Kapitel 3

Ich rief die Gesamtschule in Nord-London an und fragte nach Chico Barnes.

«Er unterrichtet gerade Judo«, sagte eine strenge Stimme.

«Normalerweise ist aber sein Kurs um diese Zeit zu Ende.«

«Augenblick bitte.«

Ich wartete, fuhr weiter in Richtung London, die rechte Hand am Steuer, in der linken den Telefonhörer und prasselnden Regen auf der Windschutzscheibe. Man hatte das Auto auf Einhandlenkung umgerüstet, indem man ein in sich drehbares Griffstück auf das Steuerrad montiert hatte

— sehr einfach, sehr wirkungsvoll und mit dem Einverständnis der Polizei.

«Hallo?«

Das war Chicos fröhliche Stimme, die schon in diesem einen Wort seine jeden Respekts ermangelnde Weltsicht zum Ausdruck brachte.

«Willst du einen Job?«fragte ich.

«Aber klar doch. «Sein Grinsen war sogar durch die Leitung hindurch deutlich wahrzunehmen.»Es ist die ganze vergangene Woche viel zu ruhig gewesen.«

«Kannst du in meine Wohnung kommen?«

«Hm, ich habe da eine Zusatzstunde übernommen. Das heißt, sie haben sie mir aufs Auge gedrückt. Den Abendkurs für rüstige alte Damen. Von einem Kollegen, der krank geworden ist. Kann ich ihm nachempfinden. Von wo rufst du an?«

«Vom Wagen. Zwischen Kempton und London. Fahre noch beim Orthopädischen Versorgungszentrum in Roe-hampton vorbei, weil’s am Weg liegt, aber ich könnte… na, sagen wir mal… in anderthalb Stunden bei deiner Schule sein und dich da abholen. In Ordnung?«

«Sicher doch«, sagte er.»Was willst du denn in dem Prothesenladen?«

«Mit Alan Stephenson sprechen.«

«Der ist doch längst nach Hause.«

«Er hat mir gesagt, daß er heute länger bleibt.«

«Tut dein Arm wieder weh?«

«Nein… es geht nur um Schrauben und so.«

«Na gut«, sagte er,»wir seh’n uns dann.«

Ich legte mit einem Gefühl der Befriedigung, das Chico so gut wie immer in mir hervorrief, den Hörer auf. Es war gar keine Frage, daß er ein großartiger Arbeitskollege war— er war komisch, einfallsreich, ausdauernd und erstaunlich kräftig. Schon manch ein Ganove hatte zu spät erkannt, daß unser jugendlich-ranker Chico mit seinem jungenhaften Grinsen mit größter Leichtigkeit die schwersten Burschen über die Schulter werfen konnte.

Ich hatte ihn kennengelernt, als wir beide noch bei der Detektei Radnor arbeiteten, bei der ich meinen neuen Beruf erlernte. Es hatte sich mir dann die Möglichkeit eröffnet, zunächst Partner und schließlich sogar Eigner dieser Auskunftei zu werden. Radnor und ich hatten uns schon geeinigt, und wir hatten den Namen des Unternehmens bereits in Radnor-Halley geändert, da war Knall auf Fall alles ganz anders gekommen. Es muß gerade einen Tag vor Unterzeichnung der Verträge gewesen sein, alle finanziellen Fragen waren geklärt, und der Champagner war kalt gestellt, als sich der alte Radnor zu Hause in seinen Sessel setzte, um ein Nickerchen zu machen, aus dem er nicht wieder aufwachte.

Wie von einem Gummiband aus Kanada herübergeschnipst, erschien augenblicklich und unvermutet ein Neffe Radnors auf der Bildfläche, hielt mir ein Testament zu seinen Gunsten unter die Nase und forderte sein Recht. Er sei nicht gewillt, erklärte er ohne Umschweife, die Hälfte seines Erbes an einen einhändigen Ex-Jockey abzutreten — und dies schon gar nicht zu dem vereinbarten Preis. Nein, er selbst wolle den Laden übernehmen und ihm neues Leben einhauchen. Er würde zunächst einmal aus der alten, bombenbeschädigten Bruchbude in der Cromwell Road aus- und in moderne Büroräume umziehen, und wem dieser Ortswechsel nicht passe, der könne ja gehen.

Die meisten von der alten Crew waren an Bord geblieben, nur Chico hatte einen Wahnsinnskrach mit dem Neffen gehabt und daraufhin der Arbeitslosigkeit den Vorzug gegeben. Es dauerte aber nicht lange, da hatte er den neuen Job als Judolehrer gefunden, und als ich ihn das erste Mal um Hilfe anging, sagte er begeistert zu. Seitdem war ich, wie es schien, zum meistbeschäftigten Detektiv auf dem Gebiet des Pferderennsports geworden, und wenn das Radnors Neffen nicht paßte (wie man hörte, kochte er vor Wut), dann war das halt sein Pech.

Chico kam durch die gläserne Schwingtür der Schule gesaust, und das Licht in seinem Rücken ließ einen kleinen Heiligenschein um seinen Krauskopf entstehen. Damit war seine Heiligmäßigkeit allerdings auch schon erschöpft, denn der Mensch, der zu den Locken gehörte, war keineswegs langmütig, gottesfürchtig oder gar keusch.

Er schob sich auf den Beifahrersitz, grinste mich an und meinte:»Um die Ecke ist ein Pub mit einem ganz beachtlichen Paar Titten drin.«

Ergeben fuhr ich auf den Parkplatz des Pubs und folgte ihm in die Saloon Bar. Das Mädchen, das die Getränke ausschenkte, war, wie er gesagt hatte, von der Natur durchaus großzügig bedacht worden und begrüßte Chico zudem mit vielsagender Herzlichkeit. Ich hörte mir ihr flirtendes Geplauder an und zahlte die Getränke.

Nach einer Weile setzten wir uns auf eine Bank an der Wand, und Chico ging sein erstes Glas Bier mit jenem Durst an, der durch ein Zuviel an körperlicher Ertüchtigung entsteht.»So ist’s besser«, sagte er, setzte sein Glas kurzzeitig ab und betrachtete das meine.»Ist das etwa reiner Orangensaft?«

Ich nickte.»Ich mußte heute schon den ganzen Tag über dauernd irgendwas trinken.«

«Ich weiß wirklich nicht, wie du mit all dem Luxus und Wohlleben fertig wirst.«

«Spielend.«

«Aha. «Er trank sein Glas leer, ging sich Nachschub holen, blieb noch ein bißchen mit dem Mädchen im Clinch und kehrte schließlich zu mir zurück.»Wo soll ich denn mal wieder hin, Sid? Und was tun?«

«Newmarket. Kleiner Zug durch die Gemeinde.«

«Klingt gar nicht so übel.«

«Schau dich dort mal nach einem Mann namens Paddy Young um. Er ist der Stallmeister von George Caspar. Stell fest, wo er einkehrt, und versuch, irgendwie mit ihm ins Gespräch zu kommen.«

«Gut.«

«Wir möchten gern wissen, wo drei Pferde abgeblieben sind, die in seinem Stall gestanden haben.«»So, möchten wir das?«

«Es gibt eigentlich keinen Grund, warum er dir das nicht erzählen sollte. Jedenfalls sehe ich keinen.«

Chico blickte mich an.»Und warum fragst du nicht George Caspar direkt? Wäre doch einfacher, oder?«

«George Caspar soll vorläufig nicht erfahren, daß wir uns für Pferde von ihm interessieren.«

«Ach, so ist das!«

«Keine Ahnung. «Ich seufzte.»Die drei Pferde heißen jedenfalls >Bethesda<, >Gleaner< und >Zingaloo<.«

«Okay, ich fahre morgen rauf. Sollte nicht allzu schwer sein. Soll ich dich anrufen?«

«So bald wie möglich.«

Er sah mich von der Seite an.»Was hat denn der Prothesenheini gesagt?«

«Hallo, Sid, schön, Sie zu sehen.«

Er gab einen resignierten Seufzer von sich.»Genausogut könnte man eine Backsteinwand fragen.«

«Er meinte, das Schiff habe kein Leck und könne seine Fahrt fortsetzen.«

«Besser als gar nichts.«

«Du sagst es.«

Ich fuhr — wie von Charles vorhergesehen — am Samstagnachmittag nach Aynsford hinaus und spürte, wie sich mit jeder Meile meine finstersten Befürchtungen verdichteten. Um mich abzulenken, dachte ich über die Neuigkeiten nach, die mir Chico mittags aus Newmarket durchgegeben hatte.

«Ich hab ihn«, sagte er.»Ist ein solide verheirateter Mann, der jeden Freitagabend brav seine Lohntüte zu

Hause abliefern muß, aber eben hat er sich auf ein schnelles Bierchen verdrücken können. Der Pub liegt fast neben dem Stall, sehr praktisch. Tja, falls ich richtig verstanden habe, was er mir erzählt hat… er spricht mit so dickem irischem Akzent, daß man denkt, man hätte es mit ’nem Ausländer zu tun… also, es lief darauf hinaus, daß alle drei Pferde in die Zucht gekommen sind.«

«Wußte er auch, wohin?«

«Sicher. >Bethesda< ging an einen Stall in Gloucestershire, Garvey oder so, und die anderen beiden sind bei einem Gestüt hier in der Nähe von Newmarket gelandet, das Paddy Young zufolge Traces heißt. Jedenfalls hab ich’s so verstanden, seine Aussprache ist wirklich fürchterlich.«

«Thrace«, sagte ich.»Henry Thrace.«

«Ja? Na, dann siehst du ja vielleicht auch einen Sinn in dem, was er sonst noch so zu sagen wußte. Zum Beispiel, daß >Gleaner< Tritus und >Zingaloo< ’nen Virus gehabt und Bruttersmit bei beiden ganz schnell >Daum runter< gemacht hat.«

«>Gleaner< hatte was?«

«Tritus.«

Ich versuchte, mir den Satz»>Gleaner< hatte Tritus «irisch vorzusprechen, und gelangte zu >»Gleaner< hatte Arthritis«, was schon sehr viel wahrscheinlicher klang.»… und Brothersmith hat ganz schnell die Daumen nach unten gedreht.«

«Genau«, sagte er,»das ist es.«

«Die Pubs machen noch nicht gleich zu«, sagte ich.»Könntest du noch versuchen herauszubekommen, ob dieser Brothersmith der Tierarzt von George Caspar ist? Und wenn ja, dann such doch seine Adresse und Nummer aus dem Telefonbuch heraus.«

«Geht in Ordnung. Sonst noch was?«

«Nein. «Ich überlegte kurz.»Chico, hör mal, hattest du den Eindruck, daß Paddy Young die Erkrankung der Pferde irgendwie seltsam fand?«

«Kann ich eigentlich nicht sagen. Schien ihm relativ egal zu sein. Ich hab ihn nur so ganz beiläufig gefragt, wo sie denn hingekommen seien, und er erzählte es mir und gab den Rest einfach so dazu. Man könnte vielleicht sagen, daß er das alles eher philosophisch sieht.«

«Na schön«, sagte ich,»dann also erst einmal vielen Dank.«

Wir legten auf, und schon eine Stunde später rief er mich erneut an, um mitzuteilen, daß Brothersmith tatsächlich George Caspars Tierarzt war, und mir seine Adresse durchzugeben.

«Wenn das alles ist, Sid… also, in ungefähr einer halben Stunde fährt ein Zug, und irgendwo in der Gegend von Wembley wartet eine muntere Mieze auf mich, der ich den Samstagabend verderbe, wenn ich nicht rechtzeitig da bin.«

Je länger ich über Chicos Bericht und Bobby Unwins Bemerkungen nachdachte, desto weniger einleuchtend erschien mir Rosemarys Verdacht. Aber ich hatte ihr nun mal versprochen, der Sache nachzugehen, und das würde ich eben noch ein Weilchen tun. Zumindest so lange, wie ich benötigte, um das Schicksal von >Bethesda<, >Gleaner< und >Zingaloo< zu klären und mit Brothersmith, dem Tierarzt, zu sprechen.

Aynsfords gereifte Sandsteinschönheit war unverändert, aber die narzissengesprenkelte Ruhe, die herrschte nur draußen vor dem Haus. Ich brachte das Auto zum Stehen und wünschte, ich müßte nicht hineingehen.

Als spüre er, daß ich noch in diesem Augenblick wieder umkehren und davonfahren könnte, kam Charles eilends aus dem Haus und über den Kiesweg auf mich zu. Er hatte nach mir Ausschau gehalten, dachte ich. Gewartet. Gewollt, daß ich komme.

«Sid«, sagte er, öffnete die Fahrertür und beugte sich lächelnd herab.»Wußte doch, daß du kommen würdest.«

«Du hast’s gehofft«, sagte ich.

Ich stieg aus.

«Also gut. «Das Lächeln verschwand nicht aus seinen Augen.

«Gehofft. Aber ich kenne dich doch auch.«

Ich blickte am Haus empor und sah nur leere Fenster, in denen sich ein grauer Himmel spiegelte.

«Ist sie da?«erkundigte ich mich.

Er nickte. Ich drehte mich um, ging zum Kofferraum und holte meinen Koffer heraus.

«Na los«, sagte ich,»bringen wir’s hinter uns.«

«Sie ist ziemlich durcheinander«, sagte er, neben mir auf das Haus zugehend.»Sie braucht dein Verständnis.«

Ich sah ihn an und sagte:»Hm. «Wir beendeten unseren kurzen Gang schweigend und betraten das Haus.

Jenny war da, stand im Flur.

Ich hatte mich noch immer nicht an den Schmerz gewöhnt, der mich jedesmal durchzuckte, wenn ich sie wiedersah, was allerdings seit unserer Trennung nicht sehr häufig der Fall gewesen war. Ich sah sie stets so, wie ich sie am Anfang unserer Beziehung gesehen hatte — ein Mädchen von nicht eben klassischer Schönheit, aber doch sehr hübsch mit dem braungelockten Haar, der sehr ansprechenden Figur und der ganz eigenen Art, den Kopf erhoben zu halten wie ein Vogel, der wachsam um sich blickt. Das Lächeln auf ihren leicht geschwungenen Lippen und die Wärme in ihrem Blick waren dahin, aber ich erwartete noch immer mit hoffnungsloser Nostalgie, daß beides wieder erscheinen würde.

«Da bist du also doch gekommen«, sagte sie.»Ich wollte es einfach nicht glauben.«

Ich stellte den Koffer ab und holte — wie immer — tief Luft.»Es war Charles’ Wunsch«, sagte ich. Ich ging die paar Schritte auf sie zu, und wir küßten uns — wie immer — flüchtig auf die Wange. Wir hatten diese Angewohnheit beibehalten — als äußeres, allen sichtbares Zeichen einer zivilisierten Trennung. Insgeheim aber kam es mir eher vor wie das Begrüßungsritual vor einem Duell.

Charles schüttelte angesichts des offensichtlichen Mangels an echter Zuneigung ungeduldig den Kopf und ging uns ins Wohnzimmer voran. Er hatte in der Vergangenheit alles getan, uns zusammenzuhalten, aber der Kitt, der Eheleute verbindet, muß nun mal von innen kommen — und unserer war spröde geworden und zerbröselt.

Jenny sagte:»Was diese gräßliche Geschichte anbetrifft, so möchte ich keine schulmeisterlichen Belehrungen von dir hören, Sid.«

«Nein.«

«Du bist auch nicht vollkommen, auch wenn du dir das gern einredest.«

«Laß es gut sein, Jenny«, sagte ich.

Ganz abrupt schritt sie ins Wohnzimmer davon, und ich folgte ihr langsam. Sie würde mich einmal mehr benutzen und dann wieder fallenlassen, dachte ich, und um Charles’ willen würde ich mitspielen. Es überraschte mich, daß ich nicht den geringsten Wunsch verspürte, sie zu trösten. Es hatte ganz den Anschein, als sei die Verbitterung doch noch stärker als das Mitgefühl.

Sie und Charles waren nicht allein. Als ich das Wohnzimmer betrat, hatte sie es schon durchquert und stand nun neben einem großgewachsenen, blonden Mann, dem ich schon begegnet war. Und neben Charles stand ein Fremder, ein untersetzter, altersloser Mensch mit dem rosigen Gesicht des Landbewohners, das allerdings so gar nicht zu dem harten Blick seiner Augen passen wollte.

Charles sagte mit größtmöglicher Verbindlichkeit:»Du kennst Toby, nicht wahr, Sid?«, und Jennys Schutz und Schirm und ich nickten einander zu, wobei wir beide das schwächliche Lächeln einer Bekanntschaft hervorbrachten, auf die wir nur zu gern verzichtet hätten.»Und das, Sid, ist mein Anwalt Oliver Quayle, extra vom Golfplatz hergekommen. Sehr nett von ihm.«

«Sie sind also Sid Halley«, sagte der alterslose Mann und reichte mir die Hand. Seine Stimme verriet nichts, aber sein Blick glitt an mir hinunter und zur Seite, versuchte, die halb verborgene Hand zu erspähen, was mir verriet, daß er im Bilde war. Ich erlebte das sehr häufig. Quayle blickte mir wieder in die Augen — und sah, daß ich wußte, was ihn bewegt hatte. Seine unteren Augenlider zuckten kaum wahrnehmbar, das war alles. Beide Seiten hatten ihr Urteil ausgesetzt, dachte ich.

Charles’ Mund verzog sich ein wenig, als er begütigend meinte:»Ich habe Sie ja gewarnt, Oliver. Wenn Sie nicht wollen, daß er Ihre Gedanken errät, dürfen Sie mit keiner Wimper zucken.«

«So wie du«, sagte ich zu ihm.

«Ich habe diese Lektion ja auch schon vor Jahren gelernt.«

Er lud uns zum Sitzen ein, und wir ließen uns alle fünf in bequemen, mit blaßgoldenem Brokat bezogenen Sesseln nieder.

«Ich habe Oliver gesagt«, fuhr Charles nun fort,»daß, wenn überhaupt jemand, nur du diesen Nicholas Ashe finden kannst.«

«Ist schon wahnsinnig praktisch«, sagte Toby gedehnt,»einen Klempner in der Familie zu haben, wenn man einen Rohrbruch hat.«

Das war schon beinahe eine Beleidigung, aber ich entschied auf Zweifelsfall und somit zugunsten des Beklagten, obwohl ich eigentlich nicht den geringsten Zweifel hatte. Dann fragte ich niemand Bestimmten, ob die Polizei das nicht viel schneller bewerkstelligen könne.

«Das Problem ist«, sagte Quayle,»daß es rein rechtlich gesehen allein Jenny ist, die unter Vorspiegelung falscher Tatbestände anderen Leuten Geld abgeknöpft hat. Die Polizei hat sich unsere Geschichte natürlich angehört, und der leitende Beamte scheint Jenny bemerkenswert gewogen zu sein, aber. «Er zuckte langsam mit den schweren Schultern — und dies in geschickter Weise so, daß sich in seiner Geste Anteilnahme und Resignation miteinander verbanden,»… es ist anzunehmen, daß sich die Polizei im Endeffekt lieber an das hält, was sie in Händen hat.«

«Aber dieser Ashe hat das doch alles ausgeheckt«, protestierte Toby.

«Können Sie das beweisen?«fragte Quayle.

«Fragt doch Jenny«, erwiderte Toby, als sei Jennys Aussage Beweis genug.

Quayle schüttelte den Kopf.»Wie ich schon zu Charles gesagt habe, lassen alle von ihr unterzeichneten Schriftstücke den Schluß zu, daß sie von dem betrügerischen Charakter der ganzen Unternehmung gewußt hat. Und Unwissenheit schützt nun mal, selbst wenn sie echt ist, kaum oder gar nicht vor Strafe.«

«Einmal angenommen, ich fände ihn«, sagte ich.»Was wollen Sie denn machen, wenn gar keine Beweise gegen ihn vorliegen?«

Quayle blickte aufmerksam in meine Richtung.»Ich hoffe doch, daß Sie, wenn Sie ihn finden, auch entsprechendes Beweismaterial entdecken.«

Jenny setzte sich gerader als gerade auf und sagte mit einer Stimme, die vielleicht vor Angst, mit Sicherheit aber vor Wut scharf klang:»Das ist doch alles Blödsinn, Sid. Warum sagst du nicht gerade heraus, daß du dem Job nicht gewachsen bist?«

«Das weiß ich doch noch gar nicht.«

«Es geht einem wirklich zu Herzen«, sagte sie, an Quayle gewandt,»wie er, seit er diese Behinderung hat, dauernd beweisen muß, daß er ein ganz Schlauer ist.«

Der Spott in ihrer Stimme verursachte Quayle und Charles sichtliches Unbehagen, und ich dachte traurig, daß ich das wohl in ihr zum Vorschein gebracht hatte — dieses geradezu zwanghafte Bedürfnis zu verletzen. Viel mehr als ihre Worte ging mir nahe, daß sie Quayle gegenüber nicht der fröhliche Mensch sein konnte, der sie nach wie vor sein würde, wenn ich nicht dabei wäre.

«Sollte ich Nicholas Ashe finden«, sagte ich grimmig,»werde ich ihn an Jenny ausliefern. Armer Kerl.«

Keiner der Anwesenden fand das sonderlich passend. Quayle sah desillusioniert aus, Toby ließ erkennen, daß er mich verachtete, und Charles schüttelte bekümmert das Haupt. Nur Jenny war unbeschadet ihrer Verärgerung insgeheim befriedigt. Es gelang ihr inzwischen nur noch selten, mich zu einer Reaktion auf ihre Kränkungen zu provozieren, und sie rechnete es sich wohl als Sieg an, daß ich diesmal schwach geworden war — und mir nichts als Mißbilligung eingehandelt hatte. Meine eigene Schuld. Es gab nur eine Möglichkeit, sie nicht sehen zu lassen, daß ihre Stiche saßen, nämlich zu lächeln… aber der Gegenstand unseres Gesprächs war nun mal nicht im geringsten komisch.

Etwas ruhiger bemerkte ich:»Vielleicht gibt es ja Ansatzpunkte, wenn ich ihn finde. Ich werde mein Bestes tun. Wenn ich in irgendeiner Weise hilfreich sein kann. dann stehe ich zur Verfügung.«

Jenny sah überhaupt nicht versöhnt aus, und die anderen schwiegen. Ich stieß innerlich einen Seufzer aus.»Wie sah er denn eigentlich aus?«fragte ich.

Charles sagte nach einer Weile:»Ich habe nur einmal mit ihm zu tun gehabt, etwa dreißig Minuten lang, vor vier Monaten. Habe allenfalls einen sehr allgemeinen Eindruck von ihm, mehr nicht. Jung, von angenehmem Äußerem, dunkelhaarig, glattrasiert. Für meinen Geschmack ein bißchen zu schmeichlerisch. Ich hätte ihn nicht gern als jungen Offizier bei mir an Bord gehabt.«

Jenny preßte die Lippen zusammen und sah von ihm weg, konnte aber gegen dieses Urteil keinen Einspruch erheben. Ich spürte die ersten, schwachen Regungen von Mitleid mit ihr und versuchte sofort, sie zu ersticken, denn sie würden mich nur verwundbarer machen, und darauf konnte ich gern verzichten.

«Haben Sie ihn mal kennengelernt?«fragte ich Toby.

«Nein«, antwortete er hochnäsig,»nein, das habe ich nicht.«

«Toby war in Australien«, fügte Charles erklärend hinzu.

Alle warteten. Es ließ sich nicht vermeiden. Ich wandte mich an Jenny und sagte möglichst ausdruckslos:»Jenny?«

«Er war amüsant«, brach es unerwartet heftig aus ihr hervor.

«Mein Gott, was war er amüsant! Und nach dir…«Sie verstummte. Sie wandte sich mir zu und sah mich mit bitterem Blick an.»Er war so voller Leben und immer zu Scherzen aufgelegt. Er brachte mich zum Lachen. Er war großartig, machte alles hell und leicht. Es war wie… war wie…«Sie fing plötzlich an zu stottern, schwieg — und ich wußte, daß sie an unsere erste Zeit dachte. Jenny, dachte ich verzweifelt, sprich’s nicht aus, bitte nicht.

Vielleicht war das selbst für sie zuviel. Wie konnten Menschen, fragte ich mich sinnloserweise zum x-ten Mal, die sich einmal sehr geliebt hatten, einander so fremd werden? Doch die Veränderung in uns war nicht rückgängig zu machen, und keiner von uns beiden würde es auch nur versuchen. Es war nicht möglich, das Feuer war erloschen. Nur noch ein paar Scheite glommen in der Asche, flammten bei unvorsichtiger Berührung plötzlich auf.

Ich schluckte.»Wie groß war er?«fragte ich.

«Größer als du.«

«Alter?«

«Neunundzwanzig.«

Genauso alt wie Jenny. Zwei Jahre jünger als ich. Vorausgesetzt, er hatte die Wahrheit gesagt. Ein Betrüger log unter Umständen schon aus bloßer Vorsicht grundsätzlich immer.

«Wo wohnte er, während er. äh. seine Geschäfte einfädelte?«

Jenny war zu keiner Auskunft bereit, weshalb Charles für sie einsprang:»Er hat Jenny erzählt, er wohne bei einer Tante, aber nach seinem Verschwinden haben Oliver und ich das überprüft. Seine Tante stellte sich als Hausbesitzerin im Norden von Oxford heraus, die Zimmer an Studenten vermietet. In jedem Falle aber«- er räusperte sich —»ist er wohl schon bald von dort in die Wohnung umgezogen, die sich Jenny zusammen mit einer anderen jungen Frau gemietet hat.«

«Er hat bei dir gewohnt?«fragte ich Jenny.

«Und wieso nicht?«Sie war bockig und irgendwie.

«Hat er, als er verschwand, etwas zurückgelassen?«

«Nein.«

«Überhaupt nichts?«

«Nein.«

«Möchtest du eigentlich, daß er gefunden wird?«fragte ich weiter.

Für Charles und Quayle und Toby lautete die Antwort ganz zweifellos ja, aber Jenny sagte nichts, und die Röte, die ihr vom Hals her ins Gesicht stieg, bildete auf ihren Wangen zwei leuchtende Flecken.

«Er hat dir großen Schaden zugefügt«, sagte ich.

Mit trotzig steifem Nacken sagte sie:»Oliver meint, ich käme dafür nicht ins Gefängnis.«

«Aber, Jenny!«Ich war fassungslos.»Eine Verurteilung wegen Betrugs wird dein ganzes Leben auf alle mögliche, schlimme Weise verändern. Mir ist schon klar, daß du ihn gemocht, vielleicht sogar geliebt hast. Aber er ist doch nicht einfach nur ein ungezogener kleiner Junge, der sich einen dummen Streich erlaubt hat. Nein, der hat alles mit Bedacht so gedeichselt, daß nicht ihn, sondern dich die Strafe trifft. Deshalb will ich ihn zu fassen kriegen, selbst wenn dir das nicht recht sein sollte.«

Charles erhob erregt Einspruch.»Aber das ist doch lächerlich, Sid. Natürlich will sie, daß er seine gerechte Strafe bekommt. Sie war ja auch damit einverstanden, daß du den Versuch unternimmst, ihn zu finden. Sie will es, das ist doch gar keine Frage.«

Ich seufzte und zuckte die Achseln.»Sie hat nur dir zuliebe zugestimmt. Und weil sie fest damit rechnet, daß ich nicht zum Erfolg kommen werde, womit sie wahrscheinlich recht hat. Schon die bloße Andeutung der Möglichkeit eines solchen Erfolges schreckt sie auf und macht sie wütend… es wäre nicht das erste Mal, daß eine Frau den Ganoven, der sie ruiniert hat, weiterhin liebt.«

Jenny stand auf, starrte mich mit blinden Augen an und verließ das Zimmer. Toby machte Anstalten, ihr nachzugehen, und auch Charles erhob sich. Mit einigem Nachdruck sagte ich:»Gehen Sie doch bitte zu ihr, Mr. Quayle, und machen Sie ihr klar, welche Konsequenzen eine Verurteilung für sie hat. Sagen Sie’s ihr mit brutaler Deutlichkeit, verpassen Sie ihr einen Schock, damit sie es endlich begreift.«

Er war schon selbst zu diesem Schluß gekommen und auf dem Weg zu ihr, bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte.

«Das war nicht besonders nett«, sagte Charles.»Wir haben uns bemüht, sie zu schonen.«

«Sie können doch von Halley nicht erwarten, daß er Mitleid mit ihr hat«, sagte Toby gehässig.

Ich sah ihn mir an. Nicht der hellste Kopf unter der Sonne, aber Jenny hatte ihn sich als anspruchslosen Begleiter erwählt — die ruhige See nach dem Sturm. Vor ein paar Monaten war sie schon soweit gewesen, ihn zu heiraten, aber ob sie das auch noch post Ashe tun würde, erschien mir fraglich. Er schenkte mir den ihm eigenen hochnäsigen, verständnislosen Blick und kam zu dem Schluß, daß Jenny seiner unverzüglich bedürfe.

Charles sah ihm nach und sagte mit einem Anflug matter Verzweiflung:»Ich verstehe sie schlicht und einfach nicht. Aber du, du brauchst ganze zehn Minuten, um herauszufinden… was ich nie und nimmer bemerkt hätte. «Er blickte mich düster an.»Es war also recht sinnlos zu versuchen, ihr Mut zu machen, wie ich das getan habe?«

«Ach, Charles, was für ein elender Schlamassel. Es hat nicht geschadet, sondern ihr nur geholfen, ihn zu entschuldigen. diesen Ashe. und den Moment aufzuschieben, in dem sie sich selbst eingestehen muß, daß sie einen verhängnisvollen. einen beschämenden. Fehler begangen hat.«

Der Kummer hatte die Falten in seinem Gesicht tiefer gemacht. Er sagte ernst:»Es ist schlimmer. Schlimmer, als ich gedacht habe.«

«Trauriger«, entgegnete ich,»nicht schlimmer.«

«Glaubst du, daß du ihn finden kannst?«fragte er.»Wo, um alles in der Welt, willst du bloß anfangen?«

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