Kapitel 2

Ich ging.

Ich wollte mich keinesfalls ungebeten in irgendwelche privaten Probleme der Prinzessin einmischen, und diese Einstellung begleitete mich auf dem Weg nach unten. Ich war zu sehr an unsere auf Distanz bedachte Beziehung gewöhnt, als daß ich mir eingebildet hätte, ihre Angelegenheiten gingen mich etwas an. Mit der Einschränkung, daß sie die Frau von Danielles Onkel war.

Als ich dann hinaus zu meinem Wagen ging, wünschte ich, ich wäre nicht so überstürzt abgezogen oder hätte wenigstens erst einmal gefragt, ob sie meine Hilfe brauchte. Die herrische Stimme des Fremden hatte einen nachdrücklich warnenden Unterton gehabt, aus dem ich zunächst geschlossen hatte, er wolle die Prinzessin nur beschützen, aber rückblickend war ich mir da nicht so sicher.

Es konnte nichts schaden, dachte ich, wenn ich wartete, bis sie nach unten kam — denn irgendwann mußte sie schließlich nach Hause fahren —, und mich vergewisserte, daß es ihr gut ging. Wenn der Fremde noch bei ihr war und mich wieder so grob abfertigte, sie ihn aber offensichtlich als ihren Beschützer ansah, dann würde ich sie zumindest wissen lassen, daß ich ihr nötigenfalls beigestanden hätte.

Ich ging durch das Sattelplatztor zum Parkplatz, wo ihr Chauffeur Thomas wie gewohnt in ihrem Rolls-Royce auf sie wartete.

Thomas und ich sagten uns meistens auf den Parkplätzen guten Tag, denn er, ein phlegmatischer Londoner, las lieber friedlich in irgendeinem Buch, als auf die sportlichen Ereignisse um ihn herum zu achten. Dick und zuverlässig, chauffierte er die Prinzessin seit Jahren und kannte ihr Leben und ihren Tagesablauf so gut wie jemand aus ihrer Familie.

Er sah mich kommen und winkte mir zu. Normalerweise ließ sie, wenn ich ihre Loge verlassen hatte, nicht mehr lange auf sich warten, so daß mein Erscheinen für Thomas als Zeichen diente, den Wagen zu starten und den Motor warmlaufen zu lassen.

Ich ging zu ihm, und er ließ ein Fenster herunter, um mit mir zu sprechen.

«Ist sie soweit?«fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.»Da ist jemand bei ihr…«Ich zögerte.»Kennen Sie einen jüngeren Mann mit dunklen Haaren, dünn, vorspringende Nase und Kinn?«

Er überlegte und sagte, ihm falle keiner ein und warum es mich beunruhige.

«Sie hat nicht zugesehen, wie eines von ihren Pferden gelaufen ist.«

Thomas setzte sich gerade hin.»Darauf würde sie doch nie verzichten.«

«Eben. Hat sie aber.«

«Da stimmt was nicht.«

«Ja, denke ich auch.«

Ich sagte Thomas, ich ginge noch einmal zurück, um mich zu vergewissern, daß ihr nichts passiert sei, und auch ihm war jetzt Unruhe anzusehen.

Das letzte Rennen war vorbei, die Zuschauer zerstreuten sich rasch. Ich stellte mich ans Tor, wo ich die Prinzessin nicht verpassen konnte, und überflog Gesichter. Viele waren mir bekannt, viele kannten mich. Ich sagte fünfzig Mal gute Nacht und hielt vergeblich nach dem Pelzhut Ausschau.

Der Menschenstrom verebbte zu einem Rinnsal und das Rinnsal zu Zweier- und Dreiergruppen. Ich wanderte langsam wieder auf die Tribüne zu und dachte unentschlossen, daß ich vielleicht noch einmal in ihre Loge hinaufgehen sollte.

Ich hatte fast den Aufgang zu den Logen erreicht, als sie herauskam. Selbst aus acht Metern Entfernung konnte ich den verschleierten Blick ihrer Augen sehen, und sie ging, als spüre sie den Boden nicht, hob die Füße hoch und setzte sie bei jedem Schritt hart auf.

Sie war allein und nicht in der Verfassung, es zu sein.

«Prinzessin«, ich trat rasch zu ihr.»Lassen Sie sich helfen.«

Sie schaute mich an, ohne etwas zu sehen. Sie wankte. Ich legte den Arm fest um ihre Taille, was ich unter normalen Umständen nie getan hätte, und sie straffte sich, als wollte sie ihre Hilfsbedürftigkeit nicht zugeben.

«Ich bin vollkommen in Ordnung«, sagte sie zitternd.

«Ja… gut, nehmen Sie mich beim Arm. «Ich ließ ihre Taille los, bot ihr meinen Arm als Stütze, und nach einem winzigen Zögern hakte sie sich ein.

Ihr Gesicht war blaß unter dem Pelzhut, und sie bebte am ganzen Körper. Ich ging langsam mit ihr zum Tor und lenkte sie dorthin, wo Thomas wartete. Er war ausgestiegen, sah besorgt drein und öffnete den hinteren Wagenschlag, als wir herankamen.

«Danke«, sagte die Prinzessin leise, als sie einstieg.»Vielen Dank, Kit.«

Sie ließ sich auf den Rücksitz sinken, wobei sie ihren Hut verlor und apathisch zusah, wie er auf den Boden rollte.

Sie streifte ihre Handschuhe ab und hob eine Hand zum Kopf, bedeckte ihre Augen.»Ich glaube, ich…«Sie schluckte erst einmal.»Haben wir Wasser, Thomas?«

«Ja, Madam«, sagte er eifrig und ging zum Kofferraum, um den kleinen Korb mit Erfrischungen herauszuholen, die er gewohnheitsmäßig mitnahm. Schlehenlikör, Sekt und Sprudelwasser waren immer zur Hand.

Ich blieb an der offenen Tür stehen, unsicher, wieviel Hilfe sie für nötig erachtete. Ich kannte ihren Stolz, ihre Beherrschung, die Ansprüche, die sie an sich stellte, durchaus. Sie würde nicht wollen, daß irgend jemand sie für schwach hielt.

Thomas gab ihr etwas Mineralwasser in einem Kristallglas mit klimperndem Eis, eine reife Leistung. Sie nahm zwei oder drei kleine Schlucke und starrte abwesend ins Leere.

«Prinzessin«, sagte ich schüchtern,»wäre es vielleicht besser, wenn ich Sie nach London begleitete?«

Sie wandte die Augen in meine Richtung, und etwas wie ein Schauer durchlief sie, so daß das Eis klirrte.

«Ja«, sagte sie merklich erleichtert.»Ich brauche einen, der. «Sie unterbrach sich, fand die Worte nicht.

Einen, der verhinderte, daß sie zusammenbrach, nahm ich an. Keine Schulter zum Ausweinen, sondern einen Grund, um nicht zu weinen.

Thomas, der die Regelung guthieß, sagte nüchtern zu mir:»Was wird mit Ihrem Auto?«»Es steht auf dem Jockey-Parkplatz. Ich fahre es zu den Stallungen. Da kann es bleiben.«

Er nickte, und wir hielten auf dem Weg nach draußen kurz an, damit ich den Mercedes sicher unterbringen und dem Boxenmanager der Rennbahn sagen konnte, ich käme ihn später abholen. Die Prinzessin schien von diesen ganzen Vorkehrungen nichts mitzubekommen, sondern starrte weiter vor sich hin, vertieft in ich ahnte nicht was für Gedanken, und erst als wir uns in der frühen Abenddämmerung London allmählich näherten, regte sie sich schließlich und gab mir zerstreut das Glas mit dem Rest Sprudel und geschmolzenen Eis als eine Art Auftakt zum Gespräch.

«Es tut mir leid«, sagte sie,»daß ich Ihnen Umstände mache.«

«Das tun Sie doch gar nicht.«

«Ich habe eben«, fuhr sie vorsichtig fort,»einen schweren Schock erlitten. Und ich kann es nicht erklären. «Sie brach ab und schüttelte den Kopf, bewegte verzagt die Hände. Mir schien trotz alledem, daß sie an einen Punkt gelangt war, wo ein gewisser Beistand willkommen sein könnte.

«Kann ich irgend etwas tun?«fragte ich neutral.

«Ich bin nicht sicher, wieviel ich verlangen darf.«

«Eine ganze Menge«, sagte ich ohne Umschweife.

Der Anflug eines Lächelns kehrte in ihre Augen zurück, verschwand aber rasch wieder.»Ich habe nachgedacht. «sagte sie.»Würden Sie, wenn wir in London sind, mit ins Haus kommen und warten, bis ich mit meinem Mann gesprochen habe?«

«Ja, natürlich.«

«Sie haben Zeit? Vielleicht… ein paar Stunden?«

«Immer«, versicherte ich ihr trocken. Danielle war zu Leonardo gefahren, und ohne sie wurde die Zeit lang. Ich unterdrückte das in mir aufsteigende Unglücksgefühl und fragte mich, was wohl die Prinzessin so erschüttert hatte. Monsieur de Brescous Gesundheit betraf es offenbar nicht. Vielleicht etwas Schlimmeres.

Während es draußen völlig dunkel wurde, fuhren wir etliche Kilometer schweigend weiter, die Prinzessin starrte wieder vor sich hin und seufzte, und ich hätte gern gewußt, was ich mit dem Kristallglas anfangen sollte.

Als könnte er meine Gedanken lesen, sagte Thomas plötzlich:»Unter dem Aschenbecher an der Tür, Mr. Fielding, befindet sich ein Glashalter«, und ich begriff, daß er mein Dilemma im Rückspiegel mitbekommen hatte.

«Vielen Dank, Thomas«, sagte ich in den Spiegel und begegnete seinem amüsierten Blick.»Sehr aufmerksam.«

Ich klappte den Chromring hoch, der ähnlich aussah wie der Halter für einen Zahnputzbecher, und steckte das Glas hinein. Die Prinzessin blieb in unerfreuliche Vorstellungen versunken.

«Thomas«, sagte sie schließlich,»versuchen Sie bitte mal, ob Mrs. Jenkins noch im Haus ist? Wenn ja, möchte sie doch nachfragen, ob Mr. Gerald Greening heute abend vorbeikommen kann.«

«Ja, Madam«, sagte Thomas und drückte die Tasten des Autotelefons, auf das er im Fahren flüchtig herunterschaute.

Mrs. Jenkins arbeitete für die Prinzessin und Monsieur de Brescou als Sekretärin und persönliche Assistentin für alle Belange, eine junge, frisch verheiratete Frau, klein und blaß wie ein heimatloses Kind. Sie arbeitete nur werktags und machte pünktlich um fünf Feierabend, und nach meiner Uhr war es wenige Minuten davor. Thomas erwischte sie offenbar in der Tür und gab die Nachricht zur Zufriedenheit der Prinzessin durch. Sie sagte nicht, wer Gerald Greening war, sondern gab sich stumm wieder ihren grimmigen Gedanken hin.

Bis wir den Eaton Square erreichten, hatte sie sich körperlich völlig erholt und weitgehend auch seelisch. Trotzdem wirkte sie immer noch blaß und angegriffen und ließ sich von Thomas’ starker Hand aus dem Wagen helfen. Ich folgte ihr auf den Gehsteig, und sie betrachtete Thomas und mich einen Augenblick im Licht der Straßenlaternen.

«Tja«, sagte sie nachdenklich,»ich danke Ihnen beiden.«

Thomas sah immer so aus, als würde er bereitwillig für sie in den Tod gehen, statt sie nur vorsichtig zu den Rennen zu fahren, aber jetzt überquerte er weniger dramatisch den Gehsteig und schloß mit seinem Schlüsselbund die Haustür auf.

Sie und ich gingen hinein, während Thomas den Wagen wegbrachte, und stiegen die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. Das Erdgeschoß des großen alten Hauses bestand aus Büros, einer Gästesuite, Bibliothek und einem Frühstückszimmer. Die Prinzessin und ihr Mann hielten sich vorwiegend oben auf; Gesellschafts-, Wohn- und Eßzimmer lagen im ersten Stock, Schlafzimmer in den drei Etagen darüber. Das Personal wohnte im Souterrain, und in neuerer Zeit hatte das Haus einen leistungsfähigen Lift erhalten, der Platz bot für Monsieur de Brescous Rollstuhl.

«Würden Sie im Wohnzimmer warten?«sagte sie.»Trinken Sie etwas. Wenn Sie Tee möchten, läuten Sie nach Dawson. «Die Gastgeberworte stellten sich ganz von selbst ein, doch ihre Augen waren ausdruckslos, und sie wirkte sehr müde.

«Ich komme schon zurecht«, sagte ich.

«Es kann aber lange dauern.«

«Ich werde hier sein.«

Sie nickte und ging die breite Treppe hinauf zum nächsten Stock, wo sie und ihr Mann jeder eine eigene Suite hatten und wo Roland de Brescou den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Ich war nie dort oben gewesen, aber Danielle hatte seine Räumlichkeiten als ein Miniaturkrankenhaus beschrieben, nicht nur mit Schlaf- und Wohnzimmer, sondern einem Physiotherapieraum und einem zusätzlichen Zimmer für einen Pfleger.

«Was fehlt ihm?«hatte ich gefragt.

«Er hat irgendeine schreckliche Viruskrankheit. Was es genau ist, weiß ich nicht, aber keine Kinderlähmung. Die Beine haben ihm vor Jahren einfach den Dienst versagt. Darüber reden sie nicht viel, und du kennst sie ja, man kommt sich aufdringlich vor, wenn man fragt.«

Ich ging ins Wohnzimmer, das zum vertrauten Territorium für mich geworden war, und rief Dawson, den ziemlich erlauchten Butler an, um mir Tee kommen zu lassen.

«Sehr wohl, Sir «sagte er knapp.»Ist Prinzessin Casilia bei Ihnen?«

«Sie ist oben bei Monsieur de Brescou.«

Er sagte:»Ah«, und die Verbindung brach ab. Kurz darauf brachte er ein kleines Silbertablett mit Tee und Zitrone, aber ohne Milch, Zucker und Kekse.

«Hatten wir einen erfolgreichen Nachmittag, Sir?«fragte er, als er seine Last absetzte.

«Einen Sieg und einen dritten Platz.«

Er lächelte ein wenig, ein Mann von fast sechzig Jahren, genügsam und zufrieden mit seiner Arbeit.»Sehr erfreulich, Sir.«

«Ja.«

Er nickte und ging, und ich goß mir Tee ein und versuchte, nicht an Toast und Butter zu denken. Irgendwie hatte ich in der Winterpause im Februar drei Pfund zugenommen und rang deshalb jetzt mehr als sonst mit meinem Gewicht.

Das Wohnzimmer war komfortabel, mit geblümten Stoffen, Teppichen und warmem Lampenlicht, insgesamt freundlicher als der Satin und die Vergoldungen in dem sehr französischen Gesellschaftszimmer nebenan. Ich stellte den Fernseher an, um die Nachrichten zu sehen, schaltete ihn danach wieder aus und wanderte auf der Suche nach etwas Lesbarem umher. Flüchtig fragte ich mich auch, warum die Prinzessin gewollt hatte, daß ich warte, und was für eine Hilfe es eigentlich war, die sie meinte nicht verlangen zu können.

Der Lesestoff schien begrenzt auf ein Architekturmagazin in französischer Sprache und einen weltweiten Flugplan, und ich war im Begriff, mich für das zweite zu entscheiden, als ich auf einem Tischchen einen Faltprospekt über» Kunstseminare in anspruchsvollem Rahmen «entdeckte und mich mit Danielles Wochenende konfrontiert sah.

Ich setzte mich in einen Sessel und las die Broschüre von vorn bis hinten durch. Das Hotel, von dem auch Fotos abgebildet waren, wurde als aufwendig renoviertes Landhaus beschrieben, mit hinreißender Aussicht auf Wasserfälle und Seen, mit lodernden Kaminfeuern für die häusliche Gemütlichkeit.

Die Veranstaltungen wurden am Freitagabend um sechs mit einem Empfang eröffnet (der war also, während ich las, gerade im Gang), danach gab es Abendessen, danach ein Konzert mit Sonaten von Chopin im goldenen Gesellschaftszimmer.

Am Samstag begann das eigentliche Seminar. Der illustre Direktor der italienischen Gemäldeabteilung des Louvre hielt Vorträge über» Die Meister der italienischen Renaissance«. Am Morgen» Botticelli, Leonardo da Vinci, Raphael: Meisterwerke im Louvre«, und am Nachmittag» Giorgiones Ländliches Konzert und Tizians Laura Dianti: Das Cinquecento in Venedig«, alles untermalt von Dias zur Verdeutlichung von Stil und Technik. Diese Vorträge, hieß es in dem Prospekt, seien eine ganz besondere Ehre, denn der wahrscheinlich größte lebende Experte der italienischen Renaissancekunst spreche nur selten außerhalb Frankreichs.

Am Samstagabend fand ein großes florentinisches Festmahl statt, eigens kreiert von einem Meisterkoch aus Rom, und am Sonntag wurden Fahrten zu den im Seengebiet gelegenen Häusern von Wordsworth, Ruskin und (auf Wunsch) Beatrix Potter veranstaltet. Abschließend gab es Nachmittagstee rund um den Kamin in der Großen Halle, und die Gesellschaft wurde sich auflösen.

Ich war selten unsicher, was mich oder das von mir gewählte Leben anging, aber als ich den Prospekt weglegte, kam ich mir hoffnungslos inkompetent vor.

Ich wußte so gut wie nichts über die italienische Renaissance und hätte da Vinci nicht auf hundert Jahre genau datieren können. Ich wußte, daß er die Mona Lisa gemalt und Hubschrauber und U-Boote entworfen hatte, aber das war so ziemlich alles. Über Botticelli, Giorgione und Raphael wußte ich genausowenig. Wenn Danielle ein tiefschürfendes Interesse an der Kunst hatte, würde sie dann je zu einem Mann zurückkehren, dessen Arbeit körperlich, banausisch und obendrein gefährlich war? Zu einem Mann, der in seinen Teenagerjahren Biologie und Chemie gemocht hatte und nicht studieren wollte. Zu jemandem, der es unbedingt vermieden hätte, dorthin zu gehen, wohin sie voller Lust gegangen war.

Ich zitterte. Ich konnte es nicht ertragen, sie zu verlieren, weder an tote Maler noch an einen lebenden Prinzen.

Die Zeit verstrich. Ich las die weltweiten Flugpläne und sah, daß es viele Orte gab, von denen ich noch nie gehört hatte, wo täglich, stündlich Leute ein- und ausflogen. Ich wußte viel zu vieles nicht.

Schließlich, um kurz nach acht, kam der gleichmütige Dawson wieder, bat mich nach oben, und ich folgte ihm zu der unbekannten Tür von Monsieur de Brescous privatem Wohnzimmer.

«Mr. Fielding, Sir«, kündigte Dawson mich an, und ich betrat einen Raum mit goldverbrämten Vorhängen, dunkelgrünen Wänden und dunkelroten Ledersesseln.

Roland de Brescou saß wie gewohnt in seinem Rollstuhl, und auf einen Blick war zu erkennen, daß er unter dem gleichen schweren Schock stand, den die Prinzessin erlitten hatte. Er sah stets hinfällig aus, schien jetzt aber dem Tod näher denn je; die blasse, graugelbe Haut straff gespannt über den Wangenknochen, die Augen starr und verstört. Vor langer Zeit war er wohl ein gutaussehender Mann gewesen, und ein edler Kopf mit weißem Haar, eine angeborene aristokratische Würde war ihm geblieben. Er trug wie immer einen dunklen Anzug mit Krawatte, machte keine Konzessionen an seine Krankheit. Alt und schwach mochte er sein, aber dennoch sein eigener Herr, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Seit meiner Verlobung mit Danielle war ich ihm einige Male begegnet, doch er war, wenn auch unfehlbar höflich, stets einsiedlerisch und ebenso zurückhaltend wie Prinzessin Casilia.

«Treten Sie ein«, sagte er, heiserer als sonst, mit seiner immer überraschend kräftigen Stimme.»Guten Abend, Kit. «Der französische Einschlag in seinem Englisch war so unauffällig wie bei der Prinzessin.

«Guten Abend, Monsieur«, sagte ich mit einer kleinen Verbeugung, denn er gab einem nicht gern die Hand; seine war so dünn, daß ein Händedruck ihm weh tat.

Die Prinzessin saß in einem Sessel. Sie hob müde die Finger zum Gruß, und als Dawson sich zurückzog und die Tür hinter mir schloß, sagte sie entschuldigend:»Wir haben Sie so lange warten lassen.«

«Darauf hatten Sie mich vorbereitet.«

Mr. Greening war, wenn ich nicht irrte, der Mann, der auf der einen Zimmerseite an der grünen Wand lehnte, die Hände in den Taschen, und auf seinen Fersen wippte. Mr. Greening, in Smoking und schwarzer Fliege, war kahl, dickbäuchig, und irgendwo Ende Fünfzig. Er betrachtete mich mit klugen Augen, taxierte mein Alter (einunddreißig), meine Größe (einsachtundsiebzig), meine Kleidung (grauer Konfektionsanzug) und womöglich mein Einkommen. Er sah aus wie jemand, der gewohnt ist, schnell zu urteilen, und nicht glaubt, was man ihm erzählt.

«Der Jockey«, sagte er in einem von Eton geprägten Tonfall.»Stark und kühn.«

Er war ironisch, was mich nicht störte. Ich lächelte ein wenig, ging die naheliegenden Kategorien durch und stieß auf eine Möglichkeit.

«Der Anwalt?«tippte ich.»Scharfsinnig?«

Er lachte und löste sich von der Tapete.»Gerald Greening«, sagte er nickend.»Rechtsanwalt. Wären Sie so freundlich, uns als Zeuge ein Dokument zu unterschreiben?«

Dazu war ich selbstverständlich bereit, obwohl es mich erstaunte, daß die Prinzessin mich nur deswegen so lange hatte warten lassen, aber das sprach ich nicht aus. Gerald Greening nahm ein Klemmbrett vom Couchtisch, schlug ein Blatt Papier zurück und bot Roland de Brescou einen Füllhalter an, um die zweite Seite zu unterzeichnen.

Mit einem zittrigen Schnörkel setzte der alte Mann seinen Namen neben ein rundes rotes Siegel.

«Jetzt Sie, Mr. Fielding. «Der Füller und das Klemmbrett kamen zu mir, und ich unterschrieb, wo er es mir sagte, indem ich das Brett mit dem linken Unterarm abstützte.

Die zweiseitige Urkunde, sah ich, war nicht auf der Maschine getippt, sondern in sauberen schwarzen Lettern handgeschrieben. Roland de Brescous Name und meiner zeigten die gleiche schwarze Tinte. Die Adresse und Berufsbezeichnung, die Gerald Greening ergänzend unter seine eigene Unterschrift setzte, stimmten mit der Handschrift des Textes überein.

Ein Schnellschuß, dachte ich. Morgen konnte es zu spät sein.

«Es ist zwar nicht erforderlich, daß Sie den Inhalt des von Ihnen bestätigten Dokuments kennen«, sagte Greening mir beiläufig,»aber Prinzessin Casilia besteht darauf, daß ich Sie einweihe.«

«Nehmen Sie Platz, Kit«, sagte die Prinzessin.»Es wird dauern.«

Ich setzte mich in einen der Ledersessel und warf einen Blick auf Roland de Brescou, der skeptisch dreinsah, als fände er es unergiebig, mich zu informieren. Er hat sicher recht, dachte ich, aber ich war unbestreitbar neugierig.

«Schlicht ausgedrückt«, sagte Greening, immer noch stehend,»besagt die Urkunde, daß Monsieur de Brescou, ungeachtet früherer und anderslautender Vereinbarungen, keine geschäftlichen Entscheidungen treffen darf ohne das Wissen, die Zustimmung und die beglaubigten Unterschriften von Prinzessin Casilia, Prinz Litsi«- er gab ihm mindestens die Hälfte seines vollen Namens —»und Miss Danielle de Brescou.«

Ich hörte verdutzt zu. Wenn Roland de Brescou doch voll geschäftsfähig war, weshalb sollte er dann so plötzlich die Verantwortung abtreten?

«Das ist eine einstweilige Regelung«, fuhr Gerald Greening fort.»Man könnte sagen, ein Sandsackbehelf, um das Wasser zurückzuhalten, während wir den Deich bauen. «Er schien zufrieden mit dem Vergleich, und es kam mir vor, als hätte er ihn schon öfter gebraucht.

«Und, ehm«, sagte ich,»besteht die Flutwelle aus etwas Bestimmtem?«Aber das mußte sie wohl, wenn sie die Prinzessin derart aus der Fassung gebracht hatte.

Gerald Greening drehte eine Runde durch das Zimmer, die Hände mitsamt Klemmbrett hinter seinem Rücken verschränkt. Ein ruheloser Geist in einem ruhelosen Körper, dachte ich und bekam Einzelheiten über die de Brescous zu hören, die weder die Prinzessin noch ihr Mann mir jemals selbst erzählt hätten.

«Sie müssen wissen«, sagte Greening belehrend,»daß Monsieur de Brescous Wurzeln in das Ancien regime zurückreichen, die Zeit vor der Revolution. Seine Familie ist alter Adel, auch wenn er selbst keinen Titel trägt. Man muß unbedingt verstehen, daß für ihn die persönliche und die Familienehre von größter Bedeutung sind.«

«Ja«, sagte ich.»Das verstehe ich.«

«Kits Familie«, sagte die Prinzessin milde,»blickt auch auf eine jahrhundertealte Tradition zurück.«

Gerald Greening sah etwas verblüfft drein, und ich dachte belustigt, daß ihm wohl nicht gerade der traditionelle Stolz und Haß der Fieldings vorschwebte. Er rückte jedenfalls sein Bild von mir so zurecht, daß Vorfahren darin Platz hatten, und erzählte die Geschichte weiter.

«Mitte des 19. Jahrhunderts«, sagte er,»erhielt Monsieur de Brescous Urgroßvater Gelegenheit, sich am Bau von

Brücken und Kanälen zu beteiligen, und als Folge davon gründete er, ohne es eigentlich vorzuhaben, eines der großen Bauunternehmen Frankreichs. Er selbst hat dort nie mitgearbeitet — er war Grundbesitzer —, aber das Geschäft war höchst erfolgreich und paßte sich mit ungewöhnlicher Spannkraft dem Wandel der Zeiten an. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts willigte der Großvater von Monsieur de Brescou in den Zusammenschluß des Familienunternehmens mit einer anderen Baufirma ein, deren Hauptinteresse Straßen, nicht Kanäle waren. Die große Ära des Kanalbaus ging zu Ende, und für die gerade aufkommenden Automobile wurden bessere Straßen gebraucht. Monsieur de Brescous Großvater behielt fünfzig Prozent von der neuen Gesellschaft, eine Regelung, welche keinem der beiden Partner die völlige Kontrolle gab.«

Gerald Greenings Augen funkelten mißbilligend, während er langsam hinter den Sesseln einherging.

«Monsieur de Brescous Vater starb während des Zweiten Weltkriegs, ohne das Geschäft zu erben. Monsieur de Brescou erbte es, als sein Großvater nach dem Zweiten Weltkrieg mit neunzig Jahren starb. Können Sie mir so weit folgen?«

«Ja«, sagte ich.

«Gut. «Er ging weiter umher und stellte seine Geschichte in klaren Zügen dar, fast als breite er Fakten vor einer ziemlich beschränkten Jury aus.»Die Firma, die sich mit derjenigen von Monsieur de Brescous Großvater zusammenschloß, wurde von einem Mann namens Henri Nanter-re geleitet, der ebenfalls adliger Herkunft war und hohen moralischen Grundsätzen anhing. Die beiden Männer mochten und vertrauten einander und stimmten darin überein, daß ihr Gemeinschaftsunternehmen an den höchsten Prinzipien festhalten sollte. Sie setzten gut beleumundete Geschäftsführer ein und lehnten sich zurück und äh… mehrten ihren Reichtum.«

«Mm«, sagte ich.

«Vor und während des Zweiten Weltkriegs ging die Firma in die Rezession und schrumpfte auf ein Viertel ihrer früheren Größe, aber sie war gesund genug, um in den fünfziger Jahren wiederaufzuleben, obwohl die Unternehmerfreunde von einst gestorben waren. Monsieur de Brescou blieb auf gutem Fuß mit dem Nanterre-Erben — Louis —, und die Tradition der Einsetzung von Spitzenmanagern wurde fortgeführt. Und damit wären wir bei den Ereignissen vor drei Jahren, als Louis Nanterre starb und seinen 5 0-Prozent-Anteil seinem einzigen Sohn Henri hinterließ. Henri Nanterre ist siebenunddreißig, ein fähiger Unternehmer, voller Energie, geschäftstüchtig. Die Gewinne der Firma nehmen jährlich zu.«

Die Prinzessin und ihr Mann lauschten düster dieser langen Rede, die mir eine Erfolgsstory ersten Ranges zu sein schien.

«Henri Nanterre«, erklärte Greening vorsichtig,»ist ein Mensch der Moderne. Das heißt, die alten Werte bedeuten ihm nicht viel.«

«Er hat keine Ehre«, sagte Roland de Brescou mit Abscheu.»Er bringt Schande über seinen Namen.«

Ich fragte die Prinzessin langsam:»Wie sieht er aus?«

«Sie haben ihn gesehen«, erwiderte sie einfach.»In meiner Loge.«

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