Kapitel 9

Lucas Wainwright rief mich am nächsten Morgen an, als ich gerade dabei war, Tassen in die Geschirrspülmaschine zu räumen.

«Irgendwas Neues?«erkundigte er sich, ganz Commander.

«Es tut mir wirklich leid«, sagte ich bedauernd,»aber ich habe alle diese Notizen verloren. Ich muß noch mal von vorne anfangen.«

«Ach du liebe Güte!«Er war alles andere als erfreut. Ich erzählte ihm nicht, daß die Aufzeichnungen verlorengegangen waren, als man mir eins auf den Schädel gegeben und ich den braunen Umschlag schnell in den Gully hatte fallen lassen.»Na, dann kommen Sie mal sofort her. Eddy ist bis heute nachmittag weg.«

Langsam und unbeteiligt beendete ich meine Aufräumar-beiten, dachte dabei an Lucas Wainwright und daran, was er für mich tun könnte, wenn er wollte. Dann setzte ich mich an den Tisch und notierte mir meine Wünsche an ihn. Daraufhin besah ich mir, was ich geschrieben hatte, und auch meine Finger — und schauderte. Dann faltete ich das Blatt, steckte es in die Tasche und begab mich zum Port-man Square, entschlossen, es Lucas doch nicht zu geben.

Er hatte die Unterlagen schon in seinem Büro zurechtgelegt, und ich setzte mich an denselben Tisch wie zuvor und schrieb noch einmal ab, was ich an Informationen benötigte.

«Sie werden die Sache jetzt doch nicht noch länger schleifen lassen, Sid, oder?«

«Nein, sie bekommt absolute Priorität«, sagte ich.»Ich fange morgen an und werde nachmittags nach Kent fahren.«

«Gut. «Er erhob sich, als ich meine Notizen in einen neuen Umschlag steckte, und wartete darauf, daß ich mich verabschiedete — nicht so sehr, weil er keine Geduld mehr mit mir gehabt hätte, sondern weil das so seine Art war. Energisch. War eine Sache erledigt, kam die nächste dran, keine Rumtrödelei, bitte.

Ich zögerte feige und stellte dann überrascht fest, daß ich schon sprach, bevor ich mich noch bewußt entschieden hatte, ob ich es tun sollte oder nicht.»Erinnern Sie sich noch, Commander, daß Sie mir bei unserer ersten Besprechung sagten, Sie könnten mir zwar kein Geld für den Job anbieten, wohl aber Ihre Hilfe, sollte ich sie benötigen?«

Ich erreichte ein verständnisvolles Lächeln und einen Aufschub der Verabschiedung.

«Selbstverständlich erinnere ich mich daran. Aber Sie haben den Auftrag ja noch gar nicht ausgeführt. Um was für eine Hilfe ginge es denn?«

«Nun ja… es ist nicht viel… äh… sehr wenig. «Ich zog das zusammengefaltete Blatt hervor und überreichte es ihm. Wartete, bis er die wenigen Worte darauf gelesen hatte. Kam mir vor, als hätte ich eine Mine gelegt und würde gleich drauftreten.

«Wüßte nicht, was dagegen spräche«, sagte er.»Wenn Sie unbedingt wollen. Sind Sie denn auf etwas gestoßen, von dem wir unterrichtet sein sollten?«

Ich deutete auf das Papier.»Sie erfahren alles so schnell wie ich, wenn Sie das da für mich tun. «Das war keine sehr befriedigende Antwort, aber er hakte nicht nach.»Das einzige, worum ich Sie bitten möchte, ist, daß mein Name nicht erwähnt wird. Lassen Sie keinen wissen, daß das meine Idee war, niemanden. Ich… äh… Sie könnten mich damit ums Leben bringen, Commander. Ich scherze nicht.«

Er blickte von mir auf das Blatt und wieder auf mich und runzelte die Stirn.»Das sieht aber nicht nach einer lebensgefährlichen Sache aus, Sid.«

«Das weiß man immer erst dann genau, wenn man tot ist.«

Er lächelte.»In Ordnung. Ich werde den Brief im Namen des Jockey Club schreiben und das mit der Lebensgefährlichkeit ernst nehmen. Zufrieden?«

«Voll und ganz.«

Wir gaben uns die Hand, und ich verließ, den braunen Umschlag unter dem Arm, sein Büro. Als ich auf den Portman Square hinaustreten wollte, kam gerade Eddy Keith von draußen herein. Wir blieben beide kurz stehen, wie man das so tut, und ich hoffte inständig, daß er meinem Gesichtsausdruck nicht ansehen konnte, welchen Schrecken mir seine vorzeitige Rückkehr einjagte, oder gar erraten, daß ich das Material unter dem Arm trug, das zu seinem Sturz führen könnte.

«Eddy«, sagte ich lächelnd und kam mir dabei wie ein Verräter vor.

«Hallo, Sid«, erwiderte er fröhlich, und seine Äuglein über den rundlichen Backen zwinkerten mir zu.»Was treiben Sie denn hier?«Eine gutmütig gestellte, ganz normale Frage. Kein Argwohn. Keine Befürchtungen.

«Ich sammle Brosamen auf«, sagte ich.

Er kicherte fett.»Nach allem, was ich höre, sind wir es doch, die von Ihren leben. Sie werden uns noch alle brotlos machen, jawohl, ganz fix.«

«Aber woher denn.«

«Pfuschen Sie uns bloß nicht ins Handwerk, Sid.«

Das Lächeln war noch immer da, die Stimme frei von jeder Drohung. Das Kraushaar, der mächtige Schnurrbart, das große, dickliche Gesicht — das alles strahlte nach wie vor nichts als Wohlwollen aus. Aber in seinen Augen war ganz kurz arktische Kälte sichtbar geworden und wieder verschwunden, und ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß mir da eine sehr ernst gemeinte Warnung zugegangen war.

«Nie und nimmer, Eddy«, sagte ich mit falscher Aufrichtigkeit.

«Wir sehn uns, alter Knabe«, sagte er, bereit, seinen Weg in das Gebäude fortzusetzen. Er grinste mich breit an und verpaßte mir den üblichen, herzlichen Schlag auf die Schulter.»Passen Sie auf sich auf.«

«Sie auch, Eddy«, sagte ich hinter ihm her — und ganz leise und irgendwie bekümmert noch einmal:»Sie auch.«

Ich brachte die Aufzeichnungen sicher in meine Wohnung, dachte ein wenig nach und rief dann meinen GaszellenExperten an.

Der sagte hallo und wie schön, mal wieder was von dir zu hören, und wie’s denn mal mit einem Glas Bier wäre und nein, von einem John Viking habe er noch nie was gehört. Ich las ihm die Gleichung vor und fragte, ob sie ihm irgend etwas sage, und da lachte er und meinte, das klinge ganz nach einer Formel, die es einem gestatte, mit einem Heißluftballon zum Mond zu fliegen.

«Herzlichen Dank«, sagte ich sarkastisch.

«Nein, mal im Ernst, Sid. Die Formel dient zur Berechnung einer maximalen Flughöhe. Frag mal einen Ballon-fahrer. Die sind dauernd hinter Rekorden her… größte Höhe, weiteste Entfernung, solche Sachen.«

Ich fragte, ob er irgendwelche Ballonfahrer kenne, aber er sagte nur, es tue ihm leid, damit könne er nicht dienen, sein Gebiet seien Luftschiffe. Und wir verabschiedeten uns mit der erneuten, vagen Versicherung, uns irgendwann demnächst mal irgendwo treffen zu wollen. Müßig und ohne jede Hoffnung auf Erfolg blätterte ich im Telefonbuch herum — und da standen unglaublicherweise plötzlich klar und deutlich die Worte» Gesellschaft der Heißluftballonfahrer«, dabei die Londoner Anschrift und die Telefonnummer.

Ich rief dort an. Ein Mann mit angenehmer Stimme sagte, daß er John Viking natürlich kenne, wie ihn jeder andere auch kenne, der mit der Ballonfahrt zu tun habe, er sei ein Verrückter erster Klasse.

Ein Verrückter?

John Viking, erklärte er, riskiere als Ballonfahrer mehr als jeder andere. Wenn ich ihn sprechen wolle, würde ich ihn mit Sicherheit bei der Ballonwettfahrt am Montagnachmittag finden können.

Wo denn diese Wettfahrt am Montagnachmittag stattfinde?

Reitturnier, Ballonwettfahrt, Schaukeln und Karussells und was das Herz begehre würden beim Maifest in High-alane Park in Wiltshire geboten. Und John Viking werde auch dort sein, garantiert.

Ich dankte meinem Gesprächspartner für seine Auskünfte und legte auf, wobei mir durch den Kopf ging, daß ich den Maifeiertag komplett vergessen hatte. Offizielle Feiertage waren für mich — wie für jeden im Pferderennsport tätigen Menschen — seit jeher Arbeitstage gewesen, an denen ich zur Freizeitgestaltung der Öffentlichkeit beitrug.

Deshalb nahm ich diese Tage zumeist gar nicht als besondere wahr.

Chico traf mit einer Doppelportion Fish-and-Chips in einer dieser neumodischen, hygienischen Pergamentpapiertüten ein, die den Dampf nicht abziehen und die Pommes frites knatschig werden lassen.

«Wußtest du, daß Montag Maifeiertag ist?«fragte ich ihn.

«Schließlich veranstalte ich ein Judoturnier für die kleinen Scheißer, oder?«

Er kippte das Mittagessen auf zwei Teller, und wir verzehrten es, im wesentlichen unter Zuhilfenahme der Finger.

«Du bist also wieder zum Leben erwacht, wie ich sehe«, sagte er.

«Das ist nur vorübergehend.«

«Dann erledigen wir wohl besser ein paar Sachen, solange du noch unter uns weilst.«

«Die Syndikate«, sagte ich und erzählte ihm von dem unglücklichen Mason, der ebenfalls auf sie angesetzt worden war und dem man das Gehirn kaputtgetreten hatte.

Chico streute Salz auf seine Pommes frites.»Wir sollten uns also vorsehen, nicht wahr?«

«Fangen wir heute nachmittag an?«

«Klar doch. «Er hielt nachdenklich inne, leckte sich die Finger ab.»Wir kriegen kein Honorar für diesen Job, war’s nicht so?«

«Nicht direkt.«

«Warum machen wir dann eigentlich nicht diese Untersuchungen für die Versicherungen? Nette, ruhige Befragungen, festes Honorar.«

«Ich habe Lucas Wainwright versprochen, mich vordringlich um die Syndikate zu kümmern.«

Er zuckte die Achseln.»Du bist der Chef. Aber das ist mit deiner Frau und Rosemary, die ja ihr Geld zurückgekriegt hat, schon der dritte Job, den wir gratis machen.«

«Wir werden das später wieder ausgleichen.«

«Dann machst du also weiter?«

Ich beantwortete die Frage nicht sofort. Abgesehen davon, daß ich mir nicht sicher war, ob ich sie überhaupt beantworten wollte, wußte ich auch nicht, ob ich es konnte. In den zurückliegenden Monaten waren Chico und ich immer wieder an irgendwelche Schlägertypen geraten, die versucht hatten, uns an unserer Arbeit zu hindern. Wir verfügten nicht über den Schutz, den wir als Angehörige des Sicherheitsdienstes der Rennbahnen oder als Polizisten genossen hätten, sondern mußten uns selbst verteidigen. Wir hatten die blauen Flecken und Beulen immer als Teil unseres Jobs angesehen — so wie ich früher die Folgen meiner Stürze oder Chico die unsanften Mattenwürfe. Was aber, wenn sich alles das durch Trevor Deansgate geändert hatte? Und das nicht nur für eine einzige, schreckliche Woche, sondern für sehr viel länger? Für immer?

«Sid!«sagte Chico laut.»Komm wieder zu dir.«

Ich schluckte.»Ja… äh… wir kümmern uns um die Syndikate. Dann sehen wir weiter. «Dann würde ich’s wissen, dachte ich. Tief in mir drinnen würde ich’s wissen, ob es so war oder nicht. Wenn ich keine Tigerkäfige mehr betreten konnte, waren wir erledigt. Einer allein war nicht genug — es mußten beide sein. Wenn ich es nicht mehr konnte… könnte ich mir auch gleich einen Strick nehmen.

Das erste Syndikat auf der Liste von Lucas Wainwright bestand aus acht Leuten, von denen drei eingetragene Besitzer waren. Als ihr Sprecher fungierte Philip Friarly. Eingetragene Besitzer waren Leute, die den Aufsichtsgremien genehm waren, die ihre Beiträge zahlten und sich an die Regeln hielten, die keinem Schwierigkeiten machten und die die eigentlichen Säulen dieser ganzen Industrie waren.

Syndikate stellten eine der Möglichkeiten dar, mehr Leute unmittelbar am Rennsport zu beteiligen, was gut für den Sport war, und die Trainingskosten aufzuteilen, was gut für die Besitzer war. Es gab Syndikate aus Millionären, Bergarbeitern, Rockgitarristen, Stammgästen von Pubs. Von der Hausfrau bis zum Bestattungsunternehmer konnte jeder Mitglied eines Syndikats werden — Eddy Keith hätte nur prüfen müssen, ob alle, die auf der jeweiligen Mitgliederliste standen, auch das waren, was sie zu sein behaupteten.

«Wir interessieren uns nicht für die registrierten Besitzer«, sagte ich,»sondern für die anderen.«

Wir waren auf dem Weg nach Tunbridge Wells und fuhren durch die Grafschaft Kent. Tunbridge Wells — das war ein durch und durch ehrbarer Ort. Wohnstätte pensionierter Obristen und Bridge spielender Damen. Rangierte in der nationalen Verbrechensstatistik unter» ferner liefen«. Gleichwohl war es der Wohnort eines gewissen Peter Rammileese, der nach Aussagen des Informanten von Lucas Wainwright die eigentlich treibende Kraft hinter den vier als suspekt angesehenen Syndikaten war, obwohl sein Name auf keiner der Listen stand.

«Mason ist in den Straßen von Tunbridge Wells zusammengeschlagen und dann liegengelassen worden, weil sie ihn wohl für tot hielten«, sagte ich in eher beiläufigem Ton.

«Das erzählst du mir jetzt!«»Möchtest du umkehren, Chico?«fragte ich.

«Hast du ’ne Vorahnung oder irgend so was?«

«Nein«, sagte ich nach einer Weile und fuhr ein bißchen sehr schnell um eine ziemlich scharfe Kurve.

«Hör mal, Sid«, meinte er,»wir fahren wohl besser nicht nach Tunbridge Wells. Wir kriegen doch unweigerlich eins drauf, bei diesem Spaßvergnügen.«

«Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?«

Er schwieg.

«Wir müssen hin«, sagte ich.

«Ja.«

«Wir müssen halt rausfinden, wonach Mason gefragt hat, und dann nicht danach fragen.«

«Dieser Rammileese«, sagte Chico,»was ist das für einer?«

«Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber von ihm gehört. Ein Bauer, der sich mit krummen Pferdegeschäften eine goldene Nase verdient hat. Der Jockey Club will ihn nicht als Besitzer registrieren, und die meisten Rennbahnen verwehren ihm den Zutritt. Er versucht’s mit Bestechung, bei allen, vom Obersteward bis zu den Stallburschen, und wenn Bestechung nichts fruchtet, dann droht er.«

«Ist ja reizend.«

«Vor nicht allzu langer Zeit haben zwei Jockeys und ein Trainer ihre Lizenz verloren, weil sie Bestechungsgelder von ihm angenommen haben. Einer der Jockeys wurde von seinem Stall gefeuert und ist so am Ende, daß er vor den Rennbahnen rumlungert und die Leute anbettelt.«

«Ist das der, mit dem ich dich vor kurzem hab reden sehen?«»Genau.«

«Und wieviel hast du ihm gegeben?«

«Das geht dich nichts an.«

«Du bist schnell weichzukriegen, Sid.«

«Ich hätte auch leicht in seine Lage kommen können«, sagte ich.

«Na klar. Ich seh’s richtig vor mir, wie du dich von einem krummen Pferdehändler schmieren läßt. Die wahrscheinlichste Sache der Welt.«

«Wie dem auch sei, wir müssen jedenfalls nicht herausfinden, ob Peter Rammileese vier Rennpferde manipuliert, was er mit Sicherheit tut, sondern ob Eddy Keith das weiß und schweigt.«

«Gut. «Wir fuhren ein Stück weiter in das ländliche Kent hinein. Nach einer Weile fragte Chico:»Weißt du eigentlich, warum wir im großen und ganzen so erfolgreich waren, seit wir in diesem Job zusammenarbeiten?«

«Warum denn?«

«Weil die Gangster dich alle kennen. Ich meine, sie kennen dich vom Sehen, die meisten jedenfalls. Und wenn sie dich in ihrem Revier rumschnüffeln sehen, kriegen sie das Flattern und fangen an, so blöde Sachen zu machen wie ihre Schläger auf uns zu hetzen. Und dadurch verraten sie sich, und wir kriegen mit, was sie treiben, und das wäre uns nicht gelungen, wenn sie sich nicht gerührt hätten.«

Ich seufzte und sagte:»Kann schon sein«- und dachte an Trevor Deansgate. Dachte an ihn und versuchte, es nicht zu tun. Wenn man gar keine Hände mehr hatte, konnte man auch nicht mehr Auto fahren… Nur nicht daran denken, sagte ich mir. Du darfst einfach nicht dran denken, sonst wirst du endgültig zum Waschlappen.

Ich fuhr erneut zu schnell um eine Kurve, was mir keinen Kommentar, wohl aber einen Seitenblick von Chico einbrachte.

«Guck auf die Karte«, sagte ich.»Oder tu sonst irgendwas Nützliches.«

Wir fanden das Haus von Peter Rammileese ohne große Schwierigkeiten und fuhren auf einen kleinen Bauernhof, der so aussah, als hätten die Außenbezirke von Tunbridge Wells einen Bogen darum gemacht, so daß er wie eine Insel im Meer davon abstach. Ein großes, dreigeschossiges Haus, ein neu erbauter Holzstall und eine lange, sehr hohe Scheune. Das Anwesen strahlte nicht unbedingt Wohlhabenheit aus, aber Brennesseln wucherten dort auch nicht gerade.

Kein Mensch zu sehen. Wir hielten an und stiegen aus.

«Haustür?«fragte Chico.

«Bei Bauernhäusern der Hintereingang.«

Wir waren erst ein paar Schritte in diese Richtung gegangen, als ein kleiner Junge aus einer der Türen der Scheune heraus- und atemlos auf uns zugerannt kam.

«Haben Sie den Krankenwagen mitgebracht?«rief er uns zu.

Er sah an mir vorbei auf mein Auto, und in seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Enttäuschung. Er hatte Reithosen und ein T-Shirt an, war etwa sieben Jahre alt und hatte geweint.

«Was ist denn los?«fragte ich.

«Ich hab angerufen, daß sie einen Krankenwagen herschicken… schon vor so langer Zeit.«

«Vielleicht können wir ja helfen«, sagte ich.

«Meine Mama«, sagte er.»Sie liegt da drin und will gar nicht wieder aufwachen.«

«Na los, dann bring uns mal zu ihr.«

Er war ein kräftiger kleiner Bursche mit braunem Haar und braunen Augen — und er hatte große Angst. Er lief zur Scheune zurück, und wir folgten ihm. Als wir eingetreten waren, sahen wir, daß es gar keine Scheune war, sondern eine Reithalle, etwa zwanzig mal fünfunddreißig Meter groß, die ihr Licht durch Fenster im Dach erhielt. Der Boden war mit einer dicken Schicht bräunlicher Sägespäne bedeckt, ein Belag, der gut für ein leichtes, geräuschloses Arbeiten von Pferden geeignet war.

Ein Pony und ein Reitpferd liefen im Kreis herum, und auf dem Boden lag eine zusammengekrümmte, weibliche Gestalt.

Chico und ich liefen schnell zu ihr hin. Die Frau war noch jung, lag auf der Seite, das Gesicht halb nach unten gedreht. Bewußtlos, wie mir schien, aber nicht sehr tief. Ihre Atmung war flach, und ihre Haut unter dem Make-up zeigte bleiche Flecken, aber der Puls an ihrem Handgelenk war gleichmäßig und kräftig. Der Sturzhelm, der ihr keinen Schutz geboten hatte, lag ein paar Meter entfernt in den Sägespänen.

«Los, ruf noch mal an«, sagte ich zu Chico.

«Sollten wir sie nicht erst mal hier rausholen?«fragte er.

«Nein, besser nicht… falls sie was gebrochen hat. Man kann eine Menge Schaden anrichten, wenn man Bewußtlose zu viel bewegt.«

«Auf dem Gebiet bist du ja wohl Experte. «Er drehte sich um und lief in Richtung Wohnhaus davon.

«Ist sie schlimm verletzt?«fragte der Junge ängstlich.»>Bingo< hat plötzlich gescheut, und da ist sie runtergefallen. Ich glaube, er hat ihr gegen den Kopf getreten.«

«>Bingo<, ist das das Pferd?«»Der Sattel ist verrutscht«, sagte er — und >Bingo<, den Sattel unter dem Bauch, bockte und schlug noch immer aus wie ein Rodeopferd.

«Und wie heißt du?«

«Mark.«

«Soweit ich das beurteilen kann, Mark, wird deine Mama bald wieder in Ordnung sein. Und du bist ein tapferer kleiner Kerl.«

«Ich bin sechs«, sagte er, als mache ihn das weit weniger klein. Aus seinen Augen war nun, da er Hilfe hatte, die schlimmste Angst gewichen. Ich kniete mich neben seine Mutter und strich ihr das braune Haar aus der Stirn. Sie gab ein leises Stöhnen von sich, und ihre Augenlider zuckten. Sie war in der kurzen Zeit seit unserem Eintreffen der Oberfläche schon deutlich nähergekommen.

«Ich hab gedacht, sie stirbt«, sagte der Junge.»Wir hatten vor kurzem ein Kaninchen. das keuchte so und machte die Augen zu, und wir konnten es nicht mehr wach kriegen, und dann ist es gestorben.«

«Deine Mutter wacht wieder auf.«

«Bestimmt?«

«Ja, Mark, da bin ich ganz sicher.«

Das schien ihn wirklich zu beruhigen, und er erzählte mir nun bereitwillig, daß das Pony > Sooty < hieß und ihm gehörte, daß sein Vater bis morgen früh verreist war, daß nur seine Mama und er da waren und daß die Mutter >Bin-go< ausbildete, um ihn dann an eine Frau zu verkaufen, die Springreiterin war.

Chico kehrte zurück und meldete, daß der Krankenwagen auf dem Wege sei. Der Junge, den das ungeheuer zu erleichtern schien, meinte, wir sollten doch noch die Pferde einfangen, weil sie so unruhig hin und her liefen und die Zügel so lose seien, und wenn Sattel und Zaumzeug kaputtgingen, dann würde sein Vater stinkwütend werden.

Chico und ich mußten über seine ernsthafte Erwachsenensprache lachen. Während er und Chico bei der Patientin Wache hielten, fing ich mit Hilfe von ein paar Zuk-kerstücken aus Marks Tasche die Pferde nacheinander ein und band sie an Halteringen fest, die in die Wand eingelassen waren. >Bingo< beruhigte sich sofort, als ich ihn endlich von den lästigen Riemen und dem Sattel befreite, und Mark ließ seine Mutter kurz allein, um seinem Pony ein paar ermutigende Klapse und noch ein Zuckerstück zu verabfolgen.

Chico berichtete mir derweil, daß beim Notdienst tatsächlich bereits vor mehr als einer Viertelstunde der Anruf eines Jungen eingegangen war, der aber wieder aufgelegt hatte, bevor sie ihn noch nach seiner Adresse hatten fragen können.

«Erzähl ihm das lieber nicht«, riet ich.

«Du bist vielleicht ein Softie.«

«Mark ist ein sehr tapferer kleiner Kerl.«

«Nicht schlecht für so einen kleinen Scheißer. Während du die widerspenstigen Gäule eingefangen hast, hat er mir erzählt, daß sein Daddy ziemlich oft stinkwütend wird. «Er blickte auf die noch immer bewußtlose Frau hinab.»Du glaubst doch wirklich, daß sie okay ist oder?«

«Sie kommt wieder hoch. Ist nur eine Frage der Zeit.«

Wenig später traf der Krankenwagen ein, und Marks Angst war in alter Stärke wieder da, als die Sanitäter seine Mutter auf eine Bahre legten, in den Wagen schoben und davonfahren wollten. Er wollte unbedingt mitfahren, aber die Männer waren nicht bereit, ihn ohne Begleitung mitzunehmen. Seine Mutter bewegte sich und murmelte etwas, was ihn stark beunruhigte.

Da sagte ich zu Chico:»Fahr du ihn ins Krankenhaus… fahr einfach dem Krankenwagen nach. Er muß sie bei vollem Bewußtsein sehen und erleben, daß sie wieder mit ihm spricht. Ich seh mich derweil mal im Haus um. Sein Vater ist bis morgen weg.«

«Wie praktisch«, sagte er ironisch. Er ließ Mark in den Scimitar klettern, und dann fuhren sie davon. Ich konnte durchs Rückfenster sehen, wie sie sich angelegentlich miteinander unterhielten.

Ich betrat das Haus mit der Selbstsicherheit des gebetenen Gastes. Kein Problem, in den Tigerkäfig zu steigen, wenn der Tiger nicht drin war.

Es war ein altes Haus, angefüllt mit einer aufdringlich neuen, opulenten Einrichtung, die einen fast erschlug. Flauschige Teppiche in knalligen Farben, riesige Stereoanlage, eine goldene Nymphe als Stehlampe und tiefe Sessel mit schwarz-braunem Zickzackmuster. Wohn- und Eßzimmer blitzsauber — kein Hinweis darauf, daß auch ein kleiner Junge hier wohnte. Die Küche aufgeräumt, hygienisch saubere Arbeitsflächen. Arbeitszimmer…

Die geradezu aggressive Ordentlichkeit des Arbeitszimmers machte mich stutzig und ließ mich nachdenken. Ich war noch nie einem Pferdehändler begegnet, der seine Papiere und Bücher derart säuberlich auf Kante stapelte. Und als ich die Bücher aufschlug, erwiesen sie sich als peinlich genau geführt und auf dem allerletzten Stand.

Ich blickte in Schubfächer und Aktenschränke und achtete dabei sorgfältigst darauf, daß ich nichts durcheinanderbrachte — aber ich fand nichts als eine Zurschaustellung größter Rechtschaffenheit. Keine einzige Schublade oder Schranktür war abgeschlossen. Es sah fast so aus, dachte ich zynisch, als ob das Ganze eine Bühnenkulisse wäre, darauf angelegt, ein ganzes Heer von Steuerprüfern zu beschämen. Die echten Bücher, soweit es überhaupt welche gab, hatte er wahrscheinlich in einer Keksdose irgendwo draußen im Garten vergraben.

Ich ging nach oben. Marks Zimmer war unschwer zu erkennen, aber alle seine Spielsachen waren in Schachteln, alle seine Anziehsachen in Kommoden geräumt. Es gab drei unbenutzte Schlafzimmer mit den Konturen zusammengelegten Bettzeugs unter den Tagesdecken und eine aus Schlaf-, Ankleide- und Badezimmer bestehende Suite, so teuer und reinlich ausstaffiert wie die unteren Räume.

Eine ovale, dunkelrote Badewanne mit goldenen Wasserhähnen in Gestalt von Delphinen. Ein riesiges Bett mit einer hellen, brokatenen Tagesdecke, die sich mit dem krampfigen Teppichboden biß. Keine Unordnung auf dem creme- und goldfarbenen, schnörkeligen Frisiertischchen, keine herumliegenden Bürsten im Ankleidezimmer.

Die Garderobe von Marks Mama bestand aus Pelzen, Flitter, Reithosen und — Jacken, die seines Papas aus derbem Tweed, Lamahaarmantel, einem Dutzend oder mehr Anzügen, keiner davon maßgeschneidert, aber alle ganz offensichtlich gekauft, weil sie teuer waren. Haufenweise Schwarzgeld, dachte ich, und nicht viel, was man damit anfangen konnte. Peter Rammileese war, wie es schien, mehr von Natur aus Betrüger als aus Notwendigkeit.

Auch hier herrschte die gleiche, unglaubliche Ordentlichkeit — in jedem Fach, auf jedem Regalbrett und selbst im Wäschekorb, in dem ein säuberlich zusammengefalteter Schlafanzug lag.

Ich durchsuchte die Taschen seiner Anzüge, aber es war nicht das geringste darin zu finden. Keinerlei Papiere oder Zettel im ganzen Ankleidezimmer.

Frustriert stieg ich in das zweite Obergeschoß hinauf, wo sich sechs weitere Räume befanden, von denen einer eine

Ansammlung leerer Koffer enthielt, die anderen gar nichts.

Niemand, dachte ich, als ich mich wieder nach unten begab, ließ eine so exzessive Vorsicht walten, wenn er nicht etwas zu verbergen hatte — eine Einsicht, die man dem Gericht aber wohl kaum als Beweismittel präsentieren konnte. Das gegenwärtige Leben der Familie Rammileese spielte sich in einem teuren Vakuum ab, und von ihrer Vergangenheit war keine Spur zu finden. Keine Souvenirs, keine alten Bücher, nicht einmal Fotos — mit Ausnahme eines neueren von Mark auf seinem Pony, das draußen im Hof aufgenommen worden war.

Ich sah mich gerade in den Nebengebäuden um, als ich Chico zurückkommen hörte. Außer sieben Pferden und den beiden in der Reithalle waren keine Tiere vorhanden, Hinweise auf irgendeine sonstige Bewirtschaftung auch nicht. In der Sattelkammer herrschten nur noch mehr Ordnung und Sauberkeit und der Geruch von Lederfett. Ich ging zu Chico hinaus, um mich zu erkundigen, was er mit Mark gemacht hatte.

«Die Schwestern stopfen ihn mit Keksen voll und versuchen, seinen Daddy zu erreichen. Mama ist bei Bewußtsein und spricht wieder. Und was hast du geschafft? Willst du fahren?«

«Nein, fahr du. «Ich setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz.»Dieses Haus ist der verdächtigste Fall von Ge-schichtslosigkeit, der mir je untergekommen ist.«

«Was du nicht sagst.«

«Doch. Und nicht die geringste Aussicht, eine Verbindung zu Eddy Keith festzustellen.«

«Also war die Fahrt umsonst«, sagte er.

«Ein Glück für Mark.«

«Ja. Ist schon ein herziger kleiner Scheißer. Hat mir erzählt, daß er mal Möbelpacker werden will. «Chico warf mir einen Blick zu und grinste.»Soweit er sich erinnern kann, sind sie schon dreimal umgezogen.«

Загрузка...