Cascade lag quer ausgestreckt in der Box, sein Kopf im Schatten, aber nicht weit von der Tür. Robin Curtiss trat auf die Torfstreu, bückte sich und hob das schwarze Stirnhaar an, das zwischen den Ohren des Pferdes nach vorn fiel.
«Man kann es nicht deutlich sehen, Madam, weil er so dunkel ist, aber an dieser Stelle, direkt unter der Stirnlok-ke, ist der Bolzen eingedrungen. «Er richtete sich auf, wischte seine Finger an einem Taschentuch.»Unauffällig«, sagte er.»Man entdeckt nur, was passiert ist, wenn man danach sucht.«
Die Prinzessin wandte sich mit tränenglitzernden Augen, aber ruhigem Gesicht von ihrem toten Pferd ab. Sie blieb einen Moment an der Tür der angrenzenden Box stehen, wo Cotopaxis Hinterhand am nächsten lag, sein Kopf praktisch außer Sicht, nahe der Krippe.
«Bei ihm das gleiche«, sagte Robin Curtiss.»Unter der Stirnlocke, fast unsichtbar. Es war gekonnt, Madam. Sie haben nicht gelitten.«
Sie nickte, legte dann schluckend, unfähig zu sprechen, eine Hand auf Wykehams Arm und winkte mit der anderen nach dem Hofeingang und dem Haus. Robin Curtiss und ich sahen zu, wie sie fortgingen, und er seufzte mitfühlend.
«Die arme Frau. Es ist immer ein schwerer Schlag.«
«Man hat sie umgebracht«, sagte ich.»Das macht es schlimmer.«
«Klar, die sind umgebracht worden. Wykeham hat die Polizei verständigt, obwohl ich ihm sagte, das sei nicht unbedingt notwendig. Die Rechtslage ist im Hinblick auf das Töten von Tieren sehr unklar. Aber weil sie Prinzessin Casilias Eigentum waren, hielt er es wohl für das beste. Und was ihm auf den Nägeln brennt, er will möglichst bald die Kadaver wegschaffen, aber wir wissen nicht, wie es mit der Versicherung steht. ob sie in so einem Fall erst benachrichtigt werden muß… und es ist doch Sonntag. «Er rief sich zur Ordnung und sagte zusammenhängender:»Solche Wunden sieht man nur noch selten.«
«Wie meinen Sie das?«fragte ich.
«Unverlierbare Geschosse sind ein alter Hut. Sie werden kaum noch benutzt.«
«Unverlierbare Geschosse?«
«Der Bolzen. >Unverlierbar<, weil er nicht aus dem Apparat herausfliegt, sondern wieder zurückschnellt. Das wissen Sie doch wohl?«
«Ja. Ich meine, ich weiß, daß der Bolzen zurückspringt. Ich habe vor Jahren mal einen aus der Nähe gesehen. Ich wußte nicht, daß sie veraltet sind. Was nimmt man denn jetzt?«
«Sie müssen doch schon mal gesehen haben, wie ein Pferd getötet wird«, sagte er erstaunt.»Es kommt ja auf der Rennbahn schließlich vor, daß ein Galopper sich ein Bein bricht.«
«Ich habe das nur zweimal erlebt«, sagte ich.»Und beide Male habe ich meinen Sattel abgenommen und bin weggegangen.«
Ich merkte, wie ich darüber nachdachte, es zu erklären versuchte.»Gerade noch ist man der Partner dieses großen Geschöpfes gewesen, und vielleicht hat man es gern, und im nächsten Moment soll es sterben… Da wollte ich eben nicht dabeistehen und zuschauen. Es erscheint Ihnen vielleicht seltsam, zumal ich ja in einem Rennstall aufgewachsen bin, aber ich habe noch nie mitangesehen, wie der Bolzenschußapparat an den Kopf gesetzt wird, und ich hatte mir irgendwie vorgestellt, daß man von der Seite schießt, quasi durch die Schläfe.«
«Tja«, sagte er, immer noch überrascht und ein wenig belustigt,»dann können Sie noch was lernen. Gerade Sie. Schauen Sie her«, sagte er,»schauen Sie auf Cotopaxis Kopf. «Er stieg vorsichtig über die steifen braunen Beine hinweg, bis er mir das Gewünschte zeigen konnte. Cotopaxis Augen waren halb offen und trüb, und mochte Robin Curtiss auch völlig unberührt sein, für mich war die Szene längst nichts Alltägliches.
«Ein Pferdehirn ist nur so groß wie eine Faust«, sagte er.»Ich nehme an, das wissen Sie?«
«Ja, ich weiß, daß es klein ist.«
Er nickte.»Der größte Teil des Pferdeschädels ist leer, lauter Nebenhöhlen. Das Gehirn sitzt oben zwischen den Ohren, über dem Genick. Der Knochen ist in diesem Bereich ziemlich massiv. Nur an der einen Stelle können Sie sicher sein, daß der Bolzen seine Aufgabe erfüllt. «Er hob Cotopaxis Stirnlocke an und wies auf eine kleine Verfilzung in dem hellen Haar.»Man denkt sich eine Linie vom rechten Ohr zum linken Auge«, sagte er,»und eine Linie vom linken Ohr zum rechten Auge. Wo sich die Linien schneiden, ist der beste… mehr oder minder der einzige Zielpunkt. Und sehen Sie? An genau der Stelle ist der Bolzen bei Cotopaxi eingedrungen. Das war nicht irgendein Zufallstreffer. Wer das getan hat, der kennt sich aus.«
«Nun«, meinte ich nachdenklich,»nachdem Sie’s mir gesagt haben, wüßte ich auch, wie es geht.«
«Ja, aber wohlgemerkt, es kommt auf die Stelle ebenso wie auf den Winkel an. Man muß direkt auf den Punkt zielen, wo Rückgrat und Hirn zusammentreffen. Dann tritt die Wirkung sofort ein, und wie Sie sehen können, fließt kein Blut.«
«Und das Pferd steht einfach still«, fragte ich ironisch,»während es das alles über sich ergehen läßt?«
«Die meisten ja, seltsamerweise. Ich habe mir aber sagen lassen, daß es für kleinere Leute trotzdem schwierig ist, die Hand im richtigen Winkel in die richtige Höhe zu bringen.«
«Ja, bestimmt«, sagte ich. Ich schaute auf den erloschenen, großartigen Kampfgeist hinunter. Ich hatte auf diesem Rücken gesessen, mich in diesen Verstand hineinversetzt, die geschmeidige Herrlichkeit dieser Muskeln gespürt, mich an seinen Siegen gefreut, ihn als Junghengst ausgebildet, mich an seinen wachsenden Kräften begeistert. Ich würde immer noch weggehen, dachte ich, auch beim nächsten Mal.
Ich kehrte an die frische Luft zurück, und Robin Curtiss folgte mir, wobei er meine Belehrung sachlich und nüchtern fortsetzte.
«Abgesehen von der Schwierigkeit, den richtigen Punkt zu treffen, hat der Bolzen noch einen weiteren Nachteil. Er schnellt zwar sofort zurück, aber genauso schnell beginnt das Pferd zu stürzen, und die harten Schädelknochen verbiegen den Bolzen nach häufigem Gebrauch, so daß der Apparat untauglich wird.«
«Man benutzt also jetzt etwas anderes?«
«Ja«, nickte er.»Patronenmunition. Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen. Ich habe so eine Pistole im Wagen.«
Wir gingen ohne Eile über den Hof zu seinem Auto; er stand nicht weit von dem Rolls der Prinzessin. Er schloß den Kofferraum auf, dann einen Aktenkoffer und holte ein braunes Tuch daraus hervor, das er aufwickelte.
In dem Tuch lag eine lugerähnliche Automatikpistole, die bis auf den Lauf normal aussah. Statt des schmalen, geraden Laufs, den man erwartet hätte, war da ein breites, knollenförmiges Ding mit einer abgeschrägten Öffnung am Ende.
«Dieses Rohr läßt die Kugel in einer Spiralkurve austreten«, erklärte er.
«Irgendeine Kugel?«
«Es muß das richtige Kaliber sein, aber dann paßt jede Kugel, ja, und jeder Waffentyp. Das ist mit ein Hauptvorteil — Sie können so ein Rohr an jede beliebige Pistole anschweißen. Also, die abgefeuerte Kugel hat zunächst hohe Durchschlagskraft, aber weil sie Spiralen dreht, hält fast jeder Widerstand sie auf. Wenn man damit also ein Pferd erschießt, bleibt die Kugel im Kopf stecken. Meistens, immerhin. «Er lächelte vergnügt.»Jedenfalls braucht man nicht so genau zu zielen wie mit einem Bolzen, denn die schwirrende Kugel richtet viel mehr Schaden an.«
Ich betrachtete ihn nachdenklich.»Wie können Sie so sicher sein, daß die beiden hier mit dem Bolzen getötet wurden?«
«Oh, eine Kugel hinterläßt Blutspuren an der Einschußstelle; außerdem tritt dabei Blut durch die Nüstern aus und wahrscheinlich auch aus dem Maul. Manchmal nicht viel, aber etwas immer, wegen der ausgedehnten inneren Verletzungen, verstehen Sie?«
«Ja«, seufzte ich.»Ich verstehe. «Ich sah zu, wie er seine Pistole in das braune Tuch einschlug, und sagte:»Wahrscheinlich braucht man dafür einen Waffenschein.«»Klar. Und für den Bolzen auch.«
Es mußten Tausende von Bolzenschußgeräten im Land sein, überlegte ich. Jeder Tierarzt würde eines haben. Jeder Abdecker. Eine Menge Schaf- und Rinderzüchter. Alle Aufseher von Jagdhunden. Leute, die Polizeipferde betreuten. die Möglichkeiten schienen endlos.
«Dann liegen wohl Hunderte von den alten Bolzenschießern jetzt irgendwo in der Mottenkiste?«
«Nun ja«, sagte er.»Unter Verschluß.«
«Nicht gestern nacht.«
«Nein.«
«Um welche Zeit gestern nacht, was meinen Sie?«
Er packte seine Pistole wieder weg.
«Ziemlich früh«, sagte er entschieden.»Nicht lange nach Mitternacht. Ich weiß, daß es eine kalte Nacht war, aber heute morgen waren beide Pferde völlig ausgekühlt. Null Eigentemperatur. Das braucht Stunden… und sie wurden um halb sechs entdeckt. «Er grinste.»Die Abdecker holen nicht gern Pferde ab, die schon so lange tot sind. In der Starre lassen sie sich schlecht bewegen, und sie dann aus den Boxen herauszukriegen ist ein echtes Problem. «Er schälte sich aus seinem Overall und legte ihn in den Kofferraum.»Es wird noch eine Obduktion geben. Die Versicherungen bestehen darauf. «Er schloß den Kofferraum und sperrte ihn ab.»Gehen wir doch ins Haus.«
«Und lassen sie da einfach liegen?«Ich deutete auf den Hof zurück.
«Die laufen schon nicht weg«, sagte er, aber wir kehrten noch einmal um und schlossen die Boxentüren — für den Fall, meinte er, daß irgendwelche Besitzer zu einer sonntäglichen Besichtigung vorbeikämen und ihr Zartgefühl beleidigt sähen. Robins Zartgefühl war in der ersten Woche seiner Veterinärausbildung unzart über Bord gegangen, nahm ich an, aber er brauchte keine Samthandschuhe, um ein überaus tüchtiger Betreuer für Wykehams Hindernispferde zu sein.
Wir gingen in Wykehams Haus, alt und verschachtelt wie der Hof, und sahen, daß er und die Prinzessin sich mit Tee und Erinnerungen trösteten; sie in ihrem stoischsten Gleichmut, er inzwischen freundlicher und selbstbeherrschter, aber verwirrt.
Er stand bei unserem Erscheinen auf und bugsierte mich mit der fadenscheinigen Bemerkung aus seinem Wohnzimmer, mir zeigen zu wollen, wo ich etwas Warmes zu trinken machen konnte, obwohl ich das seit zehn Jahren wußte.
«Es ist mir ein Rätsel«, sagte er auf dem Weg zur Küche.»Warum fragt sie nicht, wer sie getötet hat? Das wäre doch das erste, was mich interessiert. Sie hat darüber kein Wort verloren. Redet einfach über die Rennen, wie man das bei ihr kennt, und erkundigt sich nach den anderen Pferden. Warum will sie nicht wissen, wer sie umgebracht hat?«
«Mm«, sagte ich.»Sie glaubt, sie weiß es schon.«
«Was? Um Himmels willen, Kit. wer denn?«
Ich zögerte. Er sah dünn und klapprig aus, mit tief eingegrabenen Furchen in dem runzligen Gesicht, auf dem die dunklen Altersflecke stark hervortraten.»Das müßte sie Ihnen selber sagen«, antwortete ich,»aber es hat etwas mit der Firma ihres Mannes zu tun. Immerhin glaube ich nicht, daß Sie sich Gedanken über einen Verräter im eigenen Lager zu machen brauchen. Wenn sie Ihnen nicht gesagt hat, wen sie für den Täter hält, wird sie es keinem sagen, bevor sie mit ihrem Mann darüber gesprochen hat, und vielleicht bewahren sie auch danach lieber Stillschweigen, sie haben so ungern Publicity.«
«An die Öffentlichkeit kommt das sowieso«, meinte er bekümmert.»Der Mitfavorit für das Grand National in seiner Box erschossen… Das können wir beim besten Willen nicht aus den Zeitungen heraushalten.«
Mir lag an dem bevorstehenden Theater ebensowenig wie ihm, und ich klapperte mit dem Geschirr herum, während ich frischen Tee für Robin und mich aufschüttete.
«Trotzdem«, sagte ich.»Ihre Hauptsorge ist nicht, wer es war. Ihre Hauptsorge ist der Schutz der anderen Tiere.«
«Kit!«Er war völlig entgeistert.»V-verdammt noch mal, K-Kit. «Jetzt stotterte er wieder.»Das w-wird doch nicht nochmal passieren.«
«Nun ja«, sagte ich mild, aber zu beschönigen gab es da nichts.»Ich denke, sie sind alle in Gefahr. Jedes ihrer Pferde. Nicht im Augenblick, nicht heute. Aber wenn die Prinzessin und ihr Mann einen bestimmten Kurs einschlagen, was durchaus sein kann, dann sind sie alle in Gefahr, in erster Linie vielleicht Kinley. Wir sollten also über Schutzmaßnahmen nachdenken.«
«Aber Kit.«
«Hundepatrouillen«, sagte ich.
«Die sind teuer.«
«Die Prinzessin«, bemerkte ich,»ist reich. Fragen Sie sie. Wenn sie die Kosten scheuen sollte, bezahle ich es selbst. «Wykeham öffnete den Mund und schloß ihn wieder, als ich hervorhob:»Mir ist gerade meine bisher beste Chance, das Grand National zu gewinnen, genommen worden. Ihre Pferde bedeuten mir fast soviel, wie sie ihr und wie sie Ihnen bedeuten, und ich lasse verdammt noch mal nicht zu, daß irgend jemand sie paarweise abknallt. Also schaffen Sie bis heute abend die Wachleute her und sorgen Sie dafür, daß von jetzt an durchgehend jemand in den Ställen ist, daß die Höfe Tag und Nacht patrouilliert werden.«
«In Ordnung«, sagte er langsam.»Ich regle das… Wenn ich wüßte, wer sie umgebracht hat, würde ich ihn selbst umbringen.«
Es klang merkwürdig, ganz ohne Zorn hingesagt, mehr wie eine unerwartete Selbsterkenntnis. Was ich mir in der Wut gewünscht hatte, tun zu können, schlug er als gangbaren Weg vor; aber man sagt solche Sachen, man meint sie nicht ernst. Und körperlich, dachte ich bedauernd, hätte er nicht die geringste Chance gegen den falkenartigen Nanterre.
Wykeham war in seiner Jugend ein Herkules gewesen, ein Kraftwerk auf Beinen, dem die Lebensfreude durch die Adern pulste.»Freude am Leben«, hatte er mir mehr als einmal gesagt,»das ist es, was ich habe. Was Sie haben. Ohne die kommt man zu nichts. Genieße den Kampf, heißt die Losung.«
Er war ein bekannter Amateurjockey gewesen, und er hatte die Tochter eines mäßig erfolgreichen Trainers be-zirzt und geheiratet, dessen Pferde an dem Tag, als Wykeham auf den Hof marschierte, zu siegen anfingen. Jetzt, fünfzig Jahre später, war seine Kraft dahin, seine Frau war tot, und die eigenen Töchter waren Großmütter. Behalten hatte er nur die unschätzbare Fähigkeit, seinen Pferden die Lebensfreude einzugeben. Er dachte an wenig mehr als an seine Pferde, kümmerte sich um kaum etwas anderes, unterhielt sich bei der Stallkontrolle mit jedem wie mit einer Person, spielte mit den einen, ermahnte die anderen, redete manchen gut zu und überging nicht eines.
Ich ritt für ihn, seit ich neunzehn war, eine Tatsache, die er gern selbstzufrieden herausstrich.»Man muß sie entdecken, wenn sie jung sind«, hatte er schon etlichen Besitzern erklärt.»Darauf kommt es an. Das kann ich gut. «Und wenn ich darüber nachdachte, hatte er mir beständig genau das gleiche gegeben, was er seinen Tieren gab: Gelegenheit, Zuversicht, Erfüllung in der Arbeit.
Er hatte zweimal einen Grand National-Sieger trainiert, als ich noch zur Schule ging, und in meiner Zeit war er dem recht nahe gekommen, aber erst vor kurzem hatte ich erkannt, wie sehr er sich nach einem dritten Lorbeerkranz sehnte. Das tote Pferd draußen war für uns alle eine widerliche, bittere, lähmende Enttäuschung.
«Cotopaxi«, sagte er heftig, ausnahmsweise mit dem richtigen Namen,»war derjenige, den ich bei einem Brand als ersten gerettet hätte.«
Die Prinzessin und ich fuhren nach London zurück, ohne auf die Polizei, die Versicherer oder die Abdecker zu warten. (»So gräßlich, das alles.«)
Ich hatte erwartet, daß sie wie sonst hauptsächlich über ihre Pferde sprechen würde, aber offenbar ging ihr Wykeham im Kopf herum.
«Vor fünfunddreißig Jahren, als Sie noch nicht geboren waren«, sagte sie,»und als ich anfing, zum Pferderennen zu gehen, stolzierte Wykeham über die Bildfläche wie ein steinerner Koloß. Er war beinah alles, was er von sich behauptet, wahrhaft ein Herkules. Stark, erfolgreich, ungeheuer attraktiv… Die Hälfte von den Frauen fiel in Ohnmacht wegen ihm, die Männer geiferten…«Sie lächelte bei dieser Erinnerung.»Sie können sich das wahrscheinlich schwer vorstellen, Kit, weil Sie ihn nur jetzt im Alter kennen, aber er war ein wunderbarer Mann… natürlich ist er das immer noch. Ich fühlte mich geehrt, als er sich damals bereit erklärte, meine Pferde zu trainieren.«
Ich blickte fasziniert in ihr friedliches Gesicht. Früher hatte ich sie oft mit Wykeham beim Pferderennen gesehen, wo sie sich immer seinem Urteil unterwarf, ihm spielerisch auf den Arm klopfte. Mir war nicht klargewesen, wie sehr er ihr fehlen mußte, seitdem er zu Hause blieb, wie nahe ihr der Verfall eines solchen Titanen gehen mußte.
Als Zeitgenosse meines Großvaters (und des Vaters von Maynard Allardeck) war Wykeham für mich bereits eine Legende gewesen, als er mir die Stelle angeboten hatte. Ich hatte ja gesagt, als wäre es ein Traum, und war rasch erwachsen geworden, reif mit zwanzig durch die Anforderungen und die Verantwortung, die er mir auflud. Immerzu Pferde im Wert von vielen hunderttausend Pfund in meinen Händen, den Erfolg des Stalls auf meinen Schultern. Er hatte mir keine Zugeständnisse wegen meiner Jugend gemacht, sondern mir von Anfang an in aller Deutlichkeit gesagt, daß das ganze Unternehmen letztlich von dem Können, dem kühlen Kopf und der Vernunft seines Jok-keys abhing, und wenn ich den Erfordernissen nicht gerecht würde, sei das zwar schade, aber dann adieu.
Tief erschüttert hatte ich die gebotene Chance ergriffen, rückhaltlos, denn so eine gab es nicht zweimal im Leben; und im großen ganzen war auch alles gutgegangen.
Die Gedanken der Prinzessin wanderten in die gleiche Richtung wie meine.»Als Paul Peck seinen furchtbaren Sturz hatte und sich zum Rücktritt entschloß«, sagte sie,»standen wir auf dem Höhepunkt der Saison ohne Stalljockey da, und alle anderen Toprennreiter waren sonstwo unter Vertrag. Wykeham sagte mir und den anderen Besitzern, da wäre dieser junge Fielding in Newmarket, der seit seinem Schulabschluß vor einem Jahr als Amateur reite…«Sie lächelte.»Wir waren skeptisch. Wykeham sagte, vertraut mir, ich irre mich nie. Sie wissen ja, wie bescheiden er ist!«Sie zögerte nachdenklich.»Wie lange ist das jetzt her?«
«Im Oktober waren es zehn Jahre.«
Sie seufzte.»Die Zeit vergeht so schnell.«
Je älter man wird, desto schneller. auch für mich selbst. Es war kein endloser Horizont mehr. Mir blieben vielleicht noch vier oder fünf Jahre im Sattel, je nachdem, wann mein Körper aufhörte, sich rasch von den Stürzen zu erholen, und dabei war ich noch längst nicht bereit, mich mit dem unerbittlichen Verrinnen der Tage abzufinden. Ich hing an meiner Arbeit und fürchtete den Schlußstrich: Alles, was danach kam, mußte unsagbar öde sein.
Die Prinzessin schwieg eine Zeitlang, ihre Gedanken kehrten zu Cascade und Cotopaxi zurück.
«Dieser Schießbolzen«, sagte sie zögernd,»ich wollte Robin nicht danach fragen… Ich weiß eigentlich nicht, wie ein Bolzenschußapparat aussieht.«
«Robin meint, die Apparate werden nicht mehr oft benutzt«, sagte ich,»aber ich habe mal einen gesehen. Der Tierarzt meines Großvaters zeigte ihn mir. Das Ganze sah aus wie eine besonders schwere Pistole mit sehr dickem Lauf. Der Bolzen selbst ist ein im Lauf steckender Metallstab. Beim Abdrücken schießt der Metallstab heraus, aber da er innen an einer Feder befestigt ist, schnellt er sofort wieder in den Lauf zurück. «Ich überlegte.»Der Stab… der Bolzen… ist etwas dicker als ein Bleistift und dringt auf eine Länge von etwa zehn Zentimetern in. ehm, in das Ziel.«
Sie war überrascht.»So klein? Also, ich dachte irgendwie, der müßte viel größer sein. Und bis heute wußte ich auch nicht, daß er… von vorn kommt.«
Sie hörte abrupt auf zu sprechen und konzentrierte sich längere Zeit auf die Landschaft draußen. Sie hatte den Hundepatrouillen vorbehaltlos zugestimmt und Wykeham aufgefordert, nicht zu sparen; die Verletzbarkeit ihrer Pferde war allzu offenkundig.
«Ich hatte mich so auf das Grand National gefreut«, sagte sie schließlich.»So sehr gefreut.«
«Ja, ich weiß. Mir ging es genauso.«
«Sie werden aber doch reiten. Für jemand anderen.«
«Das ist nicht dasselbe.«
Sie tätschelte eher blind meine Hand.»Es ist solch ein Irrsinn«, sagte sie leidenschaftlich.»So töricht. Mein Mann würde niemals mit Waffen handeln, um meine Pferde zu retten. Niemals. Und ich würde das nicht verlangen. Meine armen, lieben Pferde.«
Sie rang mit den Tränen und gewann den Kampf nach einigem Schnüffeln und Schlucken, und als wir den Eaton Square erreichten, fand sie, wir sollten auf ein Glas ins Wohnzimmer gehen,»um uns aufzumuntern.«
Diese gute Idee wurde jedoch abgewandelt, weil das Wohnzimmer nicht leer war. Zwei Leute standen von ihren Sesseln auf, als die Prinzessin eintrat, und es waren Prinz Litsi und Danielle.
«Meine liebe Tante«, sagte der Prinz. Er verneigte sich vor ihr, küßte ihre Hand und küßte sie auf beide Wangen.»Guten Morgen.«
«Guten Morgen«, erwiderte sie leise und gab Danielle einen Kuß.»Ich dachte, ihr kämt erst heute abend spät zurück.«
«Das Wetter war schauderhaft. «Der Prinz gab mir die Hand.»Regen, Nebel, Eiseskälte. Gestern abend beschlossen wir, daß es uns reicht, und sind heute morgen vor dem Frühstück weg.«
Ich küßte Danielles glatte Wange, dabei wollte ich doch viel mehr. Sie sah mir kurz in die Augen und sagte, Dawson habe ihnen mitgeteilt, daß ich zur Zeit im Haus wohne. Ich hatte sie drei Wochen nicht gesehen und wollte nichts von Dawson hören. In der Umgebung der Prinzessin hielt man nackte Gefühle jedoch unter Verschluß, und ich hörte mich fragen, ob ihr die Vorträge gefallen hätten; als ob ich das hoffte.
«Sie waren großartig.«
Die Prinzessin entschied, daß Prinz Litsi, Danielle und ich uns ein Glas gönnen sollten, während sie hinauf zu ihrem Mann ging.
«Du schenkst ein«, sagte sie ihrem Neffen.»Und Sie, Kit, erzählen ihnen alles, was passiert ist, ja? Meine Lieben… so scheußliche Sachen. «Sie winkte unbestimmt mit der Hand und ging, ihr Rücken straff und schmal, an sich schon eine Aussage.
«Kit«, sagte der Prinz, jetzt zu mir gewandt.
«Sir.«
Wir standen da, als ob wir uns gegenseitig abschätzten. Er war größer, zehn Jahre älter als ich, mehr in der Welt herumgekommen. Ein stattlicher Mann, Prinz Litsi, mit massigen Schultern, großem Kopf, vollem Mund, klar geformter Nase und hellen, intelligenten Augen. Das dunkelblonde Haar lichtete sich deutlich über der Stirn, und der kräftige Hals ragte aus einem cremefarbenen Hemd mit offenem Kragen. Er sah so eindrucksvoll aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Vor einem Jahr oder noch länger waren wir uns zuletzt begegnet.
Von seiner Warte aus sah er wahrscheinlich einen braunen Lockenkopf, hellbraune Augen und eine durch das vorgeschriebene Gewicht für Rennpferde aufgezwungene Magerkeit. Vielleicht sah er auch den Mann, dessen Verlobte er zu erlesenen Genüssen fortgelockt hatte, aber um gerecht zu sein, es lag nichts von Triumph oder Belustigung in seinem Gesicht.
«Ich würde gern was trinken«, sagte Danielle unvermittelt. Sie setzte sich und wartete.»Litsi…«
Sein Blick ruhte noch einen Moment auf mir, dann wandte er sich ab, um mit den Flaschen zu hantieren. Wir hatten uns bisher nur auf der Rennbahn unterhalten, überlegte ich, höfliches Oberflächengeplänkel nach den Wettbewerben. Ich kannte ihn im Grunde so wenig wie er mich.
Ohne nachzufragen schenkte er Weißwein für Danielle und Scotch für sich selber und mich ein.
«Gut so?«sagte er, als er mir das Glas anbot.
«Ja, Sir.«
«Nennen Sie mich Litsi«, schlug er vor.»Das ganze Protokoll… privat verzichte ich darauf. Bei Tante Casilia ist das was anderes, aber ich habe die alten Zeiten nie gekannt. Der Thron besteht nicht mehr… ich werde niemals König. Ich lebe in der modernen Welt… also, wären Sie so nett?«
«Ja«, sagte ich.»Von mir aus gern.«
Er nickte und trank einen Schluck.»Zu Tante Casilia sagen Sie ja Prinzessin«, hob er hervor.
«Sie bat mich darum.«
«Na, sehen Sie. «Er machte eine große Geste, das Thema war beendet.»Erzählen Sie uns, was den Hausfrieden gestört hat.«
Ich blickte zu Danielle, an diesem Tag in schwarzer Hose, weißem Hemd, blauem Pullover. Sie hatte den gewohnten rosa Lippenstift aufgelegt, ein blaues Band hielt das wellige dunkle Haar zurück, alles an ihr war bekannt, geliebt und vertraut. Ich wünschte mir sehr, sie in den Armen zu halten und ihre Wärme zu spüren, aber sie saß unbewegt in ihrem Sessel und begegnete meinen Augen immer nur flüchtig, ehe sie sich wieder auf ihr Glas konzentrierte.
Ich verliere sie, dachte ich und fand es unerträglich.
«Kit«, sagte der Prinz, als er Platz nahm.
Ich holte tief Luft, richtete den Blick wieder auf sein Gesicht, setzte mich ebenfalls und begann mit der langen Schilderung der Ereignisse, angefangen von Henri Nanter-res Einschüchterungsversuch am Freitagnachmittag bis zu den toten Pferden in Wykehams Stall an diesem Morgen.
Litsi hörte mit wachsender Bestürzung zu, bei Danielle war es eher Empörung.
«Das ist ja furchtbar«, sagte sie.»Arme Tante Casilia. «Sie zog die Stirn kraus.»Man darf wohl Drohungen nicht nachgeben, aber weshalb ist Onkel Roland so gegen Waffen? Die werden doch überall produziert, oder nicht?«
«In Frankreich«, sagte Litsi,»würde es als verachtenswert gelten, wenn ein Mann von Rolands Herkunft mit Waffen handelte.«
«Aber er lebt nicht in Frankreich«, sagte Danielle.
«Er lebt in sich selbst. «Litsi warf mir einen Blick zu.»Sie verstehen, warum das für ihn nicht in Frage kommt, oder?«
«Ja«, sagte ich.
Er nickte. Danielle sah uns nacheinander an und seufzte.»Der Geist Europas, schätze ich. In Amerika ist Waffenhandel keine große Sache.«
Ich dachte bei mir, daß es wahrscheinlich eine größere Sache war, als sie sich klarmachte, und nach Litsi s Gesichtsausdruck dachte er das auch.
«Würden die vierhundert alten Familien mit Waffen handeln?«fragte er, aber wenn er eine verneinende Antwort erwartet hatte, bekam er sie nicht.
«Klar, ich glaube schon«, sagte Danielle.»Ich meine, weshalb sollten sie da Bedenken haben?«»Trotzdem«, sagte Litsi,»für Roland ist es unmöglich.«
Eine Stimme im Treppenhaus unterbrach die Diskussion: eine laute, weibliche Stimme, die näherkam.
«Wo seid ihr denn alle? Da drin?«Rauschend erschien sie in der Wohnzimmertür.»Dawson sagt, das Bambuszimmer ist belegt. So ein Blödsinn. Ich kriege immer das Bambuszimmer. Ich habe Dawson gesagt, er soll die Sachen von den Leuten, die da drin sind, rausschaffen.«
Dawson warf mir über die Schulter einen höflichen Blick zu und ging weiter in das nächste Stockwerk, einen Koffer in der Hand.
«Nun also«, sagte die Erscheinung in der Tür.»Wer macht mir eine >Bloody Das verdammte Flugzeug hatte zwei Stunden Verspätung.«
«Ach du Schreck«, meinte Danielle leise, als wir alle drei aufstanden,»Tante Beatrice.«