Kapitel 4

In die geladene Atmosphäre hinein sagte ich deutlich:»Seien Sie nicht albern.«

«Halten Sie den Fuß still«, zischte Nanterre wütend.

Ich hielt ihn still. Alles zu seiner Zeit.

«Wenn Sie Prinzessin Casilia erschießen«, sagte ich ruhig,»wird Monsieur de Brescou das Formular nicht unterschreiben.«

Die Prinzessin hatte ihre Augen geschlossen, und Roland de Brescou schien einer Ohnmacht nahe. Valerys aufgerissene Augen liefen Gefahr, vollends aus den Höhlen zu treten, und Gerald Greening flüsterte irgendwo hinter mir fassungslos:»O mein Gott.«

Ich sagte mit trockenerem Mund, als mir lieb war:»Wenn Sie Prinzessin Casilia erschießen, sind wir allesamt Zeugen. Sie müßten uns alle erschießen, einschließlich Valery.«

Valery stöhnte.

«Monsieur de Brescou würde den Antrag nicht unterschreiben«, sagte ich.»Sie kämen auf Lebenszeit hinter Gitter. Was hätte das für einen Sinn?«

Er starrte mich aus dunkel glühenden Augen an, den Kopf der Prinzessin fest in seinem Griff.

Nach einer Pause, die einige Jahrtausende anhielt, gab er dem Kopf der Prinzessin einen Stoß und ließ von ihr ab.

«Es sind keine Kugeln drin«, sagte er. Dann steckte er die Pistole wieder in das Halfter unter seiner Anzugsjacke. Er warf mir einen bitteren Blick zu, als wollte er mein Gesicht für alle Zeit seinem Gedächtnis einprägen, und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.

Valery schloß die Augen, öffnete sie einen Spalt, zog den Kopf ein und tippelte mit einer Miene hinter seinem Gebieter her, als wünschte er am anderen Ende der Welt zu sein.

Die Prinzessin ließ sich mit einem leisen Laut der Verzweiflung aus ihrem Sessel gleiten, ging neben dem Rollstuhl auf die Knie und legte die Arme um ihren Mann, das Gesicht an seinem Hals, das schimmernde dunkle Haar an seiner Wange. Er hob eine dünne Hand, um ihr über den Kopf zu streicheln, und sah mich mit düsteren Augen an.

«Ich hätte unterschrieben«, sagte er.

«Ja, Monsieur.«

Mir war selbst elend, und den inneren Aufruhr der beiden vermochte ich mir kaum vorzustellen. Die Prinzessin zitterte sichtlich; sie schien zu weinen.

Ich stand auf.»Ich warte unten«, sagte ich.

Er deutete ein Nicken an, und ich ging hinaus wie Nanterre und drehte mich dabei nach Gerald Greening um. Er kam wie betäubt hinter mir her, schloß die Tür, und wir gingen in das Wohnzimmer hinunter, wo ich anfangs gewartet hatte.

«Sie wußten doch nicht«, sagte er krächzend,»daß die Waffe leer war, oder?«

«Nein.«

«Sie sind ein furchtbares Risiko eingegangen. «Er peilte geradewegs das Tablett mit den Gläsern und Getränken an, goß sich mit zitternder Hand einen Brandy ein.»Möchten Sie auch?«

Ich nickte und setzte mich matt auf eines der chintzbezogenen Sofas. Er gab mir ein Glas und ließ sich ebenso schlapp fallen.

«Pistolen konnte ich noch nie ausstehen«, sagte er dumpf.

«Ob er eigentlich vorhatte, sie zu ziehen?«sagte ich.»Benutzen wollte er sie offenbar nicht, sonst hätte er sie doch geladen gehabt.«

«Warum hatte er sie dann überhaupt dabei?«

«Ein Muster, meinen Sie nicht?«überlegte ich.»Seine Kunststoffkanone als Vorführmodell. Man fragt sich, wie er die wohl nach England bekommen hat. Unentdeckt über die Flughäfen, hm? In Einzelteile zerlegt?«

Greening nahm seinen Brandy in Angriff und sagte:»Als ich ihn in Frankreich kennenlernte, hielt ich ihn für einen schlauen Wichtigtuer. Aber diese Drohungen… das Verhalten heute abend.«

«Nicht schlau, sondern plump.«

Er warf mir einen Blick zu.»Glauben Sie, er gibt auf?«

«Nanterre? Ich fürchte nein. Er dürfte gemerkt haben, daß er heute abend beinah bekommen hätte, was er will. Ich denke, er wird es wieder versuchen. Auf andere Art vielleicht.«

«Wenn Sie nicht dabei sind. «Er sagte es als Feststellung, ganz ohne die früheren Zweifel an meinen Fähigkeiten. Wenn er nicht achtgab, dachte ich, würde er zu sehr ins andere Extrem gehen. Er sah auf seine Uhr und seufzte tief.»Ich habe meiner Frau gesagt, ich käme etwas später. Etwas! Ich bin mit ihr zum Essen eingeladen. «Er zögerte.»Wenn ich gleich gehe, würden Sie dann für mich um Entschuldigung bitten?«

«Okay«, sagte ich ein wenig überrascht.»Wollen Sie denn nicht ehm… Die Sandsäcke wieder herrichten?«

Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was ich meinte, und sagte dann, er müsse Monsieur de Brescou nach seinen Wünschen fragen.

«Damit wäre er doch abgesichert, oder?«sagte ich.»Zumal Nanterre nicht weiß, wen er sonst noch unter Druck setzen könnte. «Ich warf einen Blick auf den Seminarprospekt, der noch auf dem Couchtisch lag.»Wissen Danielle und Prinz Litsi, daß ihre Namen verwendet worden sind?«

Er schüttelte den Kopf.»Prinzessin Casilia konnte sich nicht an den Namen des Hotels erinnern. Das hatte keinen Einfluß auf die Rechtsgültigkeit des Dokuments. Ihre Zustimmung war in dieser Phase nicht erforderlich.«

So wie die Dinge gediehen — nach Nanterres gewalttätigem Auftritt —, fand ich es allerdings nicht mehr fair, sie ohne ihr Einverständnis hineinzuziehen, und ich war im Begriff, das auszusprechen, als sich leise die Tür öffnete und Prinzessin Casilia hereinkam.

Wir standen auf. Wenn sie geweint hatte, war davon zwar nichts zu sehen, aber sie hatte den hohläugigen Ausdruck und die Blässe von Leuten, die übergroßer Belastung ausgesetzt sind.

«Gerald, wir möchten Ihnen danken, daß Sie sich herbemüht haben«, sagte sie mit hellerer Stimme als sonst.»Wegen Ihres Abendessens tut es uns sehr leid.«

«Prinzessin«, protestierte er,»meine Zeit gehört Ihnen.«

«Mein Mann läßt fragen, ob Sie morgen früh wiederkommen könnten.«

Greening wand sich ein wenig, als ließe er sein samstägliches Golfspiel fahren, fragte dann, ob es um zehn Uhr recht sei, und verabschiedete sich mit offenkundiger Erleichterung.

«Kit…«Die Prinzessin wandte sich mir zu.»Würden Sie heute nacht hier im Haus bleiben? Nur falls… für alle Fälle…«

«Ja«, sagte ich.

Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder.»Es war so ein entsetzlicher Tag. «Sie hielt inne.»Alles kommt mir unwirklich vor.«

«Darf ich Ihnen einen Drink einschenken?«

«Danke, nein. Bitten Sie Dawson, daß er Ihnen etwas zu essen bringt. Sagen Sie ihm, Sie schlafen im Bambuszimmer. «Sie sah mich abgespannt an, zu müde für Gefühlsregungen.»Mein Mann möchte Sie morgen früh sprechen.«

«Ziemlich früh dann«, schlug ich vor.»Ich muß zum ersten Rennen in Newbury sein.«

«Du liebe Güte! Das hatte ich vergessen. «Etwas von dem abwesenden Ausdruck verschwand aus ihren Augen.»Ich habe noch nicht mal gefragt, wie Cotopaxi gelaufen ist.«

«Er war Dritter. Ein guter Lauf. «Es schien lange her zu sein.»Sie werden es auf dem Video sehen.«

Wie viele Besitzer kaufte sie Videobänder von den meisten Rennen ihrer Pferde, um sich immer wieder neu an ihren Leistungen zu erfreuen.

«Ja, das muß ich mir anschauen.«

Sie sagte gute Nacht, ganz so, als hätte man ihr nicht vor einer halben Stunde noch eine Pistole an den Kopf gehalten, und ging leise, in aufrechter Haltung nach oben.

Eine bemerkenswerte Frau, dachte ich nicht zum erstenmal und machte mich auf den Weg ins Souterrain, um

Dawson zu suchen, der in Hemdsärmeln vor dem Fernseher saß und Bier trank. Der Butler, etwas beschämt darüber, daß er sich von den ungebetenen Gästen hatte überrennen lassen, kontrollierte ohne Murren mit mir gemeinsam die Sicherheitsvorkehrungen im Haus. Fenster, Haustür, Hintertür, Souterraintür, alles war fest verschlossen.

Er sagte, der Krankenpfleger John Grundy komme noch um zehn, werde Monsieur zu Bett bringen, im Nebenzimmer schlafen und ihm am Morgen beim Baden, Rasieren und Ankleiden behilflich sein. Er werde die Wäsche von Monsieur besorgen und gegen elf wieder fort sein.

Nur Dawson und seine Frau (die Zofe der Prinzessin) schliefen im Souterrain, sagte er; das ganze übrige Personal komme tagsüber. Prinz Litsi, der die Gästesuite im Erdgeschoß bewohnte, und Miss de Brescou, deren Zimmer über dem der Prinzessin lag, seien verreist, wie ich wüßte.

Seine Augenbrauen hoben sich bei der Erwähnung des Bambuszimmers, und als er mich mit dem Lift in die Etage über der Prinzessin und ihrem Mann brachte, begriff ich auch warum. Palastartig, hellblau, gold- und cremefarben, hätte es den Ansprüchen der nobelsten Gäste genügt. Der Bambus seines Namens fand sich im Muster der Vorhänge und in den hellen Chinois-Chippendalemöbeln. Es hatte ein riesiges Doppelbett, ein Bad, und eine Auswahl von Getränken sowie ein guter Fernsehapparat waren diskret hinter einer Lamellentür verborgen.

Dawson ließ mich dort allein, und ich nutzte die Gelegenheit für mein allabendliches Telefongespräch mit Wykeham, um ihm zu berichten, wie seine Pferde gelaufen waren. Er sagte, er freue sich über Cotopaxi, aber sei ich mir auch im klaren darüber, was ich mit Cascade angestellt hätte? Dusty, sagte er, habe ihm wütend den ganzen Rennverlauf erzählt, mitsamt der anschließenden Inspektion durch Maynard Allardeck.

«Wie geht es Cascade?«fragte ich.

«Wir haben ihn gewogen. Er hat dreißig Pfund verloren. Er kann kaum den Kopf hochhalten. Selten haben Sie ein Pferd so zugerichtet.«

«Es tut mir leid«, sagte ich.

«Sieg ist nicht gleich Sieg«, meinte er gereizt.»Für Cheltenham haben Sie ihn ruiniert.«

«Tut mir leid«, sagte ich nochmals zerknirscht, Cheltenham, zweieinhalb Wochen entfernt, war natürlich das Gipfeltreffen der Hindernissaison, die Wettbewerbe hochdotiert und von entsprechendem Prestige. Wykeham legte besonderen Wert auf dort errungene Erfolge; sowie auch ich und überhaupt jeder aktive Hindernisjockey. Dort einen Sieg zu verpassen geschah mir wohl recht, wenn ich mich von meinem Unglück überwältigen ließ, aber für Wykeham tat es mir aufrichtig leid.

«Daß Sie morgen mit Kalgoorlie nicht so umspringen«, sagte er streng.

Ich seufzte. Kalgoorlie war seit Jahren tot. Wykehams Gedächtnis kippte manchmal derart aus den Fugen, daß ich nicht dahinterkam, von welchem Pferd er redete.

«Meinen Sie Kinley?«tippte ich an.

«Bitte? Ja klar, das hab ich doch gesagt. Reiten Sie ihn anständig, Kit.«

Immerhin, dachte ich, wußte er, mit wem er sprach; er nannte mich am Telefon immer noch oft bei dem Namen des Jockeys, der meine Arbeit vor zehn Jahren getan hatte.

Ich versicherte ihm, ich würde Kinley anständig reiten.

«Und zwar auf Sieg«, sagte er.

«In Ordnung. «Ein anständiger Ritt und ein Sieg ließen sich nicht immer unter einen Hut bringen, wie Cascade hatte erfahren müssen. Kinley war jedoch eine Riesenhoffnung für Cheltenham, und wenn er in Newbury nicht spielend gewann, konnten die Erwartungen stark abkühlen.

«Dusty sagt, die Prinzessin ist vor Cotopaxis Start nicht in den Ring gekommen und hat ihn sich auch nachher nicht angesehen. Er führt das darauf zurück, daß sie sich wegen Cascade geärgert hat. «Wykehams alte Stimme war von Unwillen erfüllt.»Wir können es uns nicht leisten, die Prinzessin zu verärgern.«

«Dusty irrt sich«, sagte ich.»Sie war nicht böse. Sie hatte Scherereien mit, ehm… einem Besucher in ihrer Loge. Sie hat es mir hinterher erklärt… und mich zum Eaton Square eingeladen, wo ich jetzt noch bin.«

«Oh«, meinte er besänftigt.»Na schön. Kinleys Rennen wird morgen im Fernsehen übertragen«, sagte er,»da werde ich’s mir ansehen.«

«Großartig.«

«Nun also… gute Nacht, Paul.«

«Gute Nacht, Wykeham«, sagte ich.

Schmunzelnd fragte ich den Anrufbeantworter bei mir zuhause ab, doch es lag nichts Besonderes an, und kurz darauf brachte Dawson mir zum Abendessen Hühnerbrühe, Schinken und eine Banane (meine Wahl).

Später drehten wir gemeinsam noch eine Runde durch das Haus und begegneten John Grundy, einem sechzigjährigen Witwer, auf dem Weg zu seinem Zimmer. Beide Männer sagten, es würde sie nicht stören, wenn ich in den frühen Morgenstunden hin und wieder herumginge, und ich pirschte dann auch ein- oder zweimal durch die Flure, aber es blieb die ganze Nacht ruhig in dem großen Haus, nur die Uhren tickten leise. Ich schlief mit Unterbrechungen zwischen Leintüchern unter einem seidenen Bettbezug, in einem Pyjama, den Dawson aufmerksamerweise bereitgelegt hatte, und wurde am Morgen zu Roland de Brescou hineinkomplimentiert.

Er saß allein in seinem Wohnzimmer, angetan mit einem Straßenanzug, weißem Hemd und bunt bedruckter Krawatte. Schwarze Schuhe, blank poliert. Weißes Haar, glatt gebürstet. Keine Konzessionen an seinen Zustand, keine Konzession ans Wochenende.

Sein Rollstuhl hatte eine ungewöhnlich hohe Rückenlehne und ich fragte mich öfter, warum es nicht mehr dieser Art gab —, so, daß er, wenn ihm nach einem Nickerchen zumute war, den Kopf anlehnen konnte. An diesem Morgen lehnte er den Kopf an, obwohl er wach war.

«Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er höflich und sah zu, wie ich mich wieder in den dunkelroten Ledersessel vom Abend zuvor setzte. Der alte Mann wirkte wenn möglich noch hinfälliger, mit grauen Schatten unter der Haut, und die schmalen Hände, die auf den gepolsterten Armlehnen ruhten, hatten etwas Durchscheinendes, die Haut war papierdünn über den Knochen.

Ich kam mir ihm gegenüber fast ungehörig stark und gesund vor und fragte, ob ich ihm irgend etwas bringen oder holen könne.

Er verneinte es mit einem Zucken um die Augen, das man als verstehendes Lächeln hätte deuten können, als wäre er solche schuldbewußten Reaktionen bei seinen Gästen gewohnt.

«Ich möchte Ihnen danken«, sagte er,»daß Sie uns beigestanden haben. Daß Sie Prinzessin Casilia geholfen haben.«

Er hatte in meinem Beisein noch nie von ihr als» meiner Frau «gesprochen, und ich hätte sie ihm gegenüber auch nie als solche bezeichnet. Seine steifen Sprachgewohnhei-ten waren merkwürdig ansteckend.

«Außerdem«, sagte er, als ich Einwendungen machen wollte,»haben Sie mir Zeit verschafft zu überlegen, was ich wegen Henri Nanterre unternehmen werde. «Er leckte seine trockenen Lippen mit der Spitze einer scheinbar ebenso trockenen Zunge.»Ich habe kein Auge zugetan… Ich kann nicht riskieren, daß Prinzessin Casilia oder irgend jemandem in unserer Umgebung etwas zustößt. Es ist an der Zeit, daß ich das Ruder aus der Hand gebe. Einen Nachfolger finde… aber ich habe keine Kinder, und es gibt nur noch wenige de Brescous. Es wird nicht leicht sein, ein Familienmitglied zu finden, das meinen Platz einnimmt.«

Schon der Gedanke an die Diskussionen und Entscheidungen, die ein solcher Schritt mit sich brachte, schien ihn zu erschöpfen.

«Mir fehlt Louis«, sagte er unerwartet.»Ohne ihn kann ich nicht weitermachen. Es wird Zeit, daß ich mich zur Ruhe setze. Das hätte ich einsehen sollen, als Louis starb… bereits damals war es Zeit. «Er schien ebensosehr mit sich selbst zu sprechen wie mit mir, seine Gedanken zu klären, während seine Augen wanderten.

Ich gab einen Laut von mir, der wenig mehr als Interesse bekundete. Im stillen fand ich aber auch, daß die Zeit, sich vom Geschäft zurückzuziehen, längst gekommen war, und es hatte fast den Anschein, als finge er etwas von diesem Gedanken auf, denn er sagte ruhig:»Mein Großvater regierte mit neunzig noch uneingeschränkt. Ich habe damit gerechnet, ebenfalls an der Spitze der Firma zu sterben, da ich ihr Präsident bin.«

«Ja, ich verstehe.«

Sein Blick umfing mein Gesicht.»Prinzessin Casilia möchte heute zum Pferderennen. Sie hofft, daß Sie sie in ihrem Wagen begleiten. «Er hielt inne.»Darf ich Sie bitten. sie zu beschützen?«

«Ja«, sagte ich nüchtern,»mit meinem Leben.«

Es klang nach den Ereignissen vom Abend zuvor nicht einmal melodramatisch, und er nahm es offenbar auch als normale Feststellung. Er nickte nur leicht, und ich dachte bei mir, daß ich rückblickend sicher über mich erröten würde. Andererseits war es mir wohl Ernst damit, und die Wahrheit bricht sich Bahn.

Es schien jedenfalls das zu sein, was er hören wollte. Er nickte noch einige Male bedächtig, wie um den Pakt zu besiegeln, und ich stand auf, um mich zu verabschieden. Auf dem Weg zur Tür sah ich eine Aktenmappe halb unter einem Sessel liegen. Ich hob sie auf und fragte ihn, wo ich sie hintun solle.

«Sie gehört nicht mir«, sagte er ohne sonderliches Interesse.»Sie muß von Gerald Greening sein. Er kommt ja heute morgen wieder.«

Ich hatte jedoch plötzlich den bedauernswerten Valery vor Augen, wie er den Schußwaffenlizenzvertrag aus dieser Mappe hervorzog und zum Schluß mit leeren Händen davonhastete. Als ich das Roland de Brescou erklärte, schlug er mir vor, die Mappe mit hinunter in die Halle zu nehmen, so daß ihr Eigentümer, wenn er sie abholen komme, sich nicht nach oben zu bemühen brauche.

Ich nahm die Mappe mit, aber da es mir an de Brescou uninteressierter Ehrlichkeit mangelte, ging ich hinauf ins Bambuszimmer, nicht nach unten.

Die schwarze Ledermappe, handlich, unauffällig, war weder verschlossen noch eine aufregende Fundgrube; sie enthielt lediglich etwas, das aussah wie ein Doppel des Formulars, das Roland de Brescou nicht unterzeichnet hatte.

Auf gängigem lederbraunem Papier, vorwiegend in kleiner, schlecht gedruckter Kursivschrift und natürlich in französisch, schien es den Aufruhr, den es verursachte, kaum wert zu sein. Soweit ich feststellen konnte, war es nicht speziell auf Waffen bezogen, sondern hatte punktierte Linien, die man ausfüllen mußte. Auf dem Doppel hatte niemand etwas eingetragen, aber das Exemplar, das Valery wieder mitgenommen hatte, war vermutlich zur Unterschrift fertig gewesen.

Ich legte das Formblatt in eine Nachttischschublade und brachte die Aktenmappe nach unten, wo mir Gerald Greening entgegenkam. Wir wünschten uns guten Morgen in der unausgesprochenen Erinnerung an den Gewalteinbruch vom Vorabend, und er sagte, er habe die Sandsäcke nicht nur neu geschrieben, sondern ordnungsgemäß tippen und mit Siegel versehen lassen. Wäre ich so nett, noch einmal als Zeuge zu fungieren?

Wir kehrten zu Roland de Brescou zurück und schrieben unseren Namenszug, und ich erinnerte daran, daß Danielle und Prinz Litsi informiert werden sollten. Ich mußte einfach an sie denken. Etwa um diese Zeit begann ihr Vortrag über» Die Meisterwerke Leonardos. «, verdammt noch mal.

«Ja, ja«, meinte Greening zu mir.»Soviel ich weiß, kommen sie morgen abend wieder. Vielleicht können Sie es ihnen ja selbst mitteilen.«

«Vielleicht.«

«Und jetzt«, sagte Greening» wollen wir die Polizei auf den neuesten Stand bringen.«

Er stürzte sich in ein Telefongespräch, erreichte den Mann von gestern und dessen Vorgesetzten, bekam die Zusage, daß ein Kriminalbeamter eingeschaltet würde, und räumte ein, daß er nicht wisse, wo Nanterre zu finden sei.»Sobald er wieder auf der Bildfläche erscheint, verständigen wir Sie«, sagte er, und ich fragte mich, wie bald» sobald «sein wurde, falls Nanterre mit geladener Waffe auftauchte.

Roland de Brescou zeigte jedoch Einverständnis, nicht Bestürzung, und als sie zu erörtern begannen, wie man am besten einen de-Brescou-Nachfolger fände, ließ ich sie allein. Ich traf verschiedene Vorbereitungen für den Renntag und wartete mit Dawson in der Halle, bis der telefonisch herbeigerufene Thomas elegant draußen vorfuhr und die Prinzessin nach unten kam. Sie trug einen cremefarbenen Mantel, nicht den Zobelpelz, dazu große goldene Ohrringe, aber keinen Hut, und obgleich sie vollkommen ruhig wirkte, konnte sie die ängstlichen Blicke nach beiden Straßenseiten nicht verbergen, als sie von ihren drei Aufpassern über den Gehsteig geleitet wurde.

«Es ist wichtig«, sagte sie im Plauderton, sobald sie saß und Thomas alle Türen zentral verriegelt hatte,»daß man sich durch Gefahr nicht von seinen Vergnügungen abhalten läßt.«

«Mm «sagte ich neutral.

Sie lächelte reizend.»Sie, Kit, lassen das doch auch nicht zu.«

«Es sind die Vergnügungen, mit denen ich mein Brot verdiene.«

«Gefahr sollte einen also nicht von seiner Pflicht abhalten. «Sie seufzte.»So ausgedrückt, klingt es leicht spießig, was? Dabei treffen Pflicht und Vergnügen oft im Innersten zusammen, finden Sie nicht?«

Ich dachte darüber nach und fand, daß sie wahrscheinlich recht hatte. Sie war auf ihre Art keine schlechte Psychologin.

«Erzählen Sie mir von Cotopaxi«, verlangte sie und hörte zufrieden meinen Bericht; wenn ich innehielt, schob sie Fragen ein. Danach unterhielten wir uns über Kinley, ihr brillantes junges Hürdenpferd, und über Hillsborough, ihren anderen heutigen Starter, und erst als wir uns Newbury schon näherten, fragte ich sie, ob sie etwas dagegen hätte, wenn Thomas sie auf den Platz begleitete und den ganzen Nachmittag an ihrer Seite bliebe.

«Thomas?«meinte sie überrascht.»Aber er hält doch nichts vom Pferderennen. Das langweilt ihn, stimmt’s, Thomas?«

«Normalerweise schon, Madam«, sagte er.

«Thomas ist fähig und stark«, stellte ich fest,»und Monsieur de Brescou möchte, daß Sie den Renntag ungestört genießen.«

«Oh«, sagte sie bestürzt.»Wieviel… haben Sie Thomas erzählt?«

«Daß ich nach einem adlernasigen Frosch Ausschau halten soll, damit er Sie nicht ärgert, Madam«, sagte Thomas.

Sie war erleichtert, belustigt und anscheinend auch dankbar.

Daheim in London, ob sie es wußte oder nicht, opferte John Grundy seinen Samstagnachmittag, um bei Roland de Brescou zu bleiben, die Nummer der nächsten Polizeidienststelle fest in seinem Kopf.

«Die wissen schon, daß es Ärger geben könnte«, hatte ich ihm erklärt.»Wenn Sie anrufen, kommen sie sofort.«

John Grundy, robust für sein Alter, hatte lediglich bemerkt, er sei oft genug mit betrunkenen Streithähnen fertig geworden, ich solle ihm das getrost überlassen. Dawson, dessen Frau mit ihrer Schwester ausfuhr, hatte versichert, kein Fremder werde an ihm vorbei ins Haus kommen. Ich hielt es zwar für unwahrscheinlich, daß Nanterre noch einen Frontalangriff versuchen würde, aber es wäre dumm gewesen, bei offenen Türen eine Fehleinschätzung zu riskieren.

Thomas, mit seinen einsneunzig der perfekte Leibwächter, ging den ganzen Nachmittag einen Schritt hinter der Prinzessin, die sich meistens so verhielt, als wüßte sie von ihrem Schatten nichts. Sie hatte fünf Freunde zum Lunch eingeladen und deshalb auch ihre Nachmittagsgesellschaft nicht absagen wollen. Auf meinen Vorschlag hin bat sie die fünf, unter allen Umständen bei ihr zu bleiben und sie nur allein zu lassen, wenn sie es selbst verlangte.

Zwei von ihnen kamen vor dem ersten ihrer Rennen mit in den Führring, überragt von Thomas, und alle miteinander bildeten einen Schild, als sie zur Tribüne zurückging. Sie war ein viel naheliegenderes Angriffsziel als de Brescou selbst, dachte ich unbehaglich, ihren Abgang beobachtend, als ich mit Hillsborough auf die Bahn hinausritt. Ihr Mann würde niemals seine Ehre verkaufen, um das eigene Leben zu retten, aber um die entführte Gattin zu befreien… höchstwahrscheinlich schon.

Er konnte eine durch Drohungen erwirkte Unterschrift für ungültig erklären. Er konnte widerrufen, Lärm schlagen, konnte sagen:»Ich hatte keine Wahl. «Die Waffen würden dann vielleicht nicht hergestellt, doch sein Gesundheitszustand würde leiden, und sein Ruf konnte ruiniert sein. Besser vorbeugen als retten, sagte ich mir, aber hatte ich auch an alles gedacht?

Hillsborough fühlte sich in meinen Händen stumpf an, und als wir zum Start kanterten, wußte ich, daß er nicht viel bringen würde. Die Signale, die ein gut aufgelegtes, kampfbereites Pferd aussendet, fehlten völlig, und obwohl ich ihn nach dem Antritt aufzumuntern versuchte, war er so schwerfällig wie ein kalter Motor.

Er ging die meisten Hindernisse richtig an, verlor nach der Landung aber an Boden, weil er nicht schnell wieder anzog, und als ich ihn nach dem letzten Sprung zu beschleunigen versuchte, konnte oder wollte er nicht mehr und fiel noch hinter zwei Spurtstärkere zurück, so daß er als Achter von dem Zwölferfeld eintrudelte.

Es war nicht zu ändern; man kann nicht immer gewinnen. Dennoch war ich gereizt, als anschließend ein Offizier in den Waageraum kam und sagte, die Stewards wollten mich unverzüglich sprechen. Ich folgte ihm eher wütend als resigniert in den Raum der Rennleitung, und dort saß wie erwartet Maynard Allardeck mit zwei anderen an einem Tisch, so unparteiisch und vernünftig anzusehen wie ein Heiliger. Die Stewards sagten, sie wollten wissen, warum mein aussichtsreiches Pferd so schlecht gelaufen sei. Sie sagten, sie seien der Ansicht, ich hätte das Pferd nicht voll ausgeritten, mich nicht genügend um den Sieg bemüht, und ich möchte ihnen doch bitte eine Erklärung dafür geben.

Maynard war fast mit Sicherheit der Anstifter, aber nicht der Wortführer. Einer der anderen, ein Mann, den ich schätzte, hatte zur Eröffnung gesagt:»Mr. Fielding, erklären Sie uns bitte die schwache Darbietung von Hillsborough.«

Er war vor Zeiten selbst als Amateur geritten, und ich sagte ihm einfach, daß mein Pferd sich anscheinend nicht wohlgefühlt und keinen Spaß an der Sache gehabt hätte. Es sei schon plattfüßig an den Start gegangen, und im weiteren Verlauf hätte ich ein- oder zweimal daran gedacht, es ganz aus dem Rennen zu nehmen.

Der Steward warf einen Blick auf Allardeck und sagte zu mir:»Warum haben Sie nach dem letzten Hindernis nicht die Peitsche benutzt?«

Die Floskel» ein totes Pferd spornen «drängte sich mir fast unwiderstehlich auf, aber ich sagte nur:»Ich habe ihm eine Menge Zeichen gegeben, das Tempo zu verschärfen, leider konnte er nicht. Schläge hätten daran nichts geändert.«

«Es hatte den Anschein, als ob Sie ihm ein leichtes Rennen geben«, sagte er, aber ohne die Kampflust der Überzeugung.»Wie erklären Sie sich das?«

Einem Pferd ein leichtes Rennen geben, das war eine Umschreibung für» nicht zu gewinnen versuchen «oder schlimmer noch» versuchen nicht zu gewinnen«, eine Sache, die einen die Lizenz kosten konnte. Ich sagte mit einigem Nachdruck:»Prinzessin Casilias Pferde, Mr. Harlowes Pferde geben immer ihr Bestes. Hillsborough hat sein Bestes gegeben, aber er hatte einen schlechten Tag.«

Eine Spur von Belustigung lag in den Augen des Stewards. Er wußte wie jeder andere im Rennsport, was zwischen den Fieldings und den Allardecks ablief. Ein halbes Jahrhundert lang hatten Stewards die heftigen Anschuldigungen untersucht, die Maynards Vater von meinem Großvater entgegengeschleudert wurden und meinem Großvater von Maynards Vater, als sie beide noch in Newmarket Flachpferde trainierten. Das einzig Neue an dem alten Kampf war, daß inzwischen ein Allardeck auf der Machthab er seite des Tisches saß — bestimmt sehr erheiternd für alle, außer für mich.

«Wir nehmen Ihre Erklärung zur Kenntnis«, bemerkte der Steward trocken und sagte mir, ich könne gehen.

Ich ging, ohne Maynard direkt anzusehen. Zweimal innerhalb von zwei Tagen war ich ihm aus dem Netz geschlüpft. Er sollte nicht meinen, daß ich mich hämisch darüber freute. Ich kehrte schnell in den Umkleideraum zurück, um die Farben der Prinzessin mit dem Dreß eines anderen Besitzers zu tauschen und mich wiegen zu lassen, kam aber trotzdem für das nächste Rennen zu spät in den Führring (und auch dafür konnte eine Geldbuße verhängt werden).

Ich strebte schleunigst auf die hoffnungsvolle kleine Gruppe zu, der noch ein Jockey fehlte, und sah zehn Meter entfernt Henri Nanterre.

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