »Genau.«

»Gehen wir frühstücken«, schlug Diane vor. »Hier sind wir in Sicherheit. Ich glaube, wir sind außer Gefahr.«

Kelly schniefte. »Wenn Sie meinen, wir wären außer Gefahr, haben Sie keine Ahnung von Pensionsfrühstück. Wir sollten uns lieber anziehen und irgendwo anders etwas essen. Ich glaube, ich habe an der nächsten Ecke einen DINER gesehen.«

»Na schön. Ich muss nur noch einen Anruf erledigen.«

Diane ging zum Telefon und wählte eine Nummer.

»KIG«, meldete sich die Vermittlung.

»Ich würde gern mit Betty Barker sprechen.«

»Einen Moment bitte.«

Tanner hatte gesehen, wie das blaue Lämpchen aufleuchtete, und schaltete sich in die Verbindung ein.

»Miss Barker ist nicht an ihrem Platz. Wollen Sie eine Nachricht für sie hinterlassen?«

»Oh. Nein danke.«

Tanner runzelte die Stirn. Zu kurz für eine Fangschaltung.

Diane wandte sich an Kelly. »Betty Barker arbeitet noch bei der KIG. Wir müssen also nur eine Möglichkeit finden, wie wir sie erreichen können.«

»Vielleicht steht ihre Privatnummer im Telefonbuch.«

»Das könnte sein«, sagte Diane, »aber vielleicht wird ihr Anschluss abgehört.« Sie nahm das Telefonbuch, das neben dem Apparat lag, und schlug unter B nach. »Hier ist sie.«

Diane wählte eine Nummer, hörte kurz die Ansage und legte dann auf. »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«

Kelly atmete tief durch. »Ich glaube, ich gehe erst mal duschen.«

Als Kelly geduscht hatte und das Badezimmer verlassen wollte, wurde ihr bewusst, dass sie die Handtücher am Boden liegen gelassen hatte. Sie zögerte einen Moment, hob sie dann auf und hängte sie ordentlich auf den Halter. Dann ging sie ins Schlafzimmer. »Sie sind dran.«

Diane nickte geistesabwesend. »Danke.«

Das Erste, was Diane auffiel, als sie ins Badezimmer kam, waren die gebrauchten Handtücher, die an der Stange hingen. Sie lächelte.

Sie ging unter die Dusche und ließ sich vom warmen Wasser verwöhnen. Sie dachte daran, wie sie immer mit Richard geduscht hatte, konnte sich noch genau an das Gefühl erinnern, wenn sich ihre Körper berührt hatten ... Nie wieder. Aber die Erinnerung daran würde ihr immer bleiben. Immer ...

Er hatte ihr Blumen mitgebracht.

»Die sind ja herrlich, Liebster. Vielen Dank. Was gibt es zu feiern?«

»Den Sankt-Angus-Tag.«

Und noch mehr Blumen.

»Anlässlich von Washingtons Überquerung des Delaware.«

»Zum Tag des Wellensittichs.«

»Zum Selleriegedenktag.«

Als auf der Begleitkarte »Zum Tag der Springechsen« stand, hatte Diane gelacht. »Liebster, Echsen springen nicht.«

Und Richard hatte ihre Hand ergriffen und erwidert:

»Verdammt! Dann hat man mir was Falsches gesagt.«

Und er hatte immer Liebesgedichte für sie geschrieben. Wenn Diane sich anzog, hatte sie sie manchmal in ihren Schuhen, im BH oder in ihrer Jackentasche gefunden .

Und wenn er nach Hause gekommen war, hatte sie ab und zu an der Tür auf ihn gewartet, splitternackt, bis auf ein Paar Stöckelschuhe. Und sie hatte zu ihm gesagt: »Liebster, gefallen dir meine Schuhe?«

Und er hatte sich im Nu ausgezogen, seine Sachen kurzerhand zu Boden fallen lassen, und das Essen musste eine Weile warten. Sie ...

Kellys Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Wollen wir frühstücken oder groß essen gehen?«

Sie gingen zum Restaurant. Es war ein kühler, klarer Tag mit strahlend blauem Himmel.

»Blauer Himmel«, sagte Diane. »Ein gutes Zeichen.«

Kelly biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen.

Irgendwie fand sie Dianes Aberglauben ganz reizend. Auf dem Weg zum Diner kamen Diane und Kelly an einer kleinen Boutique vorbei. Sie blickten einander an, grinsten und gingen hinein.

Eine Verkäuferin kam auf sie zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja«, erwiderte Kelly voller Begeisterung.

»Wir sollten uns ein bisschen zurückhalten«, wandte Diane ein. »Denken Sie dran, was beim letzten Mal passiert ist.«

»Richtig. Kein Großeinkauf.«

Sie gingen durch das Geschäft und suchten sich ein paar Kleidungsstücke aus, die sie dringend brauchten. Ihre alten Sachen ließen sie in der Umkleidekabine.

»Wollen Sie die nicht mitnehmen?«, fragte die Verkäuferin.

Diane lächelte. »Nein. Geben Sie sie in die Kleidersammlung.«

An der nächsten Ecke war ein Supermarkt. »Schauen Sie«, sagte Kelly, »hier gibt es Handys, die man nach Gebrauch einfach wegwirft.«

Kelly und Diane gingen hinein und kaufen sich zwei, jedes mit tausend im Voraus bezahlten Einheiten.

»Wir sollten unsere Telefonnummern wieder austauschen«, sagte Kelly.

Diane lächelte. »Richtig.«

Es dauerte nur ein paar Sekunden.

»Allmählich geht mir wirklich das Bargeld aus«, sagte Diane, als sie an der Kasse stand und einen Blick in ihren Geldbeutel warf.

»Mir auch«, sagte Kelly.

»Demnächst müssen wir auf unsere Kreditkarten zurückgreifen«, sagte Diane.

»Aber erst, wenn wir den verwunschenen Kaninchenbau gefunden haben.«

»Was?«

»Ist nicht weiter wichtig.«

Die Kellnerin kam an ihren Tisch, sobald sie im Diner Platz genommen hatten. »Was darf ich Ihnen bringen?«

Kelly wandte sich an Diane. »Sie zuerst.«

»Ich nehme einen Orangensaft, Eier mit Speck, Toast und Kaffee.«

Die Kellnerin wandte sich an Kelly. »Und Sie, Miss?«

»Eine halbe Grapefruit.«

»Ist das alles?«, fragte Diane.

»Ja.«

Die Kellnerin ging weg.

»Von einer halben Grapefruit kann man doch nicht leben.«

»Reine Gewohnheitssache. Ich halte seit Jahren strenge Diät. Manche Models essen Kleenex, um ihren Appetit zu zügeln.«

»Ernsthaft?«

»Ernsthaft. Aber es spielt keine Rolle mehr. Ich werde nie wieder als Model arbeiten.«

Diane musterte sie einen Moment lang. »Wieso?«

»Es bedeutet mir nichts mehr. Mark hat mir beigebracht, was wirklich wichtig ist, und .« Sie stockte und kämpfte gegen die Tränen an. »Ich wünschte, Sie könnten ihn kennen lernen.« »Ich auch. Aber Sie müssen trotzdem weiterleben.«

»Und was ist mit Ihnen?«, erwiderte Kelly. »Wollen Sie wieder anfangen zu malen?«

Danach herrschte eine Zeit lang Schweigen. »Ich habe es versucht ... Nein.«

Als Kelly und Diane gefrühstückt hatten und zur Tür gehen wollten, bemerkte Kelly die Morgenzeitungen, die gerade in die Pressefächer gelegt wurden.

Diane wollte bereits hinausgehen, als Kelly sagte: »Warten Sie einen Moment.« Sie kehrte um und holte eine Zeitung. »Schauen Sie!«

Sie deutete auf einen kurzen Artikel auf der Titelseite.

Die Kingsley International Group hält eine Gedenkfeier zu Ehren all ihrer unlängst ums Leben gekommenen Mitarbeiter, deren Tod Anlass zu allerlei Gerüchten gab. Die Veranstaltung wird am Montag um 11.15 Uhr in der KIG-Zentrale in Manhattan stattfinden.

»Das ist morgen.« Kelly blickte Diane an. »Wieso machen die das Ihrer Meinung nach?«

»Ich glaube, sie wollen uns eine Falle stellen.«

Kelly nickte. »Ich auch. Hält uns Kingsley etwa für so dumm, dass wir darauf ...?«: Dann sah sie Dianes Gesichtsausdruck und fragte bestürzt: »Sollen wir etwa hingehen?«

Diane nickte.

»Das dürfen wir nicht!«

»Wir müssen. Ich bin mir sicher, dass Betty Barker dort ist. Ich muss mit ihr reden.«

»Ich will ja nicht ständig meckern, aber wie wollen wir dort lebend wieder rauskommen?« »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.« Sie blickte Kelly an und lächelte. »Vertrauen Sie mir.«

Kelly schüttelte den Kopf. Sie dachte einen Moment lang nach, dann strahlte ihr Gesicht auf. »Ich habe eine Idee. Ich weiß, wie wir’s anstellen.«

»Und zwar?«

»Lassen Sie sich überraschen.«

Diane blickte Kelly besorgt an. »Meinen Sie wirklich, Sie können uns dort wieder herausbringen?«

»Vertrauen Sie mir.«

Als sie in die Pension zurückkehrten, machte Kelly einen Anruf.

In dieser Nacht schliefen sie beide schlecht. Kelly lag im Bett und machte sich Sorgen. Wenn mein Plan misslingt, werden wir beide sterben. Und kurz vor dem Einschlafen meinte sie, Tanner Kingsley zu sehen, der auf sie herabblickte. Er grinste sie an.

Diane hatte die Augen geschlossen und betete. Liebster, möglicherweise spreche ich zum letzten Mal mit dir. Ich weiß nicht recht, ob ich Auf Wiedersehen oder Hallo sagen soll. Morgen werden Kelly und ich zu deiner Trauerfeier bei der KIG gehen. Meiner Meinung nach stehen die Chancen, heil wieder von dort wegzukommen, nicht allzu gut, aber ich will versuchen, dir zu helfen. Ich wollte dir nur noch einmal sagen, dass ich dich liebe, bevor es zu spät ist. Gute Nacht, mein Liebster.

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