Kapitel 9

Früh, gegen viertel nach sieben, klopfte ich an Litsis Tür im Erdgeschoß, bis eine schläfrige Stimme sagte:»Wer ist da?«

«Kit.«

Eine kurze Pause, dann:»Kommen Sie rein.«

In dem Zimmer war es dunkel, und Litsi stützte sich auf einen Ellenbogen, um die Nachttischlampe anzuknipsen. Das Licht erhellte einen großen, eichengetäfelten Raum mit Himmelbett, Brokatvorhängen und Ahnenporträts: sehr passend für Litsi, wie ich fand.

«Ich dachte, Sie wären nicht hier«, sagte er und rieb sich die Augen mit den Fingern.»Was für einen Tag haben wir?«

«Dienstag. Ich bin heute morgen vor fünf zurückgekommen, und darüber möchte ich Ihnen was erzählen.«

Erst noch halb liegend, richtete er sich beim Zuhören im Bett auf.

«Glauben Sie, es war wirklich Nanterre?«sagte er, als ich geendet hatte.

«Sollte er es gewesen sein, dann wollte er sie vielleicht nur einholen und ihr angst machen. ihr sagen, was ihrem Onkel passieren könnte, wenn er nicht nachgibt. Jedenfalls muß sie den Mann mit ihren schnellen Beinen überrascht haben. Sie trägt Turnschuhe bei der Arbeit…

richtige Laufschuhe… und sie ist immer ganz gut in Form. Vielleicht kam er einfach nicht mit.«

«Wenn er eine Warnung im Sinn hatte, die er nicht anbringen konnte, werden wir noch von ihm hören.«

«Ja. Und wegen der Pferde auch.«

«Er ist geistesgestört«, sagte Litsi,»wenn er das war.«

«Wie auch immer«, sagte ich,»ich hielt es für besser, Sie zu warnen.«

Ich erzählte ihm, daß Danielles Handtasche verschwunden war.»Wenn’s irgendein Dieb war, macht es nichts, denn er findet keine Anschrift, aber wenn Nanterre sie gestohlen hat, besitzt er jetzt einen Schlüssel für dieses Haus. Könnten Sie das wohl der Prinzessin erklären und das Schloß auswechseln lassen? Ich habe ein paar Ritte in Devon und komme heute abend wieder. Ich will Danielle nach Feierabend abholen, aber würden Sie, falls ich den Zug zurück verpasse, dafür sorgen, daß sie gut nach Hause kommt? Wenn Sie einen Wagen brauchen, können Sie meinen nehmen.«

«Verpassen Sie mal den Zug nicht.«

«Nein.«

Seine Augenbrauen wölbten sich.»Dann geben Sie mir die Schlüssel«, sagte er.

Ich gab sie ihm.»Versuchen Sie mal rauszufinden«, sagte ich,»ob Danielle ihrer Tante Beatrice gesagt hat, wo sie arbeitet und wann sie Feierabend macht.«

Er blinzelte verständnislos.

«Henri Nanterre«, erinnerte ich ihn,»hat mitten in diesem Haus einen Spion.«

«Schwirren Sie ab. Hals- und Beinbruch.«

Ich lächelte und ging los und bekam den Zug nach Devon. Vielleicht war es dumm von mir, dachte ich, Litsi

Danielle anzuvertrauen, aber sie benötigte Schutz, und eine kurze Fahrt in meinem Mercedes, mit Litsi am Steuer, würde wahrscheinlich auch nicht alles entscheiden.

Trotz des Tempos und der anderen Berufsrisiken verunglücken Hindernisjockeys selten tödlich; es ist zum Beispiel gefährlicher, seinen Lebensunterhalt mit Fensterputzen zu verdienen. Allerdings kommt es hin und wieder vor, daß man im Krankenhaus landet, und zwar immer zum falschen Zeitpunkt.

Ich würde nicht sagen, daß ich an diesem Tag in Newton Abbot gerade vorsichtig war, aber ich ritt mit Sicherheit ohne den leichtsinnigen Zorn der vergangenen zwei Wochen.

Vielleicht würde sie schließlich zu mir zurückkommen, vielleicht nicht; direkt vor ihren Augen hatte ich eine bessere Chance als dreihundert Kilometer entfernt im Streck-verband.

Das Hauptgesprächsthema den ganzen Nachmittag auf der Rennbahn war, soweit es mich betraf, die Tötung von Cascade und Cotopaxi. Im Zug hatte ich auf den Sportseiten zweier Zeitungen Berichte darüber gelesen, und im Umkleideraum sah ich noch zwei, durchweg eher Mutmaßungen und fette Schlagzeilen als harte Fakten. Wohin ich mich auch wandte, wurde ich mit neugierigen und mitfühlenden Fragen bestürmt, konnte aber wenig hinzufügen, außer jawohl, ich hätte sie tot in ihren Boxen liegen sehen, ja, natürlich sei die Prinzessin außer sich und ja, ich würde mich nach einem anderen Ritt im Grand National umschauen.

Dusty hatte seinem Unwettergesicht nach mit dem gleichen Sperrfeuer zu kämpfen. Er war dann etwas besänftigt, als ein Starter der Prinzessin siegte und mit Applaus und Hochrufen gefeiert wurde, ein Zeichen ihrer Beliebtheit beim Publikum. Der Sekretär und der Vorstandsvorsitzende des gastgebenden Vereins bestellten mich ins Direktorat, nicht um meine Reitweise zu monieren, sondern ihr Mitgefühl auszusprechen, und baten mich, auch der Prinzessin und Wykeham ihr Bedauern auszudrücken. Sie klopften mir derb auf die Schulter und boten mir Sekt an, und das war alles sehr weit weg von Maynard Allardeck.

Ich erwischte pünktlich den Rückreisezug, aß ein Eisenbahnsandwich zu Abend und war vor neun wieder am Eaton Square. Dawson mußte mich einlassen, da das Schloß tatsächlich ausgewechselt worden war, und ich ging hinauf ins Wohnzimmer, wo ich die Prinzessin, Litsi und Beatrice Bunt vorfand, jeder für sich in regloses Schweigen gehüllt, als säßen sie unter Glasglocken und könnten einander nicht hören.

«Guten Abend«, sagte ich vernehmlich.

Beatrice Bunt zuckte zusammen, da ich hinter ihr gesprochen hatte, die ausdruckslose Miene der Prinzessin wurde freundlich, und Litsi erwachte zum Leben wie eine von Zauberhand berührte Wachsfigur.

«Sie sind wieder da!«sagte er.»Wenigstens ein Lichtblick.«

«Was ist passiert?«fragte ich.

Keiner von ihnen wollte so recht heraus damit.

«Geht’s Danielle gut?«sagte ich.

Die Prinzessin sah erstaunt drein.»Aber ja doch. Thomas hat sie zur Arbeit gefahren. «Sie saß auf einem Sofa, den Rücken gestrafft, den Kopf erhoben, jeder Muskel in der Defensive und nirgends Wohlgefühl.»Kommen Sie hierher«, sie klopfte auf die Polster neben sich,»und sagen Sie mir, wie meine Pferde gelaufen sind.«

Das war, wie ich wußte, ihre Zuflucht vor unangenehmer Realität; schon früher hatte sie in den schlimmsten Augenblicken über ihre Renner gesprochen, sich an diesen Fels in einer aus den Fugen geratenen Welt geklammert.

Ich setzte mich neben sie und spielte bereitwillig mit.

«Bernina war in Topform, sie gewann ihren Hürdenlauf. In Devon scheint’s ihr zu gefallen, das ist jetzt das dritte Mal, daß sie dort gewonnen hat.«

«Erzählen Sie mir von ihrem Rennen«, sagte die Prinzessin scheinbar erfreut, aber doch irgendwie nicht ganz bei der Sache, und ich schilderte ihr den Rennverlauf, ohne daß sich an ihrem Gesichtsausdruck etwas änderte. Ich warf einen Blick auf Litsi und sah, daß er genauso unbeteiligt zuhörte, und auf Beatrice, die überhaupt nicht zuzuhören schien.

Ich richtete das Mitgefühl der Veranstalter aus und erzählte, wie das Publikum den Sieg ihres Pferdes gefeiert hatte.

«Sehr freundlich«, murmelte sie.

«Was ist passiert?«sagte ich nochmals.

Es war Litsi, der schließlich antwortete.»Henri Nanterre rief hier vor etwa einer Stunde an. Er wollte Roland sprechen, aber Roland weigerte sich, da verlangte er mich mit Namen.«

Ich hob die Augenbrauen.

«Er sagte, er wisse, daß ich einer von den dreien sei, die geschäftliche Anordnungen zusammen mit Roland unterschreiben müssen. Er sagte, die anderen seien Danielle und die Prinzessin — sein Notar habe sich erinnert.«

Ich runzelte die Stirn.»Er könnte sich wohl erinnert haben, wenn ihm jemand die Namen genannt hat… er könnte sie wiedererkannt haben.«

Litsi nickte.»Henri Nanterre sagte auch, daß sein Notar die Aktenmappe in Rolands Salon vergessen hat. In der

Aktentasche fände sich ein Vertragsformular mit Leerzeilen für Unterschriften und Zeugen. Er sagt, dieses Formular müssen wir alle vier an einem Ort, den er bestimmen wird, in Gegenwart seines Notars unterschreiben. Er würde jeden Morgen anrufen, bis alle dazu bereit seien.«

«Sonst passiert was?«sagte ich.

«Er meinte«, erwiderte Litsi gleichmütig,»es wäre doch ein Jammer, wenn die Prinzessin unnötigerweise noch mehr Pferde verlöre, und junge Frauen, die nachts alleine unterwegs sind, seien immer in Gefahr. «Er unterbrach sich und hob ironisch eine Braue.»Er sagte, auch Prinzen seien nicht gegen Unfälle gefeit, und ein gewisser Jockey solle, wenn ihm seine Gesundheit lieb sei, das Haus verlassen und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.«

«Originalton?«fragte ich interessiert.

Litsi schüttelte den Kopf.»Er sagte es auf französisch.«

«Wir haben Beatrice gefragt«, warf die Prinzessin mit spröder, aufgesetzter Höflichkeit ein,»ob sie seit ihrer Ankunft hier am Sonntag mit Henri Nanterre gesprochen hat, aber sie sagt, sie weiß nicht, wo er sich aufhält.«

Ich sah Beatrice an, die unversöhnlich zurückstarrte. Man brauchte zwar nicht zu wissen, wo sich jemand aufhielt, wenn er eine Telefonnummer hatte, aber es schien sinnlos, sie von einer Ausflucht in eine direkte Lüge zu treiben, und etwas anderes hätten wir, nach ihrem Trotzgesicht zu urteilen, nicht bekommen.

Die Prinzessin sagte, ihr Mann habe den Wunsch geäußert, mich bei meiner Rückkehr zu sprechen; vielleicht könnte ich mich jetzt erst einmal mit ihm unterhalten. Ich spürte im Hinausgehen, wie sie alle wieder unter ihren Glasglocken erstarrten, und klopfte oben an Roland de Brescous Tür.

Er rief» herein«, bat mich Platz zu nehmen und fragte mit gut gespieltem Interesse nach meinem Erfolg bei den Rennen. Ich erwähnte Berninas Sieg, und er sagte abwesend:»Schön«, während er in Gedanken seine nächsten Worte zurechtlegte. Er kam mir nicht so gebrechlich vor wie am Freitag oder Samstag, aber auch nicht so entschlossen.

«Mein Rücktritt ist keine Sache, die von heute auf morgen geht«, sagte er,»und sobald ich irgendwelche konkreten Schritte unternehme, wird Henri Nanterre das erfahren. Gerald Greening ist der Auffassung, daß er dann unter Androhung immer weiterer Schikanen und niederträchtiger Gewalt verlangen wird, daß ich meine Absicht aufgebe. «Er schwieg.»Hat Litsi Ihnen von Nanterres Anruf erzählt?«

«Ja, Monsieur.«

«Die Pferde. Danielle. meine Frau. Litsi. Sie selbst… Ich kann euch nicht alle der Gefahr aussetzen. Gerald Greening rät mir jetzt zur Unterzeichnung des Vertrags; sobald Nanterre dann seine Schußwaffenzulassung bekommt, kann ich meinen Firmenanteil verkaufen. Das muß Nanterre hinnehmen. Ich werde es zur Bedingung machen, bevor ich unterschreibe. Jedermann wird sich denken können, daß ich wegen der Waffen verkauft habe. so bleibt vielleicht immerhin etwas von meinem Ruf erhalten. «Sein Mund zuckte gequält.»Mit dem denkbar größten Widerwillen unterschreibe ich diesen Vertrag, aber ich sehe keine andere Möglichkeit.«

Er schloß mit einer stummen Frage, als erbitte er meine Stellungnahme, und nach einer kurzen Pause gab ich sie ihm.

«Unterschreiben Sie nicht, Monsieur«, sagte ich.

Er betrachtete mich nachdenklich, mit dem Anflug eines Lächelns.

«Litsi war der Meinung, daß Sie das sagen würden«, sagte er.

«So? Und was hat Litsi selbst gesagt?«

«Was meinen Sie wohl?«

«Nicht unterschreiben«, sagte ich.

«Sie und Litsi. «Wieder das flüchtige Lächeln.»So verschieden. So ähnlich. Er hat Sie als — und das sind seine Worte, nicht meine — als einen >Teufelskerl mit Köpfchen< bezeichnet, und er sagte, ich solle Ihnen und ihm Zeit lassen, sich etwas auszudenken, wie man Nanterre ein für allemal abwehren kann. Er sagte, nur wenn Sie beide scheiterten und sich geschlagen gäben, solle ich ans Unterschreiben denken.«

«Und… waren Sie einverstanden?«

«Wenn Sie es auch möchten, bin ich einverstanden.«

Eine Verpflichtung zu aktivem Vorgehen war etwas ganz anderes, als sich auf Verteidigung zu beschränken, aber ich dachte an die Pferde, an die Prinzessin, an Danielle, und es war wirklich keine Frage.

«Ich möchte es«, sagte ich.

«Nun gut… aber hoffentlich gibt das kein Ende mit Schrecken.«

Ich sagte, wir würden unser Bestes tun, das zu verhindern, und fragte ihn, ob er etwas dagegen hätte, wenn jeden Tag während John Grundys dienstfreier Stunden ein Wächter im Haus wäre.

«Ein Wächter?«fragte er stirnrunzelnd.

«Nicht in Ihren Räumen, Monsieur. Auf Rundgang. Sie würden ihn kaum bemerken, aber Sie bekämen ein Funksprechgerät, so daß Sie ihn notfalls rufen könnten. Und dürfen wir außerdem ein Telefon aufstellen, das Gespräche aufzeichnet?«

Er hob seine dünne Hand und ließ sie wieder auf die Armlehne des Rollstuhls sinken.

«Tun Sie, was Sie für richtig halten«, sagte er und dann, fast schelmisch lächelnd — das erste Mal, daß ich etwas von seiner helleren Seite zu sehen bekam —:»Hat Beatrice Sie schon aus dem Bambuszimmer verjagt?«

«Nein, Monsieur«, sagte ich fröhlich.

«Sie war heute morgen hier oben und hat verlangt, daß ich Sie woanders unterbringe«, sagte er, immer noch lächelnd.»Sie besteht auch darauf, daß ich Nanterre die Geschäfte nach seinem Gutdünken führen lasse, aber ich weiß ehrlich nicht, von welchem ihrer beiden Ziele sie am meisten besessen ist. Sie sprang innerhalb desselben Satzes von dem einen zum anderen. «Er schwieg.»Wenn Sie meine Schwester schaffen«, sagte er,»dürfte Nanterre ein leichtes sein.«

Bis Mitte des nächsten Vormittags hatte ich in der Stadt ein Tonbandtelefon gekauft, und der Wächter war eingeführt in der unkonventionellen Gestalt eines elastischen Zwanzigjährigen, der Karate schon in der Wiege gelernt hatte.

Beatrice äußerte wie zu erwarten ihr Mißfallen über sein Aussehen und seine Anwesenheit, zumal er sie auf einem Treppenabsatz beinah umgerannt hätte, als er bewies, daß er schneller vom Souterrain zur Mansarde laufen konnte als der Lift die gleiche Strecke fuhr.

Er sagte mir, er heiße (in dieser Woche) Sammy, und er war tief beeindruckt von der Prinzessin, die er zu ihrer stillen und wohlwollenden Belustigung mit» Königliche Hoheit «ansprach.

«Sind Sie auch sicher…?«meinte sie zögernd zu mir, als er außer Hörweite war.

«Er hat die allerbesten Referenzen«, versicherte ich ihr.»Sein Chef hat garantiert, er könnte jedem eine Pistole aus der Hand treten, bevor er zum Schuß kommt.«

Sammys ein wenig koboldhaftes Gemüt schien sie sehr aufzumuntern, und sie verkündete entschlossen, daß wir alle, natürlich auch Beatrice, zum Pferderennen nach Ascot fahren würden. Der Lunch dort sei schon bestellt, und Sammy werde ja ihren Mann beschützen. Sie legte die Fröhlichkeit an den Tag, die sich mitunter einstellt, wenn man etwas riskiert, und zumindest auf Litsi und Danielle wirkte das ansteckend.

Beatrice beklagte sich finsteren Blickes, sie halte nichts von Pferderennen. In ihrer Achtung war ich so tief gesunken wie der Marianen-Graben, seit sie erfaßt hatte, daß ich Berufsrennreiter war.

«Er arbeitet für euch«, hörte ich sie empört zur Prinzessin sagen.»Da finden sich doch wohl noch Zimmer in der Mansarde.«

Die» Mansarde «war zufällig eine unbenutzte Kinderzimmersuite, kalt und mit Staubdecken drapiert, wie ich bei meinen nächtlichen Streifengängen herausgefunden hatte. Das Zimmer, das ich realistischerweise für mich hätte erwarten können, lag neben dem Rosenzimmer und teilte das Bad mit ihm, aber es war ebenfalls in bleiche Tücher gehüllt.

«Ich wußte nicht, daß du kommen würdest, liebe Beatrice«, erinnerte sie die Prinzessin.»Und er ist Danielles Verlobter.«

«Aber wirklich…«

Sie kam dann widerwillig doch mit zum Pferderennen, vermutlich aus der Überlegung, daß sie ihren Bruder, selbst wenn es ihr noch einmal gelang, zu ihm vorzudringen, und selbst wenn sie ihn bis zur Erschöpfung traktierte, nicht dazu bringen konnte, den Vertrag zu unterschreiben, weil er ihn erstens nicht hatte (er war jetzt in Litsis Zimmer für den Fall, daß Beatrice die Bambussuite im Handstreich nahm) und weil zweitens seine drei Mitunterzeichner nicht in ähnlicher Weise bedrängt werden konnten. Litsi hatte ihr nach Nanterres Anruf und vor meiner Rückkehr aus Devon vorsorglich erklärt, das Vertragsformular sei nicht da.

«Wo ist es geblieben?«hatte sie wissen wollen.

«Meine liebe Beatrice«, hatte Litsi verbindlich geantwortet,»ich habe keine Ahnung. Die Mappe des Notars liegt noch in der Halle, aber sie enthält kein einziges Schriftstück.«

Und nachdem er mir diesen Dialog geschildert hatte, vor dem Zubettgehen am Abend, hatte ich ihm das einzige Schriftstück zur Aufbewahrung hinuntergebracht.

Beatrice fuhr mit der Prinzessin im Rolls nach Ascot; Danielle und Litsi kamen mit mir.

Danielle saß in sich gekehrt auf dem Rücksitz. Als ich sie in der Nacht abgeholt hatte, war sie still gewesen, hatte hin und wieder bei den Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, gezittert, obgleich es warm im Auto war. Ich hatte ihr von Nanterres Anruf erzählt und auch von der Vereinbarung ihres Onkels mit Litsi und mir, und obwohl ihre Augen vor Kummer riesengroß wurden, hatte sie nur gesagt:»Bitte sei vorsichtig. Alle beide… seid vorsichtig.«

In Ascot sah ich mit purer Eifersucht zu, wie Litsi sie zum Lunch der Prinzessin entführte, während ich sozusagen den Weg ins Büro antrat.

Ich hatte vier Rennen zu bestreiten: eines für die Prinzessin, noch zwei andere für Wykeham und eines für einen Trainer aus Lambourn. Dusty war schlechter Laune,

Maynard Allardeck war erneut als Steward aufgetaucht, und der Baum meines Lieblingssattels, teilte mir mein Jockeydiener mit, war entzweigegangen. Außerdem war es bitter kalt, und obendrein hatte ich wieder ein Pfund zugenommen, wahrscheinlich durch das Eisenbahnsandwich.

Wykehams erster Starter war ein vierjähriger, ehemaliger Flachrenner, der seine erste Erfahrung über die Hürden machen sollte. Ich hatte ihn bei Wykeham zwar einige Male an den Trainingssprüngen geschult, aber Mut hatte ich ihm nicht beizubringen vermocht. Er ließ mich den ganzen Kurs über wissen, wie verhaßt es ihm war, und hinterher mußte ich scharf überlegen, was ich seinen Besitzern wohl Ermutigendes sagen könnte. Ein Pferd, das nicht gern Rennen lief, war Zeit-, Geld- und Gefühlsverschwendung; am besten verkaufte man es schnell und versuchte es mit einem andern. Ich drückte mich so taktvoll wie möglich aus, aber die Besitzer schüttelten skeptisch die Köpfe und sagten, sie würden Wykeham fragen.

Der zweite von Wykehams Rennern landete ebenfalls unter» ferner liefen«, nicht aus mangelnder Bereitschaft, denn er war gutmütig und sicher auf den Beinen, aber nicht annähernd schnell genug gegen die Konkurrenz.

Ich ging mit sehr gedämpfter Lebensfreude hinaus zum Rennen der Prinzessin, ein Gefühl, von dem ich auch nicht kuriert wurde, als ich Danielle lachend an Litsis Arm in den Führring kommen sah.

Die Prinzessin, die als erste im Ring eingetroffen war, nachdem sie beim Satteln ihres Pferdes zugesehen hatte, folgte meinem Blick und klopfte mir leicht auf den Arm.

«Sie ist durcheinander«, sagte sie leise.»Geben Sie ihr Zeit.«

Ich schaute in die blauen Augen der Prinzessin, und wie gewöhnlich waren sie halb verborgen hinter unnahbaren Wimpern. Sie mußte sehr stark empfunden haben, daß ich Rat brauchte, sonst hätte sie ihn nicht erteilt.

Mein Kinn entspannte sich. Ich sagte:»In Ordnung«, und sie nickte kurz, bevor sie sich umdrehte, um die anderen zu begrüßen.

«Wo ist Beatrice?«Sie hielt vergeblich Ausschau.»Ist sie nicht mit runtergekommen?«

«Sie sagte, es sei zu kalt. Sie ist in der Loge geblieben«, antwortete Litsi und fügte an mich gewandt hinzu:»Legen wir eine Wette an?«

Col, der Renner der Prinzessin, stolzierte in seiner marineblauen, goldverzierten Decke umher und sah gelangweilt drein. Er war ein Pferd von begrenzter Begeisterungsfähigkeit, nicht einfach zu reiten. Wenn er zu früh das Feld anführte, verlor er das Interesse und blieb stehen; zog man den Spurt jedoch zu spät an und wurde geschlagen, stand man wie ein Narr da.

«Setzen Sie nicht auf ihn«, sagte ich. Es war so ein Tag.

«Ja, setzt auf ihn«, sagte die Prinzessin gleichzeitig.

«Furchtbar hilfreich«, bemerkte Litsi amüsiert.

Col war ein Rotfuchs mit einer langen Blesse auf der Nase und drei weißen Socken. Wie die meisten Pferde, mit denen Wykeham besonders in Cheltenham zu siegen hoffte, würde Col seine absolute Hochform wahrscheinlich erst zum National Hunt Festival in zwei Wochen erreichen, aber für Ascot, eine nicht ganz so heikle Bahn, mußte er eigentlich bereit sein.

In Cheltenham war er für den Gold Cup gemeldet, den Hauptwettbewerb des Tages, und wenn er auch kein heißer Tip war wie zuletzt Cotopaxi für das Grand National, hatte er doch eine reelle Chance, sich zu plazieren.

«Tun Sie Ihr Bestes«, sagte die Prinzessin wie so oft, und ich sagte wie üblich ja, Dusty half mir in den Sattel, und ich ritt Col im Handgalopp an den Start und versuchte etwas Lebenskraft für uns beide zu mobilisieren. Ein trübsinniger Jockey auf einem gelangweilten Pferd kann genausogut gleich wieder in den Stall gehen.

Bis wir starteten, machte ich ihm und auch mir selber klar, daß wir da draußen waren, um etwas zu leisten, und ein wenig Stolz dareinsetzen sollten; und am dritten von den zweiundzwanzig Hindernissen begann sich etwas in uns zu rühren, das aussah, als wäre nach der Ebbe eine Flut möglich.

Die große Kunst des Hindernisreitens besteht darin, ein Pferd so an den Sprung heranzuführen, daß es ohne langsamer zu werden drübergehen kann. Col gehörte zu der relativ seltenen Sorte, die Entfernungen selbständig einschätzen konnte, so daß sein Reiter sich allein um die Taktik zu sorgen brauchte, aber er forcierte nur, wenn man darauf bestand, und hatte keinen persönlichen Ehrgeiz.

Ich hatte ihn oft geritten, oft auf ihm gesiegt, daher kannte ich seine Bedürfnisse und wußte, daß ich zum Schluß mit aller Macht, allem Einsatz würde nach vorn gehen müssen, um vielleicht seine phlegmatische Seele noch aufzuwecken.

Von der Tribüne her wird alles ganz gut ausgesehen haben. Für meine Begriffe war Cols Gang zwar schwerfällig, aber doch beachtlich schnell. Wir lagen während des größten Teils der drei Meilen an vierter oder fünfter Stelle und kamen im Schlußbogen an die dritte, als zwei von den anfangs Führenden ermüdeten.

Drei Hindernisse waren noch zu nehmen, danach die zweihundertvierzig Meter lange Zielgerade. Eins der Pferde vor uns war noch berstend voll von Renngeist — sein

Tempo mußte Col übertreffen. Der Jockey auf dem andern hatte schon die Peitsche oben und spürte zweifellos die ersten bösen Anzeichen, daß seinem Boiler der Dampf ausging. Ich verhielt Col ganz leicht, um ihn vor dem ersten der drei Hindernisse in der Geraden an dritter Position zu halten. Er übersprang es glatt, war auch voll bei der Sache, als wir das nächste nahmen und passierte den peitschenschwingenden Jockey, bevor wir das letzte erreichten.

Zuviel Licht, dachte ich. Er hatte es am liebsten, wenn am letzten Hindernis noch zwei, drei andere dicht vor ihm lagen. Er übersprang das letzte allerdings mit einem Riesensatz, und es war wider Erwarten kein Problem, den Siegeswillen in ihm anzuheizen und ihm zu sagen, daß es jetzt… jetzt darauf ankam.

Col setzte den vorderen Fuß auf, und der Fuß knickte ein und gab unter ihm nach. Seine Nase schlug ins Gras. Die Zügel glitten mir der Länge nach durch die Finger, und ich legte mich zurück und klammerte mich wie wild mit den Beinen fest, um nicht abgeworfen zu werden. Durch ein Wunder an Geschmeidigkeit traf sein zweites Vorderbein fest auf den Boden, und mit dem ganzen Gewicht seiner zehn Zentner auf dieser schlanken Fessel stieß Col sich hoch und rannte weiter.

Ich nahm die Zügel auf. Das Rennen war wohl verloren, aber das Feuer, das so spät gezündet hatte, war nicht ohne weiteres zu löschen. Komm jetzt, du Untier, sagte ich zu ihm; jetzt gilt’s, da ist noch einer vor dir, lauf zu, jetzt zeig mir, zeig allen hier, daß du es schaffst, daß du es trotzdem noch schaffst.

Als verstünde er jedes Wort, streckte er den Kopf vor und trat den kurzen, erstaunlichen Endspurt an, mit dem er früher schon in letzter Sekunde scheinbar unmögliche Siege herausgeholt hatte.

Wir schafften es auch diesmal beinah, um ein Haar. Col fraß die Längen, die er zurückgefallen war, und ich ritt ihn fast so hart wie Cascade, aber ohne den Zorn, und wir kamen an die Hinterhand des anderen Pferdes, an den Sattel, an den Hals… und der Zielpfosten blitzte drei Schritte zu früh vorbei.

Die Prinzessin hatte gesagt, sie werde zum Absatteln nur hinunterkommen, wenn wir siegten, da es von ihrer Loge aus sehr weit sei.

Dafür war Maynard zur Stelle. Er starrte mich böse an, als ich absaß, seine Augen waren dunkel und sein Gesicht steif vor Haß. Warum er in meine Nähe kam, begriff ich nicht. Wenn ich jemanden derart gehaßt hätte, wäre ich ihm möglichst aus dem Weg gegangen; und ich verabscheute Maynard dafür, daß er versucht hatte, Bobby, seinen eigenen Sohn, durch Gehirnwäsche in den Mord zu treiben.

Dusty breitete mit einstudiertem Verzicht auf jeden Kommentar zum Rennergebnis die Decke über Cols bebende Flanken, und ich ließ mich zurückwiegen, während die anhaltende Unzufriedenheit des Nachmittags mich umschwebte wie eine Wolke.

Ich bestritt das nächste Rennen für den Trainer aus Lam-bourn und wurde ziemlich abgeschlagen Dritter, und mit dem Gefühl, rein nichts erreicht zu haben, zog ich Straßenkleidung an; für heute war ich fertig.

Auf dem Weg vom Waageraum zur Loge der Prinzessin sagte eine Stimme hinter mir:»He, Kit«, und als ich mich umdrehte, sah ich Basil Clutter im Eilschritt herankommen.

«Suchen Sie immer noch Henri Nanterre?«sagte er, als er mich einholte.

«Ja. «Ich hielt an und er ebenso, obwohl er dabei fast auf der Stelle lief, denn Stillstehen war nichts für ihn.

«Die Roquevilles sind heute hier, sie hatten ein Pferd im ersten Rennen. Und es ist eine Frau bei ihnen, die Henri Nanterre ziemlich gut kennt. Deshalb meinten sie, falls Sie noch interessiert seien, würden Sie sie vielleicht gern kennenlernen.«

«Ja, allerdings.«

Er sah auf seine Uhr.»Ich soll gleich in der Besitzerund-Trainer-Bar ein Glas mit ihnen trinken, also kommen Sie mal mit.«

Ich folgte ihm in die Bar und lernte, bewaffnet mit Per-rierwasser statt dem beliebten Portwein, die Bekannte der Roquevilles kennen: eine kleine, französisch wirkende Person mit einem mädchenhaften Chic, der ihre Jugend überdauert hatte. Das elfenzarte Gesicht hatte Falten, das kurzgeschnittene schwarze Haar war an den Wurzeln angegraut, und sie trug hochhackige schwarze Stiefel, einen Hosenanzug aus glattem, schwarzem Leder und einen nach Cowboyart im Genick verknoteten Seidenschal.

Ihre Sprache war überraschenderweise einfaches, derbes Rennbahnenglisch, und sie wurde mir vorgestellt als Madame Madeleine Darcy, die englische Frau eines französischen Trainers.

«Henri Nanterre?«sagte sie mit Widerwillen.»Klar kenne ich den Mistkerl. Wir haben seine Pferde trainiert, bis er sie über Nacht weggeholt und zu Villon geschickt hat.«

Загрузка...