Kapitel 4

Ich fing am folgenden Morgen an, ohne Jenny noch einmal gesehen zu haben. Sie war am Abend in Gesellschaft ihres Freundes Toby mit hoher Geschwindigkeit nach Oxford davongebraust und hatte Charles und mich — zu unser beider Erleichterung — einem einsamen Nachtmahl überlassen. Sie waren dann erst sehr spät zurückgekommen und bis zum Augenblick meiner Abfahrt noch nicht zum Frühstück erschienen.

Der Beschreibung von Charles folgend, fuhr ich zu Jennys Wohnung in Oxford und klingelte dort. Das Schloß, dachte ich nach eingehenderer Betrachtung, würde mir wohl keine Probleme bereiten, falls niemand zu Hause war, aber nach dem zweiten Klingeln öffnete sich die mit einer Kette versehene Tür einen kleinen Spalt.

Ich erblickte ein Auge, ein bißchen zerzaustes Blondhaar, einen nackten Fuß und einen Streifen dunkelblauen Morgenrock.

«Louise McInnes?«fragte ich.

«Ja, Sie wünschen?«

«Dürfte ich Sie wohl mal kurz sprechen? Ich bin Jennys. äh. Ex-Mann. Ihr Vater hat mich gebeten, ihr zu helfen.«

«Sie sind Sid?«sagte sie und klang überrascht.»Sid Hal-ley?«

«Ja.«

«Einen Augenblick. «Die Tür schloß sich und blieb ziemlich lange zu. Endlich tat sie sich wieder auf, diesmal weit, und ließ mich das ganze Mädchen sehen. Es trug jetzt Jeans, ein kariertes Hemd, einen viel zu weiten, blauen Pullover und Slipper. Die Haare waren gekämmt, die Lippen geschminkt — ein unaufdringliches Rosa.

«Kommen Sie herein.«

Ich trat ein und schloß die Tür hinter mir. Jennys Wohnung war, wie ich nicht anders erwartet hatte, keine Bruchbude. Sie befand sich in einem großen viktorianischen Haus in einer vornehmen Seitenstraße, das über eine eigene, halbkreisförmige Zufahrt vorn und Parkplätze auf der Rückseite verfügte. Jennys weitläufige Behausung, die man durch ein eigenes, später angebautes Treppenhaus erreichte, nahm den ganzen ersten Stock ein. Charles hatte mir anvertraut, daß sie sie mit einem Teil der ihr bei der Scheidung zuerkannten Abfindung gekauft hatte, und es freute mich zu sehen, daß mein Geld im großen und ganzen gut angelegt worden war.

Lampen anknipsend, führte mich die junge Frau in ein großes Wohnzimmer mit halbrundem Erker, in dem die Vorhänge noch zugezogen waren und Tische, Stühle und Fußboden von den Beschäftigungen des Vortages zeugten. Zeitungen, ein Mantel, abgestreifte Schuhe, Kaffeetassen, ein leerer Joghurtbecher mit Löffel in einer Obstschale, ein paar dahinsiechende Narzissen, eine Schreibmaschine mit abgenommenem Deckel, ein paar zusammengeknüllte Blätter, die den Papierkorb verfehlt hatten — das alles stand und lag und hing wahllos herum.

Louise McInnes zog die Vorhänge auf und ließ den grauen Morgen das elektrische Licht verdünnen.

«Ich war noch nicht auf«, sagte sie unnötigerweise.

«Tut mir leid.«

Das Durcheinander war ihr Werk. Jenny war stets sehr ordentlich gewesen, räumte immer auf, bevor sie zu Bett ging. Das Zimmer insgesamt aber war ihres, wie ein paar Stücke aus Aynsford und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wohnzimmer in unserem früheren, gemeinsamen Haus zeigten. Die Liebe mochte sich wandeln, aber der Geschmack blieb unverändert. Ich fühlte mich hier als Fremder — und gleichzeitig zu Hause.

«Möchten Sie einen Kaffee?«fragte sie.

«Nur wenn.«

«Aber ja doch. Ich mache mir auf jeden Fall einen.«

«Kann ich behilflich sein?«

«Wenn Sie möchten.«

Sie führte mich über den Flur in eine kahl wirkende Küche. Ihr Verhalten war nicht gerade abweisend, aber doch sehr kühl. Eigentlich nicht verwunderlich. Jenny hielt mit ihren Ansichten über mich wohl kaum hinter dem Berg, und was sie diesbezüglich von sich gab, enthielt aller Voraussicht nach nicht viel Gutes.

«Auch einen Toast?«Sie stellte ein Paket Weißbrot in Scheiben und Pulverkaffee auf den Tisch.

«Gern.«

«Dann tun Sie zwei Scheiben in den Toaster. Da drüben.«

Ich tat wie geheißen, während sie Wasser in einen elektrischen Kessel füllte und dann aus einem Schrank Butter und Orangenmarmelade hervorkramte. Die angebrauchte Butter steckte noch im aufgerissenen Einwickelpapier, die Mitte war ausgehöhlt und das Ganze eine ziemlich schmierige Angelegenheit — genau wie das Butterstück in meiner Wohnung. Jenny hatte sie immer ganz automatisch in eine Butterdose getan. Ich fragte mich, ob sie das auch tat, wenn sie allein war.

«Milch und Zucker?«

«Keinen Zucker.«

Als die Weißbrotscheiben im Toaster hochschnellten, nahm sie sie heraus, bestrich sie mit Butter und Marmelade und legte sie auf zwei Teller. Dann übergoß sie das Kaffeepulver in den Bechern mit kochendem Wasser und gab Milch direkt aus der Flasche hinein.

«Nehmen Sie die Becher«, sagte sie,»ich nehme den Toast.«

Sie griff nach den Tellern und sah aus dem Augenwinkel, wie sich meine linke Hand um den einen Becher schloß.»Vorsicht«, sagte sie schnell,»das ist heiß.«

Ich umfaßte den Kaffeebecher behutsam mit den Fingern, die nichts spürten.

Sie riß die Augen auf.

«Einer der Vorteile«, sagte ich und hob den anderen Becher weitaus vorsichtiger am Henkel hoch.

Sie sah mich an, sagte aber nichts, sondern drehte sich um und ging ins Wohnzimmer zurück.

«Hatte ich doch glatt vergessen«, sagte sie, als ich die Becher auf dem Platz abstellte, den sie schnell auf dem niedrigen Couchtisch freigeräumt hatte.

«Dritte Zähne sind weitaus häufiger«, sagte ich höflich. Sie hätte beinahe gelacht, und obwohl am Ende ein unentschiedenes Stirnrunzeln daraus wurde, gab die ganz kurz spürbar gewordene Wärme doch einen Blick auf den wahren Menschen frei, der sich hinter der etwas schroffen Fassade verbarg. Sie biß in ihren Toast, sah nachdenklich vor sich hin und sagte dann:»Was wollen Sie denn tun, um Jenny zu helfen?«

«Versuchen, Nicholas Ashe zu finden.«

«Oh. «Wieder flackerte ein spontanes Lächeln auf, das gleich darauf von einem Nachgedanken vertrieben wurde.

«Mochten Sie ihn?«fragte ich. Sie nickte wehmütig.»Leider ja. Er ist… war… so ungeheuer amüsant. Ein prima Kumpel. Ich kann noch gar nicht glauben, daß er einfach auf und davon ist und Jenny in diesem ganzen Schlamassel sitzengelassen hat. Ich meine… na ja, er hat doch hier gewohnt, in dieser Wohnung… und wir haben soviel zu lachen gehabt… Was er da gemacht hat… es ist nicht zu fassen.«

«Würde es Ihnen was ausmachen, mir die ganze Geschichte mal von Anfang an zu erzählen?«

«Aber hat Jenny das nicht…«

«Nein.«

«Ich nehme an«, sagte sie langsam,»daß es ihr schwerfällt, Ihnen gegenüber zuzugeben, wie er uns hereingelegt hat.«

«Wie sehr hat sie ihn geliebt?«fragte ich.

«Geliebt? Was ist Liebe? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie war in ihn verliebt, ja. «Sie leckte sich die Finger ab.»Sie war wie beschwipst, ausgelassen und heiter, im siebten Himmel.«

«Waren Sie schon mal dort? Im siebten Himmel?«

Sie sah mir gerade in die Augen.»Sie meinen, ob ich weiß, wie das ist? Ja, das weiß ich. Falls Sie meinen, ob ich in Nicky verliebt war, dann lautet die Antwort nein. Er war ein netter Kerl, aber er törnte mich nicht so an wie Jenny. Und außerdem war sie es ja, die ihn anzog. So schien es zumindest«, schloß sie unsicher. Sie hielt ihre abgeleckten Finger in die Luft.»Würden Sie mir bitte mal die Schachtel mit den Papiertüchern geben, die hinter Ihnen steht?«

Ich reichte ihr die Schachtel und sah zu, wie sie sich die Finger sauberwischte. Sie hatte helle Wimpern, einen Teint, der an englische Rosen gemahnte, und ein Gesicht, das sich von aller Scheu befreit hatte. Sie war noch zu jung, als daß das Leben schon unmißverständliche Spuren darauf hinterlassen hätte, aber ihr natürlicher Ausdruck schien weitgehend frei von Zynismus oder Intoleranz zu sein. Ein nüchtern denkendes, gescheites Mädchen.

«Ich weiß eigentlich gar nicht, wo die beiden sich kennengelernt haben«, sagte sie.»Nur, daß es irgendwo hier in Oxford war. Ich kam eines Tages nach Hause, und da war er, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die beiden waren da bereits… nun ja… aneinander interessiert.«

«Haben Sie diese Wohnung, äh, von Anfang an mit Jenny geteilt?«

«Mehr oder weniger. Wir sind zusammen zur Schule gegangen… wußten Sie das nicht? Tja, und eines Tages trafen wir uns wieder, und ich erzählte ihr, daß ich für zwei Jahre nach Oxford gehen wolle, um dort eine Arbeit zu Ende zu schreiben, und sie fragte mich, ob ich schon eine Bleibe hätte, sie habe da nämlich diese Wohnung gesehen, die sie gern mit jemandem teilen würde… Und so kam ich her, wie der geölte Blitz. Wir sind im großen und ganzen auch immer gut miteinander ausgekommen.«

Ich blickte zur Schreibmaschine und den Spuren ihrer Bemühungen hinüber.»Arbeiten Sie die ganze Zeit über hier?«

«Hier oder in der Sheldonian… in der Bibliothek, meine ich… manchmal recherchiere ich auch woanders. Ich zahle Jenny Miete für mein Zimmer… und weiß überhaupt nicht, warum ich Ihnen das alles eigentlich erzähle.«

«Es hilft mir weiter.«

Sie stand auf.»Sie könnten sich das ganze Zeug im Grunde genommen ja auch selbst ansehen. Ich habe alles in sein Zimmer geräumt… Nickys Zimmer… damit ich es nicht dauernd vor Augen habe. Die Sache geht mir nämlich noch ziemlich an die Nieren.«

Wieder folgte ich ihr durch den Flur, doch diesmal weiter, einen breiten Gang entlang, der offensichtlich einmal zum Treppenflur der ersten Etage gehört hatte.»Das Zimmer dort«, sagte sie und zeigte auf eine Tür,»ist das von Jenny. Das da ist das Bad. Dort ist mein Zimmer. Und das da hinten am Ende des Ganges war das von Nicky.«

«Wann genau ist er verschwunden?«

«Genau? Wer weiß? Irgendwann am Mittwoch, Mittwoch vor vierzehn Tagen. «Sie öffnete die weißgestrichene Tür und betrat das Zimmer.»Er war zum Frühstück da, wie immer. Ich ging dann in die Bibliothek, und Jenny fuhr mit der Bahn nach London, um Einkäufe zu machen. Und als wir beide wieder nach Hause kamen, da war er fort. Einfach weg. Mit Sack und Pack. Jenny war völlig entgeistert, hat geheult wie ein Schloßhund. Aber da wußten wir natürlich noch nicht, daß er nicht nur einfach so verschwunden war, sondern auch das ganze Geld hatte mitgehen lassen.«

«Wie kam das raus?«

«Jenny ging am Freitag zur Bank, um die eingegangenen Schecks einzuzahlen und ein bißchen was für Porto und so abzuheben. Da sagten sie ihr, daß das Konto aufgelöst worden ist.«

Ich sah mich im Zimmer um. Auf dem Fußboden ein dicker Teppichboden, eine alte Kommode, ein großes, bequem aussehendes Bett, ein Sessel, hübsche Vorhänge nach Jennys Art, ein frischer, weißer Anstrich. Sechs große, braune Pappkartons standen, zu je dreien übereinandergestapelt, mitten im Zimmer, das ansonsten so aussah, als habe hier nie jemand gewohnt.

Ich ging zur Kommode und zog eine Schublade heraus. Sie war leer. Ich steckte die Hand hinein und fuhr mit den Fingern über den Boden, aber kein Stäubchen blieb an ihnen haften.

Louise nickte.»Er hat Staub gewischt. Und gesaugt. Man konnte es am Teppich sehen. Und das Bad hat er auch sauber gemacht. Alles blitzte und funkelte. Jenny fand das wahnsinnig nett von ihm… bis ihr klar wurde, warum er keine Spuren hinterlassen wollte.«

«Ich würde das eher als symbolische Handlung ansehen«, sagte ich gedankenverloren.

«Wie meinen Sie das?«

«Na ja… er hatte wohl nicht so sehr die Befürchtung, daß ihn Haare und Fingerabdrücke verraten könnten, sondern… er wollte das Gefühl haben, seine Existenz hier völlig ausgelöscht, fortgewischt zu haben. Damit er nicht das Gefühl hatte, irgend etwas von ihm sei dageblieben. Ich meine. wenn man gern an einen Ort zurückkehren möchte, läßt man ganz unbewußt Dinge dort zurück, man >vergißt< sie. Ein bekanntes Phänomen. Wenn man also bewußt oder unbewußt nicht an einen Ort zurückkehren will, dann fühlt man sich vielleicht gezwungen, sogar noch den eigenen Staub zu entfernen. «Ich brach ab.»Verzeihung, ich wollte Sie nicht langweilen.«

«Es langweilt mich durchaus nicht.«

«Wo haben die beiden geschlafen?«fragte ich in sachlichem Ton.

«Hier. «Sie sah mich forschend an und kam zu dem Ergebnis, daß sie gefahrlos fortfahren konnte.»Sie war sehr oft hier. Na ja, ich bekam das halt mit, ob ich nun wollte oder nicht. Die meisten Nächte, aber nicht immer.«

«Er ist nie zu ihr gegangen?«»Komisch, ich habe ihn nie ihr Zimmer betreten sehen, auch tags nicht. Wenn er was von ihr wollte, kam er raus auf den Flur und rief nach ihr.«

«Das paßt.«

«Noch mehr Symbolisches?«Sie trat zu dem Stapel Kartons und machte einen der oberen auf.»Das Zeug hier drin wird Ihnen mehr verraten. Ich lasse Sie damit allein, dann können Sie’s studieren… Ich kann den Anblick einfach nicht ertragen. Und im übrigen räume ich lieber noch ein bißchen auf, falls Jenny zurückkommt.«

«Sie rechnen doch nicht mit ihr, oder?«

Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als sie die leichte Unruhe in meiner Stimme hörte.»Haben Sie Angst vor ihr?«

«Sollte ich?«

«Sie meint, Sie seien ein Wurm. «Die Andeutung von Belustigung machte ihre Worte ein bißchen erträglicher.

«Das sieht ihr ähnlich«, sagte ich.»Nein, ich habe keine Angst vor ihr. Es ist nur so, daß sie… mich aufregt.«

Mit plötzlicher Heftigkeit sagte sie:»Jenny ist einfach super.«

Echte Freundschaft, dachte ich. Klärung der Loyalitäten. Ein winziger Anflug von Herausforderung. Aber diese Super-Jenny hatte ich schließlich einmal geheiratet.

Ich sagte ohne jede Betonung:»Ja«, und nach ein paar Sekunden drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Mit einem Seufzer machte ich mich an die Arbeit, hob die oberen Kartons herunter und war froh, daß weder Jenny noch Louise mir dabei zusahen. Die Kartons hatten eine ziemliche Größe, und obwohl zwei oder drei etwas leichter waren als die anderen, waren sie doch so sperrig, daß sie sich mit einer elektrischen Prothese nur schwer bewegen ließen.

Der erste enthielt zwei große Stapel normalen Briefpapiers, weiß, von guter Qualität und mit einem maschinengeschriebenen Text bedruckt. Der sehr umfangreiche Briefkopf mit dem eingeprägten goldfarbenen Wappen in der Mitte sah sehr eindrucksvoll aus. Ich nahm einen der Bögen heraus und fing an zu verstehen, wieso Jenny auf den Trick hatte hereinfallen können.

Liga zur Erforschung der Koronarerkrankungen stand in geprägten Buchstaben über dem Wappen und darunter Gemeinnütziger Verein. Links von dem Wappen war eine Liste von Schirmherren und Förderern aufgedruckt, die meisten aus den Reihen des Adels, und rechts eine Liste der Mitarbeiter, unter ihnen auch Jennifer Halley, Assistentin der Geschäftsführung. Unter ihrem Namen war — in winzigen Großbuchstaben — ihre Oxforder Adresse angegeben. Der Brief war ohne Datum und Anrede. Der Text füllte ungefähr zwei Drittel der Seite und lautete:

Sehr viele Familien bekommen heute die Folgeerscheinungen von Herzgefäßerkrankungen schmerzhaft und unmittelbar zu spüren. Dieses Leiden führt durchaus nicht immer zum Tode, sondern macht die Betroffenen oft nur unfähig, weiterhin ihrem Beruf nachzugehen.

Es ist schon viel getan worden, um die Ursachen der Krankheit und die Möglichkeiten eines Schutzes vor dieser Geißel der Menschheit zu erforschen, aber es bleibt noch viel zu tun. Da der vom Staat finanzierten Forschung angesichts der augenblicklich zur Verfügung stehenden Mittel notwendigerweise Grenzen gesetzt sind, ist es unumgänglich geworden, die Öffentlichkeit zu einer Unterstützung der von privaten Institutionen durchgeführten, unverzichtbaren Forschungsvorhaben aufzurufen.

Wir wissen aber auch, daß viele Menschen es nicht sehr schätzen, mit Bettelbriefen belästigt zu werden. Deshalb möchten wir Sie bitten, die Liga dadurch zu unterstützen, daß Sie etwas von ihr kaufen. Wir folgen hier dem gleichen Prinzip, das dem Verkauf von Weihnachtskarten zugrunde liegt, der schon so viel Gutes in so vielen verschiedenen Bereichen bewirkt hat. Nach reiflicher Überlegung hat sich der Vorstand unseres Vereins entschlossen, ein hochwertiges, speziell für die Pflege antiker Möbel entwickeltes Politurwachs zum Kauf anzubieten.

Das Wachs wird in 250-g-Dosen geliefert und entspricht in seiner Qualität den Anforderungen von Restauratoren und Museumsfachleuten. Wir bieten Ihnen die Dose zum Stückpreis von fünf Pfund an und garantieren, daß wenigstens drei Viertel des erzielten Gewinns der Herzforschung zugute kommen.

Das Wachs dient der Erhaltung Ihrer Möbelstücke, Ihr finanzieller Beitrag aber einer guten Sache, die unser aller Anliegen sein muß — mit Ihrer Hilfe werden vielleicht schon bald wesentliche Fortschritte in der Erforschung und Bekämpfung dieser heimtückischen Krankheit erzielt.

Wenn Sie einen Beitrag leisten möchten, so schicken Sie ihn bitte an die oben genannte Adresse und stellen Sie den Scheck auf die Liga zur Erforschung der Koronarerkrankungen aus. Sie bekommen dann das Wachs umgehend zugeschickt — und dürfen der Dankbarkeit zukünftiger Herzpatienten überall in unserem Lande gewiß sein.

Mit freundlichen Grüßen Assistentin der Geschäftsführung

Ich pfiff anerkennend, faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. Rührseliges Zeug, das Angebot einer reellen Gegenleistung und dazu der dezente Hinweis, daß es einen irgendwann selbst erwischen könnte, wenn man nichts ausspuckte. Laut Charles hatte diese Mischung ihre Wirkung ja auch nicht verfehlt.

Der zweite Pappkarton enthielt etliche tausend weiße Briefumschläge. Der dritte war zur Hälfte mit zumeist handgeschriebenen Briefen auf allen nur denkbaren Arten von Schreibpapier gefüllt — Wachsbestellungen, alle mit dem Hinweis» Scheck anbei «versehen.

Der vierte Karton enthielt vorgedruckte Dankschreiben, in denen zu lesen stand, daß die Liga den Erhalt des Betrages mit Dank bestätige und sich erlaube, beiliegend die Dose Wachs zu übersenden.

Der fünfte Pappkarton, halb leer, und der sechste, noch ungeöffnet und voll, enthielten flache, weiße Schachteln, etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter groß und fünf Zentimeter hoch. Ich nahm eine heraus und schaute hinein. Darin befand sich eine flache, runde Dose ohne Aufschrift, mit fest zugeschraubtem Deckel. Der widersetzte sich zunächst meinen Bemühungen, aber schließlich bekam ich ihn doch auf. Die Dose enthielt eine weiche, mittelbraune Mixtur, die durchaus nach Möbelpolitur roch. Ich schloß den Deckel wieder, schob die Dose in die Schachtel zurück und stellte sie beiseite, um sie später mitzunehmen.

Mehr war anscheinend nicht vorhanden. Ich durchsuchte das Zimmer noch einmal gründlich, spähte in alle Ecken und sogar in die Ritzen zwischen den Sesselpolstern, aber nicht einmal eine Stecknadel wollte sich finden lassen.

Ich nahm die weiße Schachtel und ging langsam zum Wohnzimmer zurück, wobei ich die geschlossenen Türen eine nach der anderen öffnete, um nachzuschauen, was sich hinter ihnen verbarg. Da waren zwei, zu denen Louise nichts gesagt hatte — die eine gehörte zu einem in die Wand eingebauten Wäscheschrank, die andere zu einer kleinen, unmöblierten Kammer, in der sich Koffer und allerlei Gerümpel befanden.

Jennys Zimmer hatte einen ganz entschieden femininen Akzent — weiß und rosa, leichte, gekräuselte Stoffe, in der Luft ein Hauch ihres Parfüms, des Veilchendufts von Mille. Zwecklos, sich an das erste Fläschchen zu erinnern, das ich ihr vor vielen Jahren in Paris geschenkt hatte. Zuviel Zeit war seitdem vergangen. Ich schloß die Tür hinter dem Duft und den Erinnerungen und ging weiter zum Bad.

Ein weißes Badezimmer. Riesige, flauschige Handtücher. Grüner Teppichboden, grüne Zimmerpflanzen. Spiegel an zwei Wänden, leicht und hell. Keine herumliegenden Zahnbürsten, alles in Schränkchen, alles sehr sauber. Alles sehr Jenny. Roger & Gallet-Seife.

Die berufsmäßige Schnüffelei hatte mir einiges an Skrupeln genommen. Fast ohne zu zögern öffnete ich auch Louises Tür und spähte in ihr Zimmer, wobei ich auf mein Glück vertraute, daß sie nicht in den Flur herauskommen und mich ertappen würde.

Das organisierte Chaos, das war mein Eindruck. Haufen von Papier und Büchern, wo man nur hinsah. Kleidungsstücke auf Stühlen. Ungemachtes Bett — nicht verwunderlich, denn daraus hatte ich sie ja aufgescheucht.

Ein Waschbecken in der Ecke, kein Verschluß auf der Zahnpastatube, eine zum Trocknen aufgehängte Strumpfhose. Eine offene Pralinenschachtel, ein wüstes Durcheinander auf dem Frisiertischchen. Eine hohe Vase, in der Roßkastanienknospen aufzublühen begannen. Keinerlei Duft. Kein Langzeitschmutz, nur Oberflächendurcheinander. Der blaue Morgenrock auf dem Boden. Das Zimmer war weitgehend wie das von Ashe eingerichtet — und man konnte deutlich erkennen, wo Jenny aufhörte und Louise anfing.

Ich zog den Kopf zurück und schloß die Tür — ich war unentdeckt geblieben. Louise hatte sich nur zu gern vom Aufräumen ablenken lassen und saß, in ein Buch vertieft, im Wohnzimmer auf dem Fußboden.

«Ach, hallo«, sagte sie und sah geistesabwesend auf, als hätte sie ganz vergessen, daß ich da war.»Sind Sie fertig?«

«Es muß doch noch andere Unterlagen geben«, sagte ich.

«Briefe, Rechnungen, Kassenbücher, solche Sachen.«

«Die hat die Polizei an sich genommen.«

Ich setzte mich ihr gegenüber aufs Sofa.»Wer hat die Polizei verständigt?«fragte ich.»Jenny?«

Sie legte die Stirn in Falten.»Nein. Jemand hatte sich beschwert, daß der Verein gar nicht als gemeinnützig registriert sei.«

«Wer war das?«

«Das weiß ich nicht. Jemand, der einen von diesen Briefen bekommen hat und der Sache nachgegangen ist. Die Hälfte der Schirmherren und Vorstände gibt’s gar nicht, und die anderen hatten keinen Schimmer, daß ihre Namen benutzt wurden.«

Ich dachte kurz nach.»Was hat Ashe veranlaßt, sich just zu diesem Zeitpunkt aus dem Staub zu machen?«

«Das wissen wir nicht. Vielleicht hat auch hier jemand angerufen und sich beschwert — und da ist er auf und davon, solange noch Zeit dazu war. Er war schon eine Woche weg, als die Polizei hier erschien.«

Ich stellte die weiße Schachtel auf den Couchtisch.»Wo kam das Wachs her?«

«Von irgend so einer Firma. Jenny schickte ihre Bestellungen hin, und dann wurde es hierher geliefert. Nicky wußte, wo es herkam.«

«Rechnungen?«»Hat die Polizei mitgenommen.«

«Diese Bettelbriefe… wer hat die drucken lassen?«

Sie sagte:»Natürlich Jenny. Nicky hatte auch welche, genau dieselben, nur stand bei denen sein Name da, wo dann Jennys eingedruckt wurde. Er sagte uns, daß es keinen Zweck mehr habe, weitere Briefe mit seinem Namen und seiner Adresse zu verschicken, weil er doch umgezogen sei. Ihm war so sehr daran gelegen, weiter für die gute Sache tätig zu sein.«

«Das kann ich mir denken«, sagte ich.

Sie sagte leicht gereizt:»Sie haben gut lästern, denn Sie sind ihm nie begegnet. Sie hätten ihm genauso geglaubt wie wir.«

Darauf ging ich lieber nicht ein. Vielleicht hatte sie ja recht.

«Diese Briefe«, sagte ich.»An wen wurden sie verschickt?«

«Na ja, an Leute, die antike Möbel haben und einen Fünfer springen lassen können, ohne daß es ihnen weh tut.«

«Hat er je gesagt, woher er die Adressen hatte?«

«Ja«, sagte sie,»von der Hauptgeschäftsstelle der Liga.«

«Und wer adressierte die Briefe und verschickte sie?«

«Nicky tippte die Anschriften auf die Umschläge. Ja, schon gut, auf meiner Schreibmaschine. Er war enorm schnell und schaffte Hunderte am Tag. Jenny unterschrieb die Briefe, und ich faltete sie für gewöhnlich und steckte sie in die Umschläge. Jenny bekam immer mal wieder einen Krampf in der Schreibhand, und dann half Nicky ihr.«

«Beim Unterschreiben?«

«Ja. Er machte ihre Unterschrift nach. Zigmal. Es war kein Unterschied festzustellen.«

Ich sah sie schweigend an.

«Ich weiß«, sagte sie.»Der schiere Leichtsinn. Aber sehen Sie, er ließ die ganze harte Arbeit mit den Briefen wie einen großen Spaß erscheinen. Wie ein lustiges Spielchen. Er steckte voller Scherze. Das verstehen Sie nicht. Und als dann allmählich die Schecks einzutrudeln begannen, zeigte sich ja, daß die Sache die Mühe wert war.«

«Wer verschickte das Wachs?«fragte ich düster.

«Nicky schrieb die Adressen auf Aufkleber. Ich habe Jenny dabei geholfen, sie auf die Päckchen zu kleben, die Päckchen mit Klebeband zuzumachen und sie zur Post zu bringen.«

«Ashe ist nie gegangen?«

«Er hatte viel zu viel mit der Tipperei zu tun. Wir haben sie meistens in so einer Einkaufstasche mit Rädern zum Postamt gekarrt.«

«Und die Schecks… ich nehme an, daß Jenny eingezahlt hat?«

«Ja.«

«Wie lange ging das so?«

«Nachdem die Briefe gedruckt waren und wir das Wachs geliefert bekommen hatten… na ja, ein paar Monate.«

«Wieviel Wachs?«

«Ach Gott, haufenweise, es stand überall rum. Es kam in diesen großen Pappkartons, sechzig versandfertige Dosen in jedem. Praktisch war die ganze Wohnung voll davon. Am Ende wollte Jenny nachbestellen, da unsere Vorräte knapp wurden, aber Nicky war dagegen und meinte, wir sollten unseren Bestand abbauen und dann erst mal eine Pause einlegen, bevor wir weitermachen.«

«Er wollte ganz aufhören«, sagte ich.

«Ja«, gestand sie widerwillig ein.

«Wieviel Geld«, fragte ich weiter,»hat Jenny bei der Bank eingezahlt?«

Sie sah mich ernst an.»So etwa zehntausend Pfund. Vielleicht auch ein bißchen mehr. Manche Leute schickten sehr viel mehr als einen Fünfer, ein paar sogar Hunderter… und wollten kein Wachs dafür.«

«Einfach unglaublich.«

«Das Geld strömte nur so herein. Tut’s noch, tagtäglich. Aber es geht von der Post direkt an die Polizei. Die haben noch eine Wahnsinnsarbeit vor sich, alles an die Absender zurückzuschicken.«

«Was ist mit den Briefen in Ashes Zimmer, in denen >Scheck anbei< steht?«

«Die sind von Leuten, deren Geld eingezahlt worden ist und die ihr Wachs bekommen haben.«

«Wollte die Polizei diese Briefe nicht auch haben?«

Sie zuckte die Achseln.»Mitgenommen haben sie sie jedenfalls nicht.«

«Hätten Sie was dagegen, wenn ich sie mitnähme?«

«Nicht das geringste.«

Nachdem ich den Karton geholt und an der Wohnungstür abgestellt hatte, ging ich wieder ins Wohnzimmer, um Louise noch eine Frage zu stellen. Sie war schon wieder in ihr Buch vertieft und blickte nicht gerade begeistert zu mir hoch.

«Wie ist Ashe eigentlich an das Bankkonto rangekommen?«

«Er hat dort einen getippten, von Jenny unterschriebenen Brief vorgelegt, in dem es hieß, daß sie das gesamte Guthaben abheben wolle, um es der Liga anläßlich des jährlich stattfindenden Galadiners zu überreichen. Und dazu einen ebenfalls von Jenny unterzeichneten Scheck über den gesamten auf dem Konto befindlichen Betrag.«

«Sie hat die doch nicht.«

«Nein, er. Aber ich habe Brief und Scheck gesehen. Die Bank hat beides der Polizei ausgehändigt. Es ist einfach nicht zu erkennen, daß die Unterschriften nicht von Jenny stammen. Nicht einmal sie selbst konnte das.«

Sie erhob sich anmutig, ließ aber das Buch auf dem Fußboden liegen.»Sie wollen gehen?«fragte sie hoffnungsvoll.»Ich habe so entsetzlich viel zu tun. Nicky hat mich einiges an Zeit gekostet.«

Sie ging an mir vorbei in den Flur hinaus, und als ich ihr folgte, hatte sie noch eine weitere Hiobsbotschaft für mich parat.

«Die Bankangestellten können sich nicht an Nicky erinnern. Sie zahlen Tag für Tag Tausende an Lohngeldern aus, es gibt ja eine Menge Industrie hier in Oxford. Jenny war ihnen im Zusammenhang mit dem Konto bekannt, und es vergingen ja zehn Tage oder mehr, bevor die Polizei anfing, Fragen zu stellen. Niemand dort kann sich an Nicky erinnern.«

«Er ist ein Profi«, sagte ich schlicht.

«Es sieht leider ganz so aus. «Sie öffnete die Wohnungstür während ich mich bückte, mühsam den braunen Karton aufhob und dabei zu verhindern versuchte, daß der kleine weiße, den ich oben draufgestellt hatte, herunterrutschte.

«Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe«, sagte ich.

«Lassen Sie mich den Karton nach unten tragen.«

«Danke, ich schaffe das schon«, wehrte ich ab.

Sie sah mir kurz in die Augen.»Natürlich schaffen Sie das, aber Sie brauchen trotzdem nicht so verdammt stolz zu sein. «Sie nahm mir einfach den Karton aus dem Arm und ging zielstrebig voraus. Ich folgte ihr die Treppe hinunter auf die Straße und kam mir dabei wie ein Narr vor.

«Ihr Wagen?«fragte sie.

«Hinterm Haus. Aber.«

Ich hätte auch tauben Ohren predigen können. Ich ging neben ihr her, deutete matt auf den Scimitar und öffnete den Kofferraum. Sie bugsierte Karton und Schachtel hinein, und ich schloß die Haube.

«Danke«, sagte ich noch einmal.»Für alles.«

Die Andeutung eines Lächelns kehrte in ihre Augen zurück.

«Wenn Ihnen noch irgend etwas einfällt, was Jenny helfen könnte«, sagte ich,»würden Sie mir dann bitte Bescheid sagen?«

«Wenn Sie mir Ihre Adresse geben.«

Ich angelte eine Visitenkarte aus der Brusttasche meines Jacketts und überreichte sie ihr.»Steht alles da drauf.«

«Schön. «Sie blieb noch einen Moment stehen, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht zu deuten wußte.»Eins muß ich Ihnen noch sagen«, meinte sie dann.»Nach allem, was mir Jenny von Ihnen erzählt hat… habe ich Sie mir wirklich ganz anders vorgestellt.«

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