Kapitel 8

Später an diesem Sonntagnachmittag rief ich Wykeham an und lauschte der Müdigkeit in seiner Stimme. Sein Tag war eine Abfolge von Ärgernissen und Problemen gewesen, die noch andauerten. Der Hundeführer samt Hund saß gerade in seiner Küche, trank Tee und klagte, draußen sei es eisig kalt. Wykeham befürchtete, daß sich die Nachtwache zum größten Teil aufs Haus beschränken würde.

«Ist es wirklich unter Null?«fragte ich. Frost war immer eine schlechte Neuigkeit; die Rennen würden ausfallen, denn gefrorener Boden war hart, glatt und gefährlich.

«Zwei Grad drüber.«

Wykeham hatte Thermometer über den Wasserhähnen im Freien, so daß er bei starkem Frost die Batterieheizung einschalten konnte, um weiterhin fließendes Wasser zu haben. Seine Stallanlage war reich an technischen Finessen, die er sich im Lauf der Jahre angeschafft hatte, wie zum Beispiel Infrarotlampen in den Boxen, damit die Pferde warm standen und gesund blieben.

«Ein Polizist war da«, sagte Wykeham.»Ein Kriminalbeamter. Er meinte, es sei wahrscheinlich ein Dummerjun-genstreich gewesen. Ich bitte Sie! Ich sagte ihm, es sei kein Streich, wenn man fachmännisch zwei Pferde erschießt, aber er meinte, es sei erstaunlich, was Jungen alles fertig bringen. Er hätte schon Schlimmeres gesehen. Er hätte Ponies auf der Weide gesehen, denen sie die Augen rausgerissen hatten. Es war v-v-verrückt. Ich sagte, Cotopaxi sei kein Pony, er sei Mitfavorit für das Grand National gewesen, und er sagte, so ein P-P-Pech für den Eigentümer.«

«Hat er Maßnahmen angekündigt?«

«Er sagte, er käme morgen wieder und würde die Pfleger befragen, aber ich glaube nicht, daß die etwas wissen. Pete, der für Cotopaxi zuständig war, hat geheult, und die anderen sind alle empört. Für die ist das schlimmer, als wenn eins durch einen Unfall stirbt.«

«Für uns alle«, sagte ich.

«Ja. «Er seufzte.»Es half auch nichts, daß die Abdecker so viel Arbeit hatten, bis die Kadaver draußen waren. Ich habe mir das nicht angesehen. Konnte ich nicht. Ich habe diese Pferde g-geliebt.«

Für die Abdecker waren tote Pferde natürlich einfach nur Hundefutter, und es mochte angehen, das so unsentimental zu betrachten, aber für jemanden wie Wykeham, der sie umsorgt, für sie geplant, sich mit ihnen unterhalten und mit ihnen gelebt hatte, war das nicht immer möglich. Trainer von Hindernispferden kennen ihre Schützlinge meist länger als Flachtrainer, über zehn Jahre manchmal, nicht nur drei oder vier. Wenn Wykeham sagte, er habe ein Pferd geliebt, dann meinte er das auch.

Für Kinley würde er noch nicht so viel empfinden, dachte ich. Kinley, der aufgehende Stern, jung und sprühend. Kinley war ein Wunderding, kein alter Kumpel.

«Passen Sie auf Kinley auf«, sagte ich.

«Ja, ich habe ihn verlegt. Er ist in der Eckbox.«

Die Eckbox, die immer als letzte in Anspruch genommen wurde, war nicht direkt von irgendeiner Stallgasse aus zu erreichen, sondern nur über eine andere Box. Ihre Lage war für die Pfleger zwar ärgerlich, aber es war auch der versteckteste und sicherste Platz im Stall.

«Großartig«, sagte ich erleichtert,»und jetzt, was ist mit morgen?«

«Morgen?«

«Die Rennen in Plumpton.«

Eine kurze Pause entstand, während er seine Gedanken ordnete. Er stellte immer einen Schwung Pferde für Plumpton auf, weil es eine der nächstgelegenen Bahnen war, und soviel ich wußte, sollte ich sechs von ihnen reiten.

«Dusty hat eine Liste«, sagte er schließlich.

«Okay.«

«Reiten Sie sie, wie es Ihnen am besten erscheint.«

«Alles klar.«

«Dann gute Nacht, Kit.«

«Gute Nacht, Wykeham.«

Zumindest hatte er mich beim richtigen Namen genannt, dachte ich, als ich auflegte. Vielleicht würden dann auch genau die richtigen Pferde in Plumpton ankommen.

Ich fuhr am nächsten Morgen mit dem Zug hin, und während die Kilometer vorbeirauschten, war ich froh, von dem Haus am Eaton Square fort zu sein. Ein Abend mit Beatrice de Brescou Bunt hatte mir, wenn auch abgeschwächt durch die Prinzessin, Litsi und Danielle, Perspektiven anstrengender Geselligkeit eröffnet, auf die ich gern verzichtete. Ich hatte mich unter den unverhüllt tadelnden Blicken der anderen zeitig zurückgezogen, aber selbst im Schlaf war mir, als hörte ich diese aufdringlich nörgelnde Stimme.

Als ich am Morgen aufgebrochen war, hatte Litsi gesagt, er wolle den größten Teil des Tages bei Roland verbringen, wenn John Grundy fort sei. Die Prinzessin und Danielle würden sich um Beatrice kümmern. Danielle, die bei ihrem Fernsehnachrichtensender Spätdienst hatte, würde kurz nach halb sechs alles weitere der Prinzessin überlassen müssen. Ich hatte versprochen, sobald wie möglich von Plumpton wiederzukommen, aber ehrlich gesagt war ich dankbar, als mir ein triftiger Grund geliefert wurde, das nicht zu tun, und zwar in Gestalt einer Nachricht, die mich im Waageraum erwartete. Sie kam von dem Boxenmanager der Rennbahn in Newbury; er bat mich, meinen Wagen dort wegzuholen, wo ich ihn hatte stehenlassen, da der Platz dringend für andere Zwecke benötigt wurde.

Ich rief am Eaton Square an. Zufällig meldete sich Danielle. Ich erklärte die Sache mit dem Wagen.»Ich lasse mich von jemand nach Newbury mitnehmen. Es wird aber besser sein, wenn ich dann bei mir in Lambourn übernachte, weil ich morgen in Devon starte. Entschuldigst du mich bei der Prinzessin? Sag ihr, ich komme morgen abend nach dem Rennen wieder, wenn’s ihr recht ist.«

«Deserteur«, sagte Danielle.»Du hörst dich verdächtig zufrieden an.«

«Von der Entfernung her ist es schon sinnvoll«, betonte ich.

«Das kannst du deiner Großmutter erzählen.«

«Gib auf dich acht«, sagte ich.

Sie sagte zögernd, mit einem Seufzer:»Ja«, und legte auf. Manchmal war es, als wäre alles unverändert zwischen uns, und dann, nach einem Seufzer, war es doch nicht so.

Ohne besondere Lust machte ich mich auf die Suche nach Dusty, der die richtigen Pferde, die richtigen Rennfarben für mich und eine schlechte Meinung von dem Kriminalbeamten mitgebracht hatte, weil der die Pfleger ausgerechnet verhören mußte, während sie arbeiteten. Es wüßte sowieso keiner was, sagte Dusty, und die Pfleger seien in der Stimmung, jeden herumstreichenden Fremden zu lynchen. Der Futtermeister (nicht Dusty, der war für Reisen zuständig) hatte wie gewohnt am Samstagabend die Höfe kontrolliert, und da schien alles ruhig zu sein. Er hatte nicht in alle achtzig Boxen einen Blick geworfen, nur in zwei, deren Insassen es nicht gut ging, und bei Cascade oder Cotopaxi war er nicht gewesen. Er hatte bei Kinley und Hillsborough nachgesehen, ob sie nach dem Rennen wieder gefressen hatten, und war nach Hause schlafen gegangen. Was konnte man noch mehr tun? wollte Dusty wissen.

«Niemand macht irgendwen verantwortlich«, sagte ich.

Er sagte dunkel:»Noch nicht«, und nahm meinen Sattel mit, um ihn für das erste Rennen auf das richtige Pferd zu packen.

Wir zogen den Nachmittag wie so oft zu zweit auf. Er sattelte und präsentierte die Pferde, ich ritt sie, und beide leisteten wir Öffentlichkeitsarbeit bei den verschiedenen Besitzern — gratulieren, trösten, erklären und entschuldigen. Es wurde ein typischer Tag mit zwei Siegen, einem zweiten Platz, zwei Fernerliefen und einem Sturz, letzterer mit weicher Landung und unproblematisch.

«Schönen Dank, Dusty«, sagte ich zum Schluß.»Danke für alles.«

«Was heißt das?«fragte er argwöhnisch.

«Es sollte nur heißen, daß sechs Rennen für Sie viel Arbeit sind und daß alles gut gelaufen ist.«

«Es wäre noch besser gelaufen, wenn Sie im fünften nicht runtergefallen wären«, sagte er bissig.

Ich war nicht runtergefallen. Das Pferd war glatt unter mir zu Boden gegangen, seine Nummerndecke hatte Grasflecke bekommen. Dusty wußte das ganz genau.

«Na ja«, sagte ich.»Trotzdem vielen Dank.«

Er nickte mir ernst zu, bevor er davoneilte; und in grundsätzlicher Uneinigkeit würden wir zweifellos auch am nächsten Tag in Newton Abbot und am übernächsten in Ascot zusammenwirken, ein eingespieltes, aber kaltes Team.

Zwei andere Jockeys, die in Lambourn wohnten, nahmen mich mit nach Newbury, und ich holte meinen Wagen dort von seinem Dauerstellplatz ab und fuhr heim zu meinem Haus auf dem Hügel.

Ich machte Feuer im Kamin, um Gemütlichkeit herbeizuzaubern, aß ein Brathähnchen und rief Wykeham an.

Er hatte wieder einen aufreibenden Tag hinter sich. Die Versicherungsleute hatten seine Schutzmaßnahmen ange-zweifelt, die Kriminalpolizei hatte alle Pfleger verärgert, und der Hundeführer war vom Futtermeister, als der um sechs Uhr früh zur Arbeit kam, schlafend auf dem Heuboden entdeckt worden. Wykeham hatte Weatherbys, das Sekretariat des Jockey-Clubs, vom Tod der Pferde unterrichtet (eine Pflicht), und den ganzen Nachmittag hatte ihn das Telefon genervt, da eine Zeitung nach der andern sich erkundigte, ob sie tatsächlich umgebracht worden seien.

Zu guter Letzt, sagte er, hatte die Prinzessin angerufen. Sie habe den Besuch bei ihren Freunden in Newton Abbot abgesagt und werde sich auch ihre Pferde dort nicht ansehen; er möchte mir bitte ausrichten, ihr sei sehr daran gelegen, daß ich, sobald ich könnte, wieder zum Eaton Square käme.

«Was ist denn da los?«fragte Wykeham ohne direkte Neugierde.»Sie klingt anders als sonst.«

«Ihre Schwägerin ist unerwartet zu Besuch gekommen.«

«So?«Er verfolgte es nicht weiter.»Gratuliere zu den Siegen heute.«

«Danke. «Ich erwartete im Anschluß daran zu hören, daß Dusty gesagt habe, ich sei vom Pferd gefallen, aber ich hatte mich in dem alten Brummbär geirrt.»Dusty sagt, Tor-quil hat sich im fünften hingelegt. Alles klar mit Ihnen?«

«Nicht ein Kratzer«, sagte ich ziemlich erstaunt.

«Gut. Nun also zu morgen.«

Wir besprachen die Rennen des nächsten Tages und wünschten uns schließlich gute Nacht, und er sagte Kit zu mir, jetzt schon zum zweitenmal hintereinander. Wenn sich die Lage normalisierte, würde ich es wohl daran erkennen, daß er mich wieder Paul nannte.

Ich spulte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab und stellte fest, daß es vorwiegend Variationen von den Anrufen waren, die Wykeham bekommen hatte. Eine ganze Kolonne von Presseleuten wollte wissen, wie ich den Verlust von Cotopaxi empfand. Schon gut, daß ich darüber nicht hatte reden müssen.

Ein Trainer aus Devon fragte an, ob ich in Newton Abbot zwei für ihn reiten könnte, sein Jockey sei verletzt. Ich schlug die Pferde im Leistungsbuch nach, gab ihm die telefonische Zusage und ging friedlich ins Bett.

Das Telefon weckte mich gegen halb drei.

«Hallo«, sagte ich schläfrig und schielte nach der unwillkommenen Nachricht auf meine Armbanduhr.»Wer ist denn da?«»Kit…«

Ich wurde im Bruchteil einer Sekunde hellwach. Es war Danielles Stimme, sehr beunruhigt.

«Wo bist du?«sagte ich.

«Ich… oh… ich brauche… ich bin in einem Shop.«

«Hast du >Schock< oder >Shop< gesagt?«

«Oh. «Sie schluckte hörbar.»Es stimmt wohl beides.«

«Was ist passiert? Hol mal tief Luft. Erzähl es mir langsam.«

«Ich bin um zehn nach. zehn nach zwei aus dem Studio gekommen… und bin losgefahren. «Sie brach ab. Sie arbeitete immer bis um zwei, dann machten die amerikanischen Nachrichtensammler allgemein Feierabend, und sie fuhr mit ihrem kleinen Ford nach Hause, zu der Garage hinter dem Eaton Square, wo Thomas auch den Rolls unterstellte.

«Weiter«, sagte ich.

«Es schien, als ob mir ein Auto folgte. Dann hatte ich eine Reifenpanne. Ich mußte anhalten. Ich…«sie schluckte wieder.»Ich sah, daß zwei Reifen platt waren. Und der andere Wagen hielt an, und ein Mann stieg aus… Er war. vermummt.«

Guter Gott, dachte ich.

«Ich bin weggerannt«, sagte Danielle, hörbar bemüht, nicht hysterisch zu werden.»Er kam hinter mir her… Ich bin gerannt und gerannt… ich sah den Laden hier… er hat die ganze Nacht geöffnet… da bin ich schnell rein. Aber dem Mann hier paßt das nicht. Er hat mir erlaubt zu telefonieren, aber ich habe kein Geld, meine Tasche und mein Mantel liegen im Auto… und ich weiß nicht, was ich machen soll.«

«Du tust folgendes«, sagte ich,»du bleibst da, bis ich bei dir bin.«»Ja, aber… der Mann hier will das nicht… und irgendwo da draußen… Ich kann nicht… ich kann einfach nicht rausgehen. Ich komme mir so blöd vor… aber ich hab Angst.«

«Dazu hast du auch guten Grund. Ich komme sofort. Gib mir mal den Mann da im Laden. und keine Sorge, ich bin in weniger als einer Stunde dort.«

Sie sagte leise:»Gut«, und Sekunden später meldete sich eine asiatisch klingende Stimme:»Hallo?«

«Meine Freundin«, sagte ich,»braucht Ihre Hilfe. Es ist kalt draußen. Geben Sie ihr etwas Warmes zu trinken, machen Sie es ihr gemütlich, bis ich komme, und ich bezahle Ihnen das.«

«In bar«, sagte er kurz und bündig.

«Ja, in bar.«

«Fünfzig Pfund«, sagte er.

«Dafür«, meinte ich,»kümmern Sie sich aber wirklich gut um sie. Und jetzt geben Sie mir Ihre Adresse. Wo finde ich Sie?«

Er erklärte den Weg und sagte mir ernst, er werde sich um die Dame kümmern, ich brauchte mich nicht zu beeilen, aber ich solle an das Geld denken, und ich versicherte ihm nochmals, daß ich das tun würde.

Ich zog mich an, warf ein paar Kleider in eine Tasche, schloß das Haus ab und brach den Geschwindigkeitsrekord nach London. Nachdem ich zwei- bis dreimal falsch abgebogen war und eine unwillige Stricherin befragt hatte, fand ich die Straße und die dunkle Ladenzeile mit dem einen hellen Schaufenster nahe der U-Bahn-Station am anderen Ende. Ich hielt mit einem Ruck auf gelben Doppelstreifen und ging hinein.

Der» Shop «war ein schmaler Mini-Supermarkt mit einer gläsernen Imbißtheke bei der Tür, der ganze übrige Raum vollgepackt mit Lebensmitteln, die zart nach Gewürzen dufteten. Zwei Kunden suchten sich gerade warme Speisen aus, ein dritter, weiter hinten im Laden, studierte Konservendosen, aber von Danielle war nichts zu sehen.

Der bedienende Asiat, rundlich, rundgesichtig, drogenschwere Augen, warf mir einen flüchtigen Blick zu, als ich hereingehastet kam, und widmete sich wieder den von seinen Kunden ausgesuchten Chapatis und Samosas, die er methodisch mit einer Zange pflückte.

«Die junge Dame«, sagte ich.

Er tat, als hätte er es nicht gehört, schlug die Ware ein, rechnete den Preis zusammen.

«Wo ist sie?«beharrte ich und hätte ebensogut schweigen können. Der Asiat unterhielt sich mit seinen Kunden in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte, nahm ihr Geld entgegen, gab heraus, wartete, bis sie gegangen waren.

«Wo ist sie?«drängte ich, allmählich besorgt.

«Geben Sie mir das Geld. «Seine Augen sprachen beredt davon, wie nötig er es brauchte.»Sie ist in Sicherheit.«

«Wo?«

«Im Hinterzimmer, durch die Tür. Geben Sie mir das Geld.«

Ich gab ihm, was er verlangt hatte, ließ ihn nachzählen und sprintete fast durch den Laden. Ich kam zu einer Rückwand, die bis zur Decke vollgestellt war wie der Rest, und fühlte hellen Zorn aufsteigen, bevor ich sah, daß auch die Tür als Gestell und Regal diente.

In einer kleinen Lücke zwischen Kaffeetüten entdeckte ich den Türgriff, packte ihn, drehte ihn, stieß die Tür auf. Sie führte in einen Raum, in dem sich weitere Lebensmittel in braunen Kartons türmten, so daß nur wenig Platz für einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Elektroofen mit einer einzigen Rippe blieb.

Danielle saß auf dem Stuhl, in einen großen, dunklen Herrenmantel gekuschelt, um sich an dem dürftigen Heizofen zu wärmen, und starrte ins Leere.

«Tag«, sagte ich.

Der Ausdruck unendlicher Erleichterung in ihrem Gesicht war vermutlich so gut wie ein leidenschaftlicher Kuß, den ich allerdings nicht bekam. Aber sie stand auf und ließ sich in meine Arme gleiten, als komme sie nach Hause, und ich hielt sie fest, ohne durch den dicken Mantel viel von ihr zu spüren, roch den moschusartigen Duft des dunklen Stoffes, streichelte Danielles Haar und atmete tief vor Zufriedenheit.

Nach einer Weile löste sie sich langsam, obwohl ich stundenlang so hätte stehenbleiben können.

«Bestimmt hältst du mich für blöd«, sagte sie zittrig, schnüffelte und wischte sich mit den Fingerknöcheln über die Augen.»Für eine dumme Gans.«

«Weit gefehlt.«

«Ich bin froh, dich zu sehen. «Es war aufrichtig, eine Tatsache.

«Dann komm«, sagte ich, tief getröstet.»Am besten gehen wir.«

Sie schlüpfte aus dem übergroßen Mantel, legte ihn auf den Stuhl und zitterte leicht in ihrem Pullover. Die Kälte des Schocks, dachte ich, denn weder in dem Laden noch im Lagerraum war es wirklich kalt.

«Ich habe eine Decke im Wagen«, sagte ich.»Dann fahren wir erst mal deinen Mantel holen.«

Sie nickte, und wir gingen durch das Geschäft nach vorn.

«Vielen Dank«, sagte ich dem Asiaten.

«Haben Sie die Heizung abgedreht?«wollte er wissen.

Ich schüttelte den Kopf. Er sah verärgert aus.

«Gute Nacht«, sagte ich, und Danielle sagte:»Danke schön.«

Er blickte uns aus den drogenschweren Augen an und erwiderte nichts, und nach ein paar Sekunden ließen wir ihn allein und gingen über den Bürgersteig zum Wagen.

«Er war gar nicht verkehrt«, sagte Danielle, als ich ihr die Decke um die Schultern legte.»Er hat mir Kaffee von der Imbißtheke gegeben und mir auch was zu essen angeboten, aber ich hätte nichts runtergebracht.«

Ich schloß die Beifahrertür, ging außen herum und glitt neben ihr hinter das Steuer.

«Wo steht dein Wagen?«sagte ich.

Sie hatte Mühe, sich zu erinnern, aber das war kein Wunder nach der Aufregung ihrer Flucht.

«Ich war, glaube ich, zwei Meilen gefahren, als ich merkte, daß ich einen Platten hatte. Ich bin von der Schnellstraße runter. Wenn wir nochmal in Richtung Studio fahren… aber ich weiß nicht mehr.«

«Wir finden ihn«, sagte ich.»Du kannst nicht weit gelaufen sein.«

Und wir fanden ihn tatsächlich schnell, sein Heck ragte uns entgegen, als wir eine schäbige Seitenstraße entlangrollten.

Ich ließ sie in meinem Wagen sitzen, während ich nachschaute. Ihr Mantel und ihre Tasche waren verschwunden, ebenso die Scheibenwischer und das Radio. Bemerkenswert, dachte ich, daß das Auto selbst noch dort war, auch wenn es zwei platte Reifen hatte, denn die Schlüssel steckten in der Zündung. Ich zog sie raus, sperrte die Türen ab und brachte Danielle die gute und die schlechte Nachricht.

«Noch hast du ein Auto«, sagte ich,»aber bis morgen früh könnte es ausgeschlachtet oder fort sein, wenn wir es nicht abschleppen lassen.«

Sie nickte stumm und blieb wieder im Wagen, als ich eine Werkstatt mit Nacht- und Abschleppdienst fand und mit den Amtsträgern verhandelte. Aber sicher, meinten sie faul, kein Problem, und ließen sich die Schlüssel, das Kennzeichen und den Standort des Autos geben. Sie würden es gleich an Land ziehen, die Reifen flicken, die Scheibenwischer ersetzen, und am Morgen wäre es abhol-bereit. Erst als wir wieder unterwegs zum Eaton Square waren, kam Danielle zögernd, widerstrebend noch einmal auf ihren erfolglosen Angreifer zu sprechen.

«Glaubst du, das war ein Frauenschänder?«sagte sie gepreßt.

«Es könnte… nun… es scheint fast so. «Ich versuchte ihn mir vorzustellen.»Was hatte er denn an? Wie war er vermummt?«

«Ich habe nicht darauf geachtet«, begann sie und merkte, daß sie doch mehr behalten hatte, als sie dachte.»Einen Anzug. Einen ganz normalen. Und blanke Lederschuhe. Das Licht schien drauf, und ich hörte sie über das Pflaster tappen… wie eigenartig. Die Maske war… eine dunkle Wollmütze, runtergezogen, mit Schlitzen für Augen und Mund.«

«Grausig«, sagte ich mitfühlend.

«Ich glaube, er hat vor dem Studio auf mich gewartet. «Sie erschauerte.»Meinst du, er hat meine Reifen präpariert?«

«Zwei Plattfüße gleichzeitig sind kein Zufall.«

«Was meinst du, was ich tun soll?«

«Zur Polizei gehen?«tippte ich an.

«Nein, bestimmt nicht. Die denken doch, daß jede junge Frau, die mitten in der Nacht allein herumfährt, es darauf anlegt.«

«Trotzdem.«

«Weißt du«, sagte sie,»daß die Freundin einer Freundin von mir — eine Amerikanerin —, als sie mal so wie ich durch London fuhr, ohne den geringsten Anlaß von der Polizei angehalten und aufs Revier gebracht wurde? Die haben sie ausgezogen! Kannst du dir das vorstellen? Wir suchen nach Rauschgift oder Bomben, sagten sie… die Terroristenangst ging gerade um, und sie fanden ihren Akzent verdächtig. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie es schaffte, Leute aus dem Schlaf zu holen, die bestätigten, daß sie nur vom Spätdienst hatte nach Hause fahren wollen. Sie ist seitdem ein Wrack, und ihre Stelle hat sie aufgegeben.«

«Das scheint unglaublich«, gab ich zu.

«Es ist passiert«, sagte sie.

«Sie sind nicht alle so«, lenkte ich ein.

Sie beschloß dennoch, es nur ihren Kollegen im Studio zu erzählen und auf eine bessere Sicherung der Parkplätze zu dringen.

«Tut mir leid, daß du wegen mir den weiten Weg machen mußtest«, sagte sie, ohne sich besonders traurig anzuhören.»Aber ich wollte nicht die Polizei, und sonst hätte ich Dawson wecken müssen, damit er jemand schickt, der mich abholt. Ich war mit den Nerven fertig… ich wußte, du würdest kommen.«

«Mm.«

Sie seufzte und redete jetzt weniger angespannt.»In meiner Tasche war zum Glück weiter nichts. Nur Lippenstift und eine Haarbürste, nicht viel Geld. Keine Kreditkarten. Ich nehme nie viel mit zur Arbeit.«

Ich nickte.»Und Schlüssel?«

«Oh…«

«Die Haustürschlüssel vom Eaton Square?«

«Ja«, sagte sie bestürzt.»Und der Schlüssel zum Hintereingang des Studios, wo das Personal reingeht. Das muß ich denen morgen sagen, wenn die Frühschicht anfängt.«

«Hattest du Sachen dabei, wo die Eaton-Square-Adresse draufstand?«

«Nein«, sagte sie mit Gewißheit.»Ich habe heute nachmittag das ganze Auto ausgeräumt. eigentlich, um Tante Beatrice zu entgehen… und ich habe die Tasche gewechselt. Ich hatte keine Post oder dergleichen bei mir.«

«Das ist immerhin etwas«, sagte ich.

«Du denkst so praktisch.«

«Ich würde zur Polizei gehen«, sagte ich neutral.

«Nein. Das verstehst du nicht, du bist keine Frau.«

Darauf schien es keine Antwort zu geben, und so drängte ich sie nicht weiter. Ich fuhr zum Eaton Square wie schon so oft, wenn ich sie von der Arbeit nach Hause gebracht hatte, und erst als wir fast dort waren, kam mir die Frage, ob der Vermummte möglicherweise gar kein Frauenschänder gewesen war, sondern Henri Nanterre.

Auf den ersten Blick schien das nicht möglich, aber gerade zu diesem Zeitpunkt mußte man es in Betracht ziehen. Wenn es tatsächlich ein Bestandteil der Unfall- und Zermürbungsstrategie war, würden wir noch davon hören, ebenso wie von den Pferden: Kein Terrorakt war vollständig ohne die anschließende Prahlerei.

Danielle hatte Henri Nanterre nie gesehen und hätte ihn nicht an seiner Statur, seiner Größe oder seinen Bewegungen erkennen können. Umgekehrt wäre er, selbst wenn er von ihrer Existenz wußte, wohl nicht in Chiswick aufgetaucht, es sei denn, er hatte erfahren, daß sie in England war.

«Du bist auf einmal sehr still«, sagte Danielle. Sie klang nicht mehr verängstigt, sondern schläfrig.»Woran denkst du?«

Ich blickte sie an und sah, daß ihr Gesicht weicher geworden war, daß die strengen Züge der Anspannung sich glätteten. Drei oder viermal hatten wir durch eine Art spontane Gedankenübertragung, wie sie zwischen Leuten vorkommt, die einander gut kennen, gewußt, was der andere gerade dachte, aber nicht regelmäßig und auch nicht in letzter Zeit. In diesem Moment war ich froh, daß sie meine Gedanken nicht lesen konnte, denn ich wußte nicht, ob sie davon beruhigt oder erst recht beunruhigt worden wäre.

«Morgen abend«, sagte ich,»läßt du dich von Thomas zur Arbeit bringen. Er fährt ja nicht nach Devon… und ich werde dich abholen.«

«Aber wenn du doch in Devon reitest.«

«Ich nehme den Zug hin und zurück. Gegen neun müßte ich wieder am Eaton Square sein.«

«Also gut… danke.«

Ich parkte meinen Wagen dort, wo sonst ihrer stand, holte meine Tasche aus dem Kofferraum und ging mit Danielle, die in die Decke eingehüllt war wie in einen übergroßen Schal, um den Block herum zu der Haustür am Eaton Square.

«Du hast hoffentlich einen Schlüssel?«sagte sie gähnend.»Sonst sehen wir hier wie Zigeuner aus.«

«Dawson hat mir einen mitgegeben.«

«Gut… ich schlafe bald im Stehen.«

Wir gingen ins Haus und leise nach oben. Als wir auf ihrem Flur waren, legte ich die Arme um sie und hielt sie wieder, mit Decke und allem, umfangen, aber diesmal schmiegte sie sich nicht voll Erleichterung an mich, und als ich mich vorbeugte, um sie zu küssen, bot sie ihre Wange, nicht ihren Mund.

«Gute Nacht«, sagte ich.»Kommst du klar?«

«Ja. «Sie begegnete kaum meinen Augen.»Ich bin dir wirklich dankbar.«

«Du schuldest mir nichts.«

«Oh…«Sie sah mich kurz mit einem verwirrten Ausdruck an. Dann ließ sie die Decke fallen, die sie wie einen Schutzschild um sich gehalten hatte, legte die Arme um meinen Hals und gab mir einen raschen Kuß, der zumindest an bessere Zeiten erinnerte, auch wenn er irgendwo auf meinem Kinn landete.

«Gute Nacht«, sagte sie leichthin und ging den Flur entlang zu ihrem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen, und ich nahm meine Tasche und die Decke und fühlte mich, als ich nach oben ging, sehr viel besser als tags zuvor. Ich öffnete die Tür zum Bambuszimmer halb in der Erwartung, Beatrice glücklich schnarchend zwischen meinen Laken vorzufinden, aber das Bett war unberührt und leer, und ich tauchte für gute zwei Stunden ins Traumland.

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