Es war eine kopfsteingepflasterte Sackgasse, etwa sechs Meter breit und hundert Meter lang, mit einem erweiterten Platz zum Wenden am anderen Ende; die Rückfronten hoher Gebäude schlossen das Ganze wie eine Schlucht ein. Beide Seiten waren von Garagentoren gesäumt, die breiten Garagen selbst führten in die Rückfronten der Gebäude hinein, und im Gegensatz zu vielen Gassen dieser Art, wo die Garagen ursprünglich der Unterbringung von Pferden und Fuhrwerken dienten, hatte die sogenannte Falmouth Mews keine Wohnungseingänge.
Tagsüber herrschte reger Betrieb in der Gasse, da mehrere Garagen von einer Autoschlosserfirma gepachtet waren, die Reparaturen für die Leute in der näheren Umgebung ausführte. Nachts, wenn sie fort waren, war es eine Schattenlinie aus großen, geschlossenen Toren, nur beleuchtet von den Fenstern der darüberliegenden Gebäude.
Die Garage, in der Thomas den Rolls unterstellte, lag in der hinteren Hälfte. Gleich daneben lag eine Garage der Autoschlosser, aber Thomas hatte sie überredet, sie vorübergehend an die Prinzessin zu vermieten, damit Danielle dort ihren (inzwischen von Thomas aus der Reparatur geholten) Wagen unterbringen konnte. Mein obdachloser Mercedes parkte vor dem Tor von Danielles Garage, und hier und dort waren auch noch andere Autos so in der
Gasse abgestellt. Bei einer Familie mit zwei Wagen stand meistens einer in der geräumigen Garage, der andere parkte längs davor.
Hinter diesen Zweitwagen gab es unzählige Verstecke.
Ich hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen, dachte ich.
Morgen würde ich eine kaufen. Ein Heer von Ungeheuern konnte sich hier verborgen halten… und Beatrice wußte, um welche Zeit ich jede Nacht nach Chiswick fuhr.
Ich ging durch die Gasse und fühlte mein Herz klopfen, dabei war ich in der Nacht vorher ohne das geringste Zittern dort entlanggegangen. Die Macht der Einbildung, dachte ich sarkastisch: Und nichts raschelte im Unterholz, nichts sprang, der Tiger lauerte der Ziege nicht auf.
Das Auto sah genauso aus, wie ich es zurückgelassen hatte, aber ich prüfte die Elektrokabel unter der Haube und unter dem Armaturenbrett, bevor ich die Zündung einschaltete. Ich vergewisserte mich, daß kein Öl aus dem Motor sickerte und daß alle Reifen hart waren, und ich machte zur Kontrolle eine Vollbremsung, bevor ich in die Straße einbog.
Zufrieden und beruhigt fuhr ich nach Chiswick und holte um zwei Uhr Danielle ab. Sie war müde von dem langen Tag und sagte nicht viel, nur daß sie den ganzen Abend an einer Story über Schnee- und Eishäuser gebastelt hatten, die sie für Zeitverschwendung hielt.
«Was für Schnee- und Eishäuser?«fragte ich, mehr um mich mit ihr zu unterhalten, als um es zu erfahren.
«Skulpturen für einen Wettbewerb. Ein paar von den Jungs hatten sie auf einer Ausstellung gefilmt. Ähnlich wie Sandburgen, bloß eben aus Schnee und Eis. Manche waren ganz hübsch und hatten sogar Innenbeleuchtung. Die Jungs sagten, der Drehort war, als ob man ohne Wolldecke in einem Iglu filmt. Alles recht lustig, nehme ich an, aber keine weltbewegenden Nachrichten.«
Sie gähnte und verfiel in Schweigen, und bald darauf waren wir wieder in der Garagengasse; nachts, wenn der Verkehr ruhte, war es nur eine kurze Fahrt.
«Du kannst mich nicht immer weiter abholen kommen«, sagte sie, als wir um den Block zum Eaton Square gingen.
«Ich tu’s gern.«
«Litsi hat mir gesagt, daß der Kapuzenmann Henri Nan-terre war. «Sie fröstelte.»Ich weiß nicht, ob das so besser oder schlimmer ist. Jedenfalls arbeite ich im Augenblick nicht Freitag nachts, und Samstag-Sonntag natürlich auch nicht. Freitag nacht kannst du schlafen.«
Wir schlossen die Haustür mit den neuen Schlüsseln auf und sagten uns wieder auf ihrem Treppenabsatz gute Nacht. Wir hatten in diesem Haus nie im selben Bett geschlafen, daher gab es keine Erinnerungen dieser Art, denen ich nachtrauern konnte, aber ich wünschte mir, als ich eine Treppe höher hinaufging, leidenschaftlich, daß sie mitkäme. Es hätte jedoch keinen Sinn gehabt, das vorzuschlagen, denn ihr Gutenachtkuß war wieder eine Abwehr, kein Versprechen gewesen und erneut alles andere als voll gelandet.
Laß ihr Zeit. die Zeit war eine peinigende Unruhe mit ungewissem Ausgang.
Frühstück, Zeitungen und Wärme gab es jeden Tag unten im Morgenzimmer, dessen Tür gegenüber der von Litsis Zimmer lag. An diesem Donnerstagmorgen war ich gegen neun dort und schaute gerade nach, welche Pferde mich in Bradbury erwarteten, als die Sprechanlage summte und Dawson mir sagte, Mr. Harlow verlange mich am Telefon.
Besorgt nahm ich den Hörer ab.
«Wykeham?«
«Ah, Kit. Passen Sie auf, ich dachte, ich sage es Ihnen lieber, aber machen Sie nicht die Prinzessin scheu. Heute nacht ist hier jemand herumgeschlichen.«
«Sind die Pferde in Ordnung? Kinley?«
«Ja, ja. Nichts weiter passiert. Der Mann mit dem Hund sagte, daß sein Hund unruhig war, als hätte sich da einer rumgetrieben. Er sagt, sein Hund war gut eine halbe Stunde in Alarmbereitschaft und hat leise gewinselt, und sie sind zweimal die Höfe abgegangen. Sie haben aber niemand gesehen, und nach einiger Zeit hat sich der Hund wieder abgeregt. Also. was halten Sie davon?«
«Ich halte verdammt viel davon, daß Sie den Hund haben.«
«Ja… sehr beunruhigend, die Sache.«
«Wann war denn das alles?«
«Um Mitternacht. Ich lag natürlich schon im Bett, und der Wächter hat mich nicht geweckt, weil nichts passiert war. Es gibt keine Anzeichen, daß jemand hier war.«
«Behalten Sie bloß die Patrouillen bei«, sagte ich,»und sehen Sie zu, daß Sie nicht den Mann bekommen, der auf dem Heuboden gepennt hat.«
«Ach wo. Das hab ich denen schon gesagt. Seit der ersten Nacht passen sie alle gut auf.«
Wir sprachen über die zwei Pferde, die er nach Bradbury schickte, beide nicht von der Prinzessin. In Bradbury ließ er manchmal seine langsamsten Pferde laufen, weil er davon ausging, daß sie, wenn sie dort nicht siegten, nirgends siegen würden, aber meistens verzichtete er darauf. Es war eine kleine Provinzbahn mit einem flachen Rundkurs von kaum mehr als einer Meile, leicht zu reiten, wenn man sich innen hielt.
«Geben Sie der Melisande einen guten Ritt.«»Ja, Wykeham«, sagte ich. Melisande war vor meiner Zeit gewesen.»Meinen Sie Pinkeye?«
«Hm… natürlich. «Er räusperte sich.»Wie lange bleiben Sie am Eaton Square?«
«Das weiß ich nicht. Ich sage Ihnen aber Bescheid, wenn ich weggehe.«
Wir legten auf, und ich schob eine Scheibe Vollkornbrot in den Toaster und dachte über herumschleichende Gestalten nach.
Litsi kam und goß sich einen Kaffee ein.»Ich habe mir überlegt«, sagte er im Plauderton, während er eine Schale Müsli mit Kondensmilch zusammenstellte,»daß ich heute auch zum Rennen fahren könnte.«
«Nach Bradbury?«Ich war überrascht.»Das ist nicht wie Ascot. Es sind die bloßen Grundlagen des Sports. Nicht viel Komfort.«
«Heißt das, Sie wollen mich nicht mitnehmen?«
«Nein. Ich warne Sie nur.«
Er setzte sich an den Tisch und schaute zu, wie ich Toast ohne Butter und Marmelade aß.
«Ihr Speisezettel ist abscheulich.«
«Ich bin’s gewohnt.«
Er schaute zu, wie ich mit schwarzem Kaffee eine Pille hinunterspülte.»Wozu sind die gut?«fragte er.
«Vitamine.«
Er schüttelte resigniert den Kopf und begann seine hoffnungslos dickmachende Eigenkreation zu löffeln, und frisch und ausgeschlafen, in einem bauschigen weißen Pullover, kam Danielle herein.
«Tag«, sagte sie, personenübergreifend zu uns beiden.»Ich habe mich gefragt, ob ihr wohl hier seid. Was macht ihr heute?«»Ich gehe zum Pferderennen«, sagte Litsi.
«Du?«Sie sah ihn erstaunt an.»Mit Kit?«
«Natürlich mit Kit.«
«Oh. Kann ich ehm… dann auch mitkommen?«
Sie blickte von einem zum andern und sah zweifellos doppelte Freude.
«In einer halben Stunde«, sagte ich lächelnd.
«Kein Problem.«
So fuhren wir denn alle drei nach Bradbury zum Rennen, nachdem wir uns im Flur von der Prinzessin und von Beatrice verabschiedet hatten. Die Prinzessin war nach unten gekommen, um einige Schreibarbeiten mit Mrs. Jenkins durchzugehen, und betrachtete wehmütig unsere Überkleidung. Beatrice, die die Neugier heruntergeführt hatte, fixierte mich mit strengen Kulleraugen.
«Kommen Sie wieder?«wollte sie wissen.
«Ja, er kommt wieder«, antwortete die Prinzessin für mich.»Und morgen können wir alle miteinander meine Pferde in Sandown laufen sehen, ist das nicht schön?«
Beatrice sah drein, als wüßte sie nicht genau, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, und in diesem Augenblick der Ungewißheit brachen Litsi, Danielle und ich auf.
Die Rennbahn von Bradbury machte, wie wir bei unserer Ankunft feststellten, eine ehrgeizige Wandlung zum Besseren durch. Überall waren Schilder, die um Verständnis für noch nicht abgetragene Berge von Baumaterial und Maschinen baten. Umgeben von Gerüsten, wurde an den Billigplätzen eine ganz neue Tribüne heraufgezogen, und der oberste Stock der Vereinstribüne wurde in einen verglasten Aussichtsraum mit Tischen, Sesseln und Erfrischungen umgebaut. Dort oben hatten sie auch Platz geschaffen für eine nach hinten gehende Galerie, von der aus man die Pferde im Führring beobachten konnte.
Ein kleines Modell auf einem Tisch vor dem Waageraum zeigte, wie das Ganze im fertigen Zustand aussehen würde, und der Rennvereinsvorstand wanderte mit zufriedenem Lächeln umher und ließ sich beglückwünschen.
Litsi und Danielle zogen auf ein Glas und ein Sandwich in die alte, noch nicht aufpolierte Bar unter dem entstehenden Traum, und ich versuchte, während ich in Strumpfhose, Reithose und Stiefel schlüpfte, daran nicht allzusehr zu denken. Ich zog ein dünnes Trikothemd an, und mein Rennbegleiter band mir die weiße Manschette ordentlich um den Hals. Danach legte ich den wattierten Rückenschutz an, der Rückgrat und Nieren vor allzuviel Schaden bewahrt, und darüber schließlich die ersten Rennfarben des Tages. Sturzkappe, Brille, Peitsche, Startnummer, Bleidecke, Sattel — ich prüfte das alles, ließ mich wiegen, gab Dusty die zum Satteln nötigen Sachen, zog wegen der Kälte einen Anorak über und ging startbereit nach draußen.
Ich hätte nichts dagegen gehabt, ausnahmsweise einmal einen Tag auf der Tribüne stehen zu können und mir gemeinsam mit Danielle ein Rennen anzuschauen wie jeder andere auch. Ein Sandwich essen, etwas trinken, wetten gehen. Ich sah die beiden lächeln und winken, als ich auf die Bahn ritt, und ich winkte zurück und wünschte mir, unmittelbar bei ihnen zu sein.
Das Pferd, das ich ritt, gewann den Lauf, was Wykeham zwar angenehm überraschen, Cols Niederlage vom Vortag aber nicht wettmachen würde.
Außer für Wykehams beide Renner war ich noch für drei andere gemeldet. Ich ritt einen davon ergebnislos im zweiten Lauf, legte gleich anschließend Pinkeyes rotblaue
Streifen für den dritten an und ging in meinem wärmenden Anorak hinaus zum Führring, um mich mit dem hektischsten und kritischsten aller Besitzer Wykehams zu unterhalten.
Bis zum Führring kam ich nicht. Ein Schrei ertönte von hoch oben, jemand rief:»Hilfe«, und so wie alle anderen drehte ich den Kopf, um zu sehen, was los war.
Ein Mann hing an nur einer Hand von dem neuen Balkon auf der Vereinstribüne. Ein großer Mann in einem dunklen Mantel.
Litsi.
Fassungslos vor Entsetzen beobachtete ich, wie er herumschwenkte, bis er beide Hände auf der Balkonbrüstung hatte, aber er war zu groß und zu schwer, um sich hinaufzuziehen, und unter ihm war ein Abgrund von zwanzig Metern, direkt über hartem Asphalt.
Ich rannte hin, riß mir den Anorak herunter und legte ihn genau unter die Stelle, wo Litsi hing.
«Ziehen Sie Ihren Mantel aus«, sagte ich zu dem nächststehenden Mann.»Legen Sie ihn auf den Boden.«
«Jemand muß rauf und ihm helfen«, sagte er.»Es muß jemand raufgehen.«
«Ziehen Sie Ihren Mantel aus. «Ich wandte mich an eine Frau.»Ziehen Sie Ihren Mantel aus. Legen Sie ihn auf den Boden. Schnell, schnell, Mäntel auf den Boden legen.«
Sie sah mich an wie eine Blinde. Ihr Mantel war ein langer, teurer Pelz. Sie streifte ihn ab, warf ihn auf meinen Anorak und sagte heftig zu dem Mann neben ihr:»Ziehen Sie Ihren Mantel aus, den Mantel ausziehen.«
Ich lief von einem zum anderen:»Ziehen Sie Ihren Mantel aus, schnell, schnell… Ziehen Sie ihren Mantel aus.«
Eine ganze Menschenmenge hatte sich angesammelt: Zuschauer, die auf dem Rückweg zur Tribüne waren, um das nächste Rennen zu sehen, hielten an, starrten gebannt in die Höhe.
«Ziehen Sie Ihren Mantel aus«, konnte ich um mich herum hören.»Zieht eure Mäntel aus.«
Guter Gott, Litsi, betete ich, halt dich bloß fest.
Andere riefen es ihm zu:»Halten Sie sich fest! Halten Sie sich fest!«, und einer oder zwei schrien töricht, und es schien mir ein ziemlicher Lärm zu sein, obwohl sehr viele auch still waren.
Ein kleiner Junge mit riesengroßen Augen machte den Reißverschluß seines Windjäckchens auf, zog seinen gemusterten Pullover aus, schmiß beides auf den wachsenden, sich verbreiternden Haufen, und als er dann in seinem leuchtenden T-Shirt in der Menge umherrannte, hörte ich ihn rufen:»Schnell, schnell, ziehen Sie Ihre Mäntel aus.«
Es funktionierte. Immer mehr Mäntel kamen, fielen, wurden weitergereicht durch die Menge und kunterbunt zu einer Matratze übereinandergeworfen, bis der Kreis am Boden groß genug war, um ihn aufzufangen, wenn er stürzte, aber er konnte noch dicker sein, dicker.
Niemand war von der Balkonseite her zu Litsi gelangt; keine starken Arme packten ihn, um ihn hinaufziehen.
Die Mäntel flogen wie Blätter. Nach allen Seiten hatte die Parole sich herumgesprochen.»Ziehen Sie Ihren Mantel aus, den Mantel ausziehen, schnell. schnell.«
Als Litsi stürzte, sah er aus wie ein weiterer fliegender Mantel, nur daß er sehr schnell herunterkam, wie ein Bleilot. Eben hing er noch dort, im nächsten Augenblick war er unten. Er fiel zuerst senkrecht, dann rissen seine massigen Schultern ihn nach hinten über, und er landete beinahe flach auf dem Rücken.
Er prallte schwer auf den Mänteln auf, rollte und rutschte von ihnen herunter und blieb seitlich ausgestreckt mit dem Kopf auf einem Mantel und dem Körper auf dem Asphalt liegen, schlaff wie eine Stoffpuppe.
Mit einem Satz kniete ich neben ihm und sah sofort, daß er zwar benommen war, aber wirklich noch lebte. Hände streckten sich, um ihm aufzuhelfen, doch so weit war er noch nicht, und ich sagte:»Nicht anrühren… warten Sie, bis er sich bewegt… man muß vorsichtig sein.«
Jeder, der zum Pferderennen ging, wußte von Rückgratverletzungen und wußte, daß man Jockeys erst bewegte, wenn man es unbesorgt tun konnte, und hier war ich in meinen Jockeyfarben, um sie daran zu erinnern. Die Hände waren bereit, aber sie faßten ihn nicht an.
Ich blickte zu den vielen Leuten, alle in Hemdsärmeln, alle zitternd vor Kälte, allesamt Heilige. Manche weinten, so auch die Frau, die ihren Nerz dazugelegt hatte.
«Litsi«, sagte ich, auf ihn hinunterschauend; eine gewisse Klarheit kehrte in seine Augen zurück.»Litsi, wie geht es Ihnen?«
«Ich… Bin ich gefallen?«Er bewegte seine Hand, dann seine Füße, nur ein wenig, und in der Menge ringsum entstand erleichtertes Gemurmel.
«Ja. Sie sind gefallen«, sagte ich.»Bleiben Sie noch einen Moment so. Es ist alles in Ordnung.«
Jemand rief von oben herunter:»Geht’s ihm gut?«, und dort, auf dem Balkon, standen die beiden Männer, die offenbar hinaufgegangen waren, um ihn zu retten.
Die Leute riefen:»Ja«, und klatschten Beifall und fingen in beinah festlicher Stimmung an, ihre Mäntel aus dem
Stapel zu bergen. Es mußten fast zweihundert gewesen sein, dachte ich beim Zuschauen. Anoraks, Steppjacken, Tweedsachen, Trenchcoats, Pelze, Anzugjacken, Pullover, sogar eine Pferdedecke. Das Entwirren des riesigen Haufens dauerte viel länger als seine Entstehung.
Der kleine Junge mit den großen Augen suchte sein blaues Windjäckchen heraus und zog es über seinen Pullover, wobei er mich anstarrte. Ich umarmte ihn.»Wie heißt du?«sagte ich.
«Matthew.«
«Du bist ein toller Bursche.«
«Das ist der Mantel von meinem Daddy«, sagte er,»wo der Mann den Kopf drauf hat.«
«Sag ihm, er soll ihn noch einen Moment liegen lassen.«
Jemand war zu den Sanitätern gelaufen, die jetzt mit einer Tragbahre kamen.
«Es geht schon«, sagte Litsi schwach, aber er war immer noch außer Atem und ohne rechte Orientierung und murrte nicht, als sie sich anschickten, ihn wegzutragen.
Danielle war plötzlich mit blassem Gesicht neben ihm.
«Litsi«, sagte sie,»o Gott…«Sie sah mich an.»Ich hatte auf ihn gewartet… es hieß, ein Mann sei abgestürzt… ist er in Ordnung?«
«Bald«, sagte ich.»Er ist bald wieder klar.«
«Oh.«
Ich legte die Arme um sie.»Es ist gutgegangen. Er hat offenbar keine Schmerzen, ihm ist nur die Luft weggeblieben.«
Sie machte sich langsam los und ging neben der Tragbahre her, als diese auf eine fahrbare Plattform geladen wurde.
«Sind Sie seine Frau?«hörte ich einen Krankenträger fragen.
«Nein… eine Bekannte.«
Der Vater des kleinen Jungen las seinen Mantel auf und schüttelte mir die Hand. Die Frau hob ihren plattgedrückten Nerz auf, klopfte Staub davon ab und gab mir einen Kuß. Ein Steward kam herüber und sagte, ob ich nun bitte auf mein Pferd steigen und an den Start gehen würde, das Rennen habe sich ohnehin schon verzögert, und ich schaute auf die Rennplatzuhr und sah verblüfft, daß kaum fünfzehn Minuten vergangen waren, seit ich aus dem Waageraum gekommen war.
Alle Pferde, alle Besitzer und Trainer warteten noch im Führring, als wäre die Zeit stehengeblieben, aber jetzt saßen die Jockeys auf; der Tod war abgewendet, das Leben konnte also weitergehen.
Ich hob meinen Anorak auf. Die Mäntel und Jacken waren alle wieder eingesammelt worden, und er lag allein auf dem Asphalt, mit meiner Peitsche darunter. Ich sah zu dem Balkon hinauf, so hoch oben, so verlassen und unscheinbar. Auf einmal schien alles nicht mehr wahr zu sein, dabei waren die Fragen noch gar nicht gestellt. Wieso war er dort oben gewesen? Wie hatte es dazu kommen können, daß sein Leben nur noch an den Fingerspitzen hing? Wo hatte er nicht aufgepaßt?
Litsi blieb auf einem Bett in der Sanitätswache liegen, bis die Rennen vorbei waren, danach beteuerte er, er habe sich vollkommen erholt und sei bereit, nach London zurückzufahren.
Er entschuldigte sich beim Rennvereinsvorstand, daß er so dumm gewesen sei, auf den Balkon zu gehen, um die vielgerühmte neue Aussicht zu bewundern, und sagte, er habe es allein der eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschrei-ben, daß er über irgendwelches Baumaterial gestolpert und aus dem Gleichgewicht geraten sei.
Auf die Frage, wie er heiße, hatte er ihnen mit einer Kurzfassung seines Nachnamens ohne den» Prinz «davor geantwortet, und er hoffte, daß es nicht zuviel öffentlichen Wirbel um seine Dummheit geben würde.
Das alles erzählte er uns, als er mit Danielle hinten im Wagen saß und wir nach London aufbrachen.
«Wieso sind Sie denn gestolpert?«fragte ich und warf hin und wieder im Rückspiegel einen Blick auf ihn.»Lag da oben viel Zeug herum?«
«Bretter und ähnliches. «Er klang verwirrt.»Ich weiß nicht genau, wie ich gestolpert bin. Ich stand auf irgend etwas, das wackelte, und ich streckte die Hand aus, um mich zu stützen, und sie fuhr über die Mauer ins Leere. Es ging so schnell… ich habe einfach den Halt verloren.«
«Hat Sie jemand gestoßen?«fragte ich.
«Kit!«sagte Danielle entsetzt, aber man mußte es in Betracht ziehen, und Litsi hatte das offenbar schon getan.
«Ich habe den ganzen Nachmittag dort gelegen«, sagte er langsam,»und versucht mich zu erinnern, wie es eigentlich passiert ist. Ich habe da oben niemand gesehen, dessen bin ich sicher. Ich stand auf etwas, das wippte wie eine Schaukel, und kam total aus dem Gleichgewicht. Ich möchte nicht meinen, daß ich gestoßen wurde.«
«Hm«, sagte ich nachdenklich,»haben Sie was dagegen, wenn wir noch mal hinfahren? Ich hätte mir das gleich ansehen sollen, als ich mit Reiten fertig war.«
«Die Leute von der Rennbahn waren oben«, sagte Litsi.»Sie kamen zu mir und sagten, da sei zwar nichts besonders Gefährliches, aber ich hätte natürlich nicht raufgehen sollen.«
«Wir fahren noch mal hin«, sagte ich, und obwohl Danielle einwandte, sie käme zu spät zur Arbeit, kehrten wir um.
Ich ließ Litsi und Danielle im Wagen zurück, ging durch das Tor und stieg die A-Tribüne hinauf. Wie bei den meisten Tribünenbauten war es weit bis obenhin, der Treppenaufgang nicht der geräumigste, und wenn man sich vorstellte, daß ein Strom von Menschen da hinauf zum Hauptrang drängte, begriff man, wieso diejenigen, die losgezogen waren, um Litsi von oben zu retten, ziemlich lange für den Weg gebraucht hatten.
Die breiten Sitzreihen der A-Tribüne gingen bis auf den Boden hinunter und waren von der Bahn her direkt zugänglich, doch die obere Etage konnte man nur über die beiden Außentreppen erreichen.
Ich nahm die Treppe in der Nähe des Waageraums, denn sie hatte Litsi, wie er sagte, benutzt, um zu der Stelle zu kommen, wo er das Gleichgewicht verloren hatte. Sah man vom Boden aus zur Rückseite der Tribüne hinauf, war diese Stelle nicht weit vom Ende des Balkons, linker Hand.
Die Treppe führte zunächst zu den oberen Reihen des Hauptranges und dann weiter hinauf, und ich kletterte in den letzten Stock, wo sich der Erfrischungsraum im Bau befand. Der ganze Bereich war bis auf den offenen Balkon verglast worden. Der Balkon lief auf der Rückseite des Erfrischungsraums an mehreren Glastüren entlang, die jetzt verschlossen waren, später aber zu belegten Broten führen würden. Vor und hinter dem Glas türmte sich eine Fülle von Baumaterial — Bretter, Farbkübel und Leitern.
Ich ging vorsichtig auf den kalten, windigen Balkon hinaus, den gleichen Weg wie Litsi, und erkannte, was sehr wahrscheinlich passiert war. Bretter lagen dicht an dicht und zu mehreren übereinander in dem kurzen Durchgang zum Balkon und hoben einen, wenn man dort entlanglief, höher als normal im Verhältnis zu der brusthohen Außenwand. Als ich über die Bretter ging, schien die Mauer vor mir kaum taillenhoch zu sein, und Litsi war acht bis zehn Zentimeter größer als ich.
Was immer unter Litsis Füßen gewippt hatte, wippte nun nicht mehr, aber einige Bretter an der Balkonwand lagen kreuz und quer übereinander, nicht aufgeschichtet wie auf dem Gang. Ich bahnte mir vorsichtig einen Weg zwischen ihnen, merkte, wie sie sich bewegten, wenn ich anstieß, und erreichte die Stelle, wo Litsi gestürzt war.
Die Füße fest am Boden, schaute ich hinunter. Man konnte den ganzen Bereich des Führrings wunderschön sehen, mit herrlichen Hügeln im Hintergrund. Sehr reizvoll, dieser Balkon, und sofern die Füße auf dem Boden waren, sehr sicher.
Ich ging ihn ganz entlang, weil ich vorhatte, die Treppe am anderen Ende, in der Nähe des Parkplatzes, hinunterzugehen, doch das erwies sich als unmöglich: Die Treppe war nicht da, sie wurde gerade neu gebaut. Ich kehrte auf die Seite zurück, wo ich heraufgekommen war, überquerte noch einmal die Bretter und ging hinunter auf den Platz.
«Nun?«fragte Litsi, als ich wieder im Wagen saß.»Was meinen Sie?«
«Diese Bretter sahen ganz schön gefährlich aus.«
«Ja«, sagte er kläglich.»Nachdem ich das Gleichgewicht verloren und noch irgendwie die Mauer zu fassen bekommen hatte, dachte ich, ich müßte mich nur festhalten, dann käme mir schon jemand zu Hilfe, aber, na ja… meine Finger gaben einfach nach… ich habe nicht bewußt losgelassen. Als ich fiel, dachte ich, ich würde sterben… und ich wäre ja auch gestorben… es ist unglaublich, daß alle diese Leute ihre Mäntel ausgezogen haben. «Er hielt inne.»Ich wünschte, ich könnte ihnen dafür danken«, sagte er.
«Ich konnte mir nicht vorstellen, wo du geblieben warst«, dachte Danielle zurück.»Ich hatte auf der Tribüne gewartet, wo wir uns treffen wollten, wenn ich von der Toilette wiederkam. Wo dachte ich denn.«
«Aber«, sagte Litsi,»ich bin doch auf den Balkon gegangen, weil ich dich dort oben treffen sollte, Danielle.«
Ich hielt abrupt den Wagen an.
«Sagen Sie das noch mal«, sagte ich.