17

Andrew saß in seinem Büro und betrachtete die farbenprächtige Broschüre, die ihm das Nobel-Komitee geschickt hatte, dann las er die beiliegende Nachricht: »Wir freuen uns auf Ihre Ankunft.« Auf den Bildern war das Publikum in der riesigen Stockholmer Konzerthalle zu sehen, das einem angehenden Nobelpreisträger applaudierte, der gerade auf die Bühne trat, um aus der Hand von König Carl XVI. Gustav von Schweden die Auszeichnung entgegenzunehmen. Bald werde auch ich dort oben stehen, dachte Andrew.

Die Tür ging auf, und Tanner kam herein. »Wir müssen miteinander reden.«

Andrew legte die Broschüre beiseite. »Ja, Tanner?«

Tanner holte tief Luft. »Ich habe soeben einen Auftrag für die KIG besorgt. Wir sollen der Army bei einem Experiment helfen, das deren Wissenschaftler zurzeit durchführen.«

»Was hast du getan?«

»Bei dem Test geht es um die Erzeugung von Kälte. Sie brauchen deine Hilfe.«

Andrew schüttelte den Kopf. »Nein. Darauf kann ich mich nicht einlassen, Tanner. So was machen wir hier nicht.«

»Hier geht es nicht um Geld, Andrew. Es geht um die Verteidigung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Sache ist für die Army wichtig. Du machst das für dein Vaterland. Unentgeltlich. Man braucht dich.«

Tanner redete noch eine weitere Stunde auf ihn ein. Schließlich gab Andrew nach. »Na schön. Aber das ist das letzte Mal, dass wir uns auf Abwege begeben, Tanner. Einverstanden?«

Tanner lächelte. »Einverstanden. Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.«

Er rief die Prinzessin an und hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. »Ich bin wieder zurück, Liebling. Wir nehmen demnächst ein sehr wichtiges Experiment in Angriff. Ich rufe dich an, wenn es vorbei ist. Ich liebe dich.«

Zwei Techniker der Army trafen ein und berichteten Andrew von den Fortschritten, die sie bislang gemacht hatten. Andrew hatte zunächst Vorbehalte, doch als sie über das Projekt sprachen, war er mehr und mehr davon fasziniert. Wenn sich diese Probleme lösen ließen, wäre das ein großer technologischer Durchbruch.

Eine Stunde später sah Andrew, wie ein Militärlastwagen, begleitet von zwei Jeeps mit bewaffneten Soldaten, durch das Werkstor der KIG fuhr. Er ging hinaus, um den Colonel, der für den Konvoi verantwortlich war, in Empfang zu nehmen.

»Hier ist es, Mr. Kingsley. Was sollen wir damit machen?«

»Ab jetzt kümmern wir uns darum«, sagte Andrew. »Laden Sie es einfach ab. Alles Weitere übernehmen wir.«

»Ja, Sir.« Der Colonel wandte sich an zwei Soldaten, die hinter dem Lastwagen standen. »Abladen! Aber seien Sie vorsichtig! Ganz vorsichtig.«

Die Männer beugten sich in den Lastwagen und holten behutsam einen kleinen Metallbehälter heraus.

Wenige Minuten später hatten zwei Mitarbeiter den Behälter unter Andrews Aufsicht in ein Labor getragen.

»Auf den Tisch«, sagte er. »Ganz vorsichtig.« Er sah zu, wie sie ihn abstellten. »Gut.«

»Den hätte auch einer tragen können. Er ist ganz leicht.«

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwergewichtig er ist«, erklärte ihnen Andrew.

Die beiden Assistenten blickten einander verwundert an.

»Was?«

Andrew schüttelte den Kopf. »Ist schon gut.«

Die beiden von der Army ausgewählten Chemiker, Perry Stanford und Harvey Walker, die mit Andrew an diesem Projekt arbeiten sollten, hatten bereits die dicken Schutzanzüge angelegt, die bei diesem Experiment erforderlich waren.

»Ich ziehe mich kurz um«, sagte Andrew. »Bin gleich wieder da.«

Er ging den Korridor entlang zu einer verschlossenen Tür und öffnete sie. In dem Zimmer befanden sich etliche Kleiderständer, an denen mehrere Schutzanzüge hingen, dazu Gasmasken, Schutzbrillen, Spezialschuhe und dicke Handschuhe.

Andrew ging hinein und zog seinen Anzug an. Tanner, der ebenfalls da war, wünschte ihm viel Glück.

Als Andrew ins Labor zurückkam, warteten Stanford und Walker bereits. Sorgfältig dichteten sie den Raum ab und sicherten dann die Tür. Alle drei spürten die Spannung, die in der Luft lag.

»Alles bereit?«

Stanford nickte. »Wir sind so weit.«

»Alles klar«, sagte Walker.

»Masken.«

Sie legten die Gasmasken an.

»Fangen wir an«, sagte Andrew. Behutsam nahm er den Deckel von dem Metallbehälter ab. Im Innern befanden sich sechs kleine Phiolen, die in Schaumgummipolstern steckten.

»Vorsicht«, warnte er, »diese Dinger sind auf mehr als hundert Grad unter null abgekühlt.« Seine Stimme wurde durch die Gasmaske gedämpft.

Stanford und Walker sahen zu, als Andrew behutsam das erste Fläschchen herausnahm und aufschraubte. Unter leisem Zischen traten Dämpfe aus und bildeten eine eisige Wolke, die den ganzen Raum auszufüllen schien.

»Also gut«, sagte Andrew. »Nun, zunächst müssen wir ... Zunächst ...« Er riss die Augen auf, fing an zu würgen und wurde kreidebleich. Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.

Stanford und Walker sahen voller Entsetzen, wie Andrew zu Boden stürzte. Walker schraubte sofort das Fläschchen zu und verschloss den Behälter. Stanford stürmte zur Wand und drückte auf den Knopf, mit dem die riesige Abzugsvorrichtung eingeschaltet wurde, das die eisigen Dämpfe binnen kurzer Zeit aus dem Labor saugte.

Als die Luft gereinigt war, öffneten die beiden Wissenschaftler die Tür und trugen Andrew rasch hinaus. Tanner, der gerade den Flur entlangkam, blieb erschrocken stehen.

Dann rannte er zu den beiden Männern und blickte auf seinen Bruder hinab. »Was zum Teufel geht hier vor?«

Stanford sagte: »Es hat einen Zwischenfall gegeben und .«

»Was für einen Zwischenfall?« Tanner schrie, als wäre er von Sinnen. »Was habt ihr mit meinem Bruder gemacht?«

Weitere Mitarbeiter kamen hinzu und scharten sich um sie.

»Ruft die 911. Ach, lassen Sie das. Dafür haben wir keine Zeit. Wir bringen ihn mit einem unserer Wagen ins Krankenhaus.«

Zwanzig Minuten später lag Andrew auf einer Bahre in der Notaufnahme des St. Vincent’s Hospital in Manhattan. Er hatte eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, und in seinem Arm steckte eine Kanüle. Zwei Ärzte beugten sich über ihn.

Tanner ging hektisch auf und ab. »Stellen Sie fest, was ihm fehlt, und unternehmen Sie etwas dagegen«, brüllte er.

»Sofort!«

»Mr. Kingsley«, sagte einer der Ärzte, »ich muss Sie bitten, das Zimmer zu verlassen.«

»Nein«, schrie Tanner. »Ich bleibe bei meinem Bruder.« Er ging zu der Bahre, auf der Andrew bewusstlos lag, nahm seine Hand und drückte sie. »Komm schon, Bruderherz. Wach auf. Wir brauchen dich.«

Keine Reaktion.

Tanner traten die Tränen in die Augen. »Du wirst wieder gesund werden. Keine Sorge. Wir bringen dich zu den besten Ärzten der Welt. Alles wird wieder gut.« Er wandte sich an die Ärzte. »Ich möchte eine Privatsuite und eine Schwester, die rund um die Uhr für ihn sorgt. Stellen Sie mir eine Liege in das Zimmer. Ich will bei ihm bleiben.«

»Mr. Kingsley, wir würden gern unsere Untersuchung zu Ende bringen.«

»Ich warte im Flur«, versetzte Tanner trotzig.

Andrew wurde nach unten gebracht, wo man unter anderem eine Magnetresonanztomographie, eine Computertomographie und eine eingehende Blutuntersuchung vornahm. Auch eines der modernsten Diagnosegeräte, ein so genannter PET-Scanner, wurde eingesetzt. Anschließend brachte man ihn in eine Suite, wo sich drei Ärzte um ihn kümmerten.

Tanner saß unterdessen im Flur und wartete. Als endlich einer der Ärzte aus Andrews Zimmer kam, sprang er auf.

»Er wird doch wieder gesund, nicht wahr?«

Der Arzt zögerte einen Moment. »Wir werden ihn unverzüglich zu weiteren Untersuchungen ins Walter-Reed-Hospital der Army in Washington verlegen. Aber offen gestanden, Mr. Kingsley, haben wir keine allzu große Hoffnung.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«, schrie Tanner ihn an.

»Natürlich wird er wieder gesund. Er war doch nur ein paar Minuten im Labor.«

Der Arzt wollte ihn zurechtweisen, doch als er aufblickte, sah er, dass Tanner die Tränen in den Augen standen.

Tanner begleitete seinen bewusstlosen Bruder, der mit einer Sanitätsmaschine nach Washington gebracht wurde, und redete ihm während des Fluges in einem fort gut zu. »Die Ärzte sagen, sie kriegen dich wieder hin ... Sie werden dir etwas geben, damit du wieder gesund wirst . Du brauchst lediglich ein bisschen Ruhe.« Tanner legte die Arme um seinen Bruder. »Bis du nach Schweden musst, um unseren Nobelpreis in Empfang zu nehmen, wird’s dir wieder gut gehen.«

In den nächsten drei Tagen schlief Tanner auf einer Liege in Andrews Zimmer und blieb an seiner Seite, solange es die Ärzte erlaubten. Jetzt saß er im Wartezimmer des Walter-Reed-Hospitals, als einer der behandelnden Ärzte auf ihn zukam.

»Wie geht es ihm?«, fragte Tanner. »Wird er ...?« Er sah den Gesichtsausdruck des Arztes. »Was ist los?«

»Ich fürchte, es steht sehr schlecht um ihn. Ihr Bruder hat Glück, dass er noch am Leben ist. Das Gas, das bei dem Experiment zum Einsatz kam, ist extrem giftig.«

»Wir können Ärzte aus .«

»Das nützt nicht. Ich fürchte, das Gift hat die Gehirnzellen Ihres Bruders geschädigt.«

Tanner zuckte zusammen. »Aber gibt es denn kein Heilmittel für . für das, was ihm fehlt?«

»Mr. Kingsley«, erwiderte der Arzt bissig, »die Army hat noch nicht einmal einen Namen für den Stoff, und Sie wollen wissen, ob es ein Medikament dagegen gibt? Nein. Tut mir Leid. Ich fürchte - er wird nie wieder der Alte werden.«

Tanner stand kreidebleich und mit geballten Fäusten da.

»Ihr Bruder ist jetzt wach. Sie können zu ihm gehen, aber nur für ein paar Minuten.«

Als Tanner in das Krankenzimmer kam, hatte Andrew die Augen aufgeschlagen. Mit ausdrucksloser Miene starrte er seinen Besucher an.

Dann klingelte das Telefon; Tanner ging hin und nahm den Hörer ab. General Barton war am Apparat. »Es tut mit furchtbar Leid, was mit Ihrem Bruder passiert ...«

»Sie Dreckskerl! Sie haben mir doch erklärt, dass mein Bruder nicht gefährdet ist.«

»Ich weiß nicht, was schief gegangen ist, aber ich versichere Ihnen .«

Tanner knallte den Hörer auf die Gabel. Dann hörte er die Stimme seines Bruders und drehte sich um.

»Wo ... wo bin ich?«, murmelte Andrew.

»Du bist im Walter-Reed-Hospital in Washington.«

»Warum? Wer ist denn krank?«

»Du, Andrew.«

»Was ist passiert?«

»Bei dem Experiment ist irgendetwas schief gegangen.«

»Ich kann mich nicht erinnern .«

»Ist schon gut. Keine Sorge. Es wird dir hier an nichts fehlen. Dafür werde ich sorgen.«

Tanner sah, wie Andrew die Augen schloss. Er warf einen letzten Blick auf seinen Bruder, der teilnahmslos im Bett lag, und verließ dann das Zimmer.

Die Prinzessin schickte Blumen ins Krankenhaus. Tanner wollte sie anrufen, aber seine Sekretärin sagte: »Sie hat eine Nachricht hinterlassen. Sie musste verreisen. Aber sie meldet sich, sobald sie zurück ist.«

Eine Woche später waren Andrew und Tanner wieder in New York. In Windeseile hatte sich bei der KIG herumgesprochen, was Andrew zugestoßen war, und alle Mitarbeiter fragten sich, ob das Unternehmen ohne ihn weiterbestehen würde. Der Ruf der KIG würde auf jeden Fall Schaden nehmen, wenn der Unfall öffentlich bekannt wurde.

Das spielt keine Rolle, dachte Tanner. Ich werde sie zur größten Denkfabrik der Welt ausbauen. Jetzt kann ich der Prinzessin mehr geben, als sie zu träumen wagte. In ein paar Jahren ...

Tanners Sekretärin meldete sich über die Gegensprechanlage. »Ein Herr in Livrée möchte Sie sprechen, Mr. Tanner.«

Tanner hatte nicht die geringste Ahnung, wer der Mann sein könnte. »Schicken Sie ihn rein.«

Ein Chauffeur in Uniform kam herein, einen Briefumschlag in der Hand hatte. »Mr. Tanner Kingsley?«

»Ja.«

»Man hat mich gebeten, Ihnen das hier persönlich auszuhändigen.«

Er reichte Tanner den Umschlag und ging wieder.

Tanner betrachtete den Umschlag und grinste. Er erkannte die Handschrift der Prinzessin. Offenbar wollte sie ihn mit irgendetwas überraschen. Gespannt riss er den Umschlag auf. In dem Brief stand:

Es geht einfach nicht, mein Liebster. Ich brauche mehr, als du mir zurzeit geben kannst, deshalb werde ich jemanden heiraten, der dazu in der Lage ist. Ich liebe dich und werde dich immer lieben. Ich weiß, dass du es nur schwer begreifen wirst, aber das, was ich tue, ist für uns beide das Beste.

Tanner war leichenblass geworden. Er starrte eine ganze Zeit lang auf den Brief, dann warf er ihn wütend in den Papierkorb.

Sein Triumph kam einen Tag zu spät.

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