Kapitel 2

Ich hatte es mir in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, donnerstags mit meinem Schwiegervater zu Mittag zu essen. Ex-Schwiegervater, um genau zu sein. Admiral (im Ruhestand) Charles Roland, Vater des schlimmsten Fehlers, den ich je begangen hatte. Ich hatte seiner Tochter Jenny all die innige Zuneigung entgegengebracht, deren ich fähig war, und ihr lediglich das vorenthalten, was sie mir irgendwann als ihren einzigen Wunsch offenbarte, nämlich daß ich die Rennreiterei aufgäbe. Wir waren fünf Jahre verheiratet gewesen — zwei glückliche, zwei uneinige und ein bitteres. Und jetzt waren nur noch die juckenden, halb verheilten Wunden da. Die und die Freundschaft ihres Vaters, die ich mir nur unter großen Mühen erworben hatte und nun als das einzig Wertvolle pries, das ich aus dem Wrack meiner Ehe hatte bergen können.

Wir trafen uns meistens um zwölf in der im ersten Stock gelegenen Bar des» Cavendish Hotel«, wo diesmal ein Pink Gin für ihn und ein Whisky mit Wasser für mich auf hübschen kleinen Untersetzern neben einer Schale mit Erdnüssen standen.

«Jenny wird am Wochenende in Aynsford sein«, sagte er.

Aynsford war sein Haus in Oxfordshire. London am Donnerstag, das war» geschäftlich«. Die Reise von einem Ort zum anderen machte er in einem Rolls.

«Ich würde mich freuen, wenn du auch kämst«, sagte er.

Ich betrachtete sein feines, sehr distinguiertes Gesicht und lauschte dem distanziert-näselnden Tonfall seiner Stimme. Ein Mann von großem Feingefühl und Charme, der einen aber auch wie ein Laserstrahl durchbohren konnte, wenn er dies für erforderlich hielt. Ein Mann, dessen Integrität ich blind vertraute, dessen Mitleid aber nicht eine Sekunde.

Ich sagte vorsichtig und ohne Groll:»Ich komme aber nicht, um mich dauernd von ihr anschießen zu lassen.«

«Sie war damit einverstanden, daß ich dich einlade.«

«Das glaube ich nicht.«

Er blickte mit verdächtiger Konzentration auf sein Glas. Lange Erfahrung hatte mich gelehrt, daß er mich nie ansah, wenn er etwas von mir wollte und wußte, daß ich es nicht gern tun würde. Und dann trat, so wie jetzt, meistens eine Pause ein, in der er sich sammelte, um schließlich Feuer an die Lunte zu legen. Die Länge dieser Pause war in gar keiner Weise tröstlich. Endlich sagte er:»Ich fürchte, sie ist in ziemlichen Schwierigkeiten.«

Ich sah ihn an, aber er wollte die Augen nicht heben.

«Aber, Charles«, sagte ich verzweifelt,»du kannst nicht von mir… du kannst mich doch nicht ernstlich bitten… du weißt doch, welchen Ton sie mir gegenüber am Leibe hat.«

«Du zahlst ihr mit gleicher Münze heim, wenn ich mich recht erinnere.«

«Man muß nicht ganz bei Troste sein, wenn man zu einem Tiger in den Käfig klettert.«

Er warf mir einen kurzen, mich von unten her anblitzenden Blick zu, und sein Mund zuckte ganz leicht. Vielleicht war es ja wirklich nicht sehr passend gewesen, zum Vater in dieser Form von seiner hübschen Tochter zu sprechen.

«Du bist meines Wissens schon häufiger in den Käfig eines Tigers gestiegen«, meinte er.

«Dann eben Tigerin«, verbesserte ich mich in einer Anwandlung von Humor.

Er stürzte sich sofort darauf.»Du kommst also?«

«Nein… also wirklich, es gibt Dinge, die sind nun mal einfach zuviel verlangt.«

Er seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück, sah mich über sein Glas hinweg an. Ich mochte diesen leeren Blick seiner Augen gar nicht, denn er verriet mir, daß er noch immer mit seinem Anschlag auf mich befaßt war.

«Seezunge?«schlug er verbindlich vor.»Soll ich den Ober rufen? Wir könnten eigentlich bald essen, meinst du nicht auch?«

Aus alter Gewohnheit bestellte er Seezungenfilet für uns beide. Ich konnte inzwischen durchaus in Restaurants essen, aber es hatte auch eine lange, unangenehme Zeit gegeben, wo meine natürliche Hand nur ein unbrauchbares, nutzloses und deformiertes Glied gewesen war, das ich, mir dieser Tatsache ständig bewußt, möglichst in Taschen verborgen gehalten hatte. Als ich mich endlich damit abgefunden hatte, war sie mir erneut zertrümmert und ganz abgenommen worden. So war wohl das Leben. Man gewann und verlor, und wenn man etwas aus den Trümmern zu retten vermochte, und sei es auch nur ein winziges Restchen von Selbstachtung, dann war das genug, um einen über die nächste Runde zu bringen.

Der Ober teilte uns mit, daß unser Tisch in zehn Minuten fertig sei, und ging still davon, Speisekarten und Bestellblock an seine Smokingjacke und die graue Seidenkrawatte gedrückt. Charles schaute auf seine Uhr und sah sich dann gemächlich in dem großen, hellen, stillen Raum um, in dem auch noch andere Menschen in beigefarbenen Sesseln saßen und den Lauf der Welt erörterten.

«Fährst du heute nachmittag nach Kempton?«fragte er.

Ich nickte.»Das erste Rennen ist um halb drei.«

«Arbeitest du gerade an einem Fall?«Für eine beiläufige Erkundigung klang das eigentlich zu verbindlich.

«Ich komme nicht nach Aynsford«, sagte ich.»Jedenfalls nicht, solange Jenny dort ist.«

Er schwieg eine Weile und sagte dann:»Ich wünschte, du kämst doch, Sid.«

Ich antwortete nicht, sah ihn nur an. Seine Augen folgten einem Kellner, der weiter entfernt sitzenden Gästen Getränke servierte, und er brauchte viel zu lange, um sich den nächsten Satz zurechtzulegen.

Er räusperte sich und sagte, ohne mich dabei anzusehen:»Bedauerlicherweise hat Jenny Geld… und ihren Namen… für ein Unternehmen hergegeben, das man wohl als betrügerisch bezeichnen muß.«

«Sie hat was?«

Sein Blick schnellte mit verdächtiger Geschwindigkeit zu mir zurück, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

«Nein«, sagte ich.»Wenn sie das wirklich getan hat, dann ist es doch wohl an dir, dich darum zu kümmern.«

«Sie hat natürlich deinen Namen benutzt«, sagte Charles.»Jennifer Halley.«

Ich konnte spüren, wie die Falle zuschnappte. Charles betrachtete mein stummes Gesicht und trennte sich mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung von einer bestimmten Befürchtung. Er war viel zu geschickt, dachte ich bitter, als daß ich ihm hätte entwischen können.

«Sie fühlte sich zu einem Mann hingezogen«, sagte er leidenschaftslos.»Ich mochte ihn nicht sonderlich, aber das galt anfangs ja auch für dich… Ich habe dieses Fehlurteil übrigens als sehr hinderlich empfunden, weil ich danach meinem spontanen Urteil nicht mehr zu trauen wagte, jedenfalls nicht immer.«

Ich aß eine Erdnuß. Er hatte mich nicht gemocht, weil ich Jockey gewesen war und er in einem solchen keinen passenden Ehemann für seine wohlerzogene Tochter gesehen hatte — und ich hatte ihn im Gegenzug als intellektuellen und sozialen Snob abgelehnt. Es war schon ein recht eigenartiger Gedanke, daß ausgerechnet er jetzt der Mensch war, den ich von allen am meisten schätzte.

Charles fuhr fort:»Der Mann hat sie überredet, sich an einer Art Versandhandel zu beteiligen… alles furchtbar gewinnbringend und respektabel, zumindest an der Oberfläche. Eine legitime Methode, Gelder für wohltätige Zwecke zu erwirtschaften… du kennst so etwas ja. Wie Weihnachtskarten, nur daß es sich in diesem Falle, glaube ich, um irgendeine Wachspolitur für antike Möbel handelte. Die Kundschaft kaufte dieses sehr teure Wachs vor allem, weil sie wußte, daß ein Großteil des Gewinns einer guten Sache zufließen würde.«

Er blickte mich ernst an. Ich aber wartete ab — und dies ohne allzu große Hoffnung.

«Bestellungen gingen reichlich ein«, sagte er.»Und mit ihnen natürlich auch Geld. Jenny und eine Freundin von ihr hatten alle Hände voll zu tun, um mit dem Versand der Politur nachzukommen.«

«Die Jenny«, riet ich,»gegen Vorauskasse gekauft hatte?«

Charles seufzte.»Ich muß es dir also nicht genauer erklären, nicht wahr?«

«Und Jenny zahlte Porto und Verpackung und Werbebroschüren und Anschreiben?«

Er nickte.»Das eingehende Geld zahlte sie auf ein besonderes Konto ein, das von dieser Wohltätigkeitsorganisation eröffnet worden war. Und das Geld ist abgehoben worden, der Mann verschwunden, und die Wohltätigkeitsorganisation hat sich als inexistent herausgestellt.«

«Und Jennys Lage?«fragte ich.

«Leider sehr schlecht. Es könnte durchaus sein, daß Anklage erhoben wird. Ihre Unterschrift steht überall drauf, und die von dem Kerl nirgends.«

Mir war nicht nach Spott zumute. Charles registrierte mein bestürztes Schweigen und nickte verständnisvoll.

«Das war alles äußerst töricht von ihr«, sagte er.

«Hättest du sie nicht daran hindern, sie warnen können?«

Er schüttelte bedauernd den Kopf.»Ich habe von all dem ja erst gestern erfahren, als sie ganz verzweifelt in Aynsford erschien. Sie hat das Geschäft von der Wohnung aus abgewickelt, die sie sich in Oxford gemietet hat.«

Wir gingen zum Essen, und ich konnte mich hinterher überhaupt nicht mehr erinnern, wie die Seezunge geschmeckt hatte.

«Der Name des besagten Mannes ist Nicholas Ashe«, sagte Charles beim Kaffee.»Jedenfalls hat er den genannt. «Er schwieg ein Weilchen.»Mein Anwalt meint, es wäre gut, wenn du ihn ausfindig machen könntest.«

Auf der Fahrt nach Kempton waren meine Seh- und Muskelreflexe auf Autopilot geschaltet, während meine Gedanken voller Unbehagen bei Jenny weilten.

Die Scheidung hatte allem Anschein nach nicht das geringste geändert. Der kürzlich erfolgte, antiseptische Trennungsschnitt, die unpersönliche Gerichtsverhandlung, zu der wir beide nicht erschienen waren (keine Kinder, keine Unterhaltsstreitigkeiten, keine Andeutung von Versöhnungsbereitschaft — dem Antrag wird stattgegeben, der nächste Fall bitte), schien hinter unser gemeinsames Leben keinen Punkt gesetzt zu haben, ja, kaum so etwas wie ein Komma. Die gerichtliche Klärung hatte sich nicht als großer, befreiender

Neuanfang herausgestellt. Die Erholung von der emotionalen Katastrophe schien ein langwieriger Vorgang zu sein, die Scheidungsurkunde so gut wie keine Hilfe.

Hatten wir uns einst voller Freude und Leidenschaft aneinander geklammert, so zerfleischten wir uns jetzt gegenseitig, wenn uns der Zufall zusammenführte. Ich hatte fünf Jahre damit zugebracht, Jenny zu lieben, zu verlieren und zu betrauern, aber ich mochte noch so sehr wünschen, daß meine Gefühle tot seien — sie waren es nicht. Bis zur Gleichgültigkeit schien es noch ein beschwerlicher Weg zu sein.

Wenn ich ihr in ihrer mißlichen Lage half, würde sie mir das Leben zur Hölle machen. Half ich ihr jedoch nicht, würde ich es mir selbst zur Hölle machen. Warum nur, dachte ich erbittert und in ohnmächtiger Auflehnung, hatte das dumme Luder so blöde sein müssen?

Für einen Wochentag im April war Kempton recht gut besucht, obwohl ich einmal mehr Anlaß fand zu bedauern, daß in Großbritannien Rennplätze um so leichter Opfer nichtanwesender Zuschauermassen wurden, je näher sie bei London lagen. Städter mochten zwar der Wetterei verfallen sein, nicht aber der frischen Luft und den Pferden. Birmingham und Manchester hatten schon in lange zurückliegenden Tagen ihre Plätze auf Grund mangelnden Zuschauerinteresses eingebüßt, und der in Liverpool verdankte sein Überleben einzig und allein dem Grand National. Die Bahnen auf dem platten Lande jedoch platzten meistens aus allen Nähten und hatten sehr oft keine Rennkarten mehr zu vergeben — die blühendsten Gewächse entsprossen noch immer den ältesten Wurzeln.

Draußen vor der Waage stand die gleiche Versammlung vertrauter Gestalten wie immer und war in Unterhaltungen vertieft, die im Grunde seit Jahrhunderten dieselben geblieben waren. Wer würde welches Rennen reiten, wer würde gewinnen, und man sollte unbedingt das Reglement ändern, und was Soundso über sein erfolgreiches Pferd zu sagen gewußt hatte, und waren die allgemeinen Aussichten nicht düster, ach, und wußten Sie schon, daß der junge Dingsda seine Frau sitzengelassen hat? Da waren die skurrilen Geschichten und die leichten Übertreibungen und die glatten Lügen. Die ewig gleiche Mischung aus Ehrenhaftigkeit und Korruptheit, aus Prinzipientreue und Nützlichkeitserwägungen. Leute, die sich nicht scheuten zu bestechen, und Leute, die bereitwillig die Hand aufhielten. Die kleinen, gequält Hoffenden und die arroganten großen Tiere. Die Verlierer, die sich kühn herausredeten, und die Sieger, die ihre Ängste zu verbergen suchten. Alles so, wie es immer gewesen war und bleiben würde, solange es den Rennsport gab.

Ich hatte eigentlich gar nicht mehr das Recht, im Bereich vor der Waage umherzuschlendern, aber bisher hatte mir noch nie jemand den Zutritt verwehrt. Ich gehörte in die Grauzone der Ex-Jockeys — das Betreten der Waage selbst war uns zwar nicht gestattet, im übrigen aber drückte man tolerant ein Auge zu. Das innerste Heiligtum war an dem Tage futsch gewesen, an dem eine halbe Tonne Pferd mit den Vorderhufen auf meinem Mittelhandknochen gelandet war. Seitdem war ich schon froh, daß ich der Bruderschaft überhaupt noch angehören durfte, und die Sehnsucht danach, wieder reiten zu können, war bloß Bestandteil meines allgemeinen Kummers. Ein anderer Ex-Champion hatte mir einmal erzählt, daß es zwanzig Jahre gedauert habe, bis er sich nicht mehr danach verzehrte, da draußen auf den Pferden zu sitzen, und ich hatte mich herzlichst bedankt für seinen Trost.

George Caspar, der an diesem Nachmittag drei Pferde laufen hatte, war da und unterhielt sich mit seinem Jockey.

Und dann sah ich auch Rosemary, die heftig zusammenzuckte, als sie mich in zehn Meter Entfernung erblickte, und sich abrupt abwandte. Ich konnte mir die Unruhe gut vorstellen, die sie durchbebte, obwohl sie äußerlich wieder ganz die gepflegte, elegante Dame war — ein Nerz gegen den kühlen Wind, glänzende Stiefel und ein Hut aus Samt. Sollte sie befürchten, daß ich ihren Besuch bei mir ausplauderte, so irrte sie sich.

Jemand ergriff mich kaum spürbar am Ellbogen, und eine angenehme Stimme sagte:»Ein Wort unter vier Augen, Sid.«

Ich lächelte, noch bevor ich mich zu dem Sprecher umdrehte — zu Lord Friarly, Graf, Großgrundbesitzer und ein wahnsinnig netter Kerl, einer jener Leute, für die ich früher viele Rennen geritten hatte. Er war ein Aristokrat der alten Schule, um die sechzig, von untadeligen Umgangsformen, zu aufrichtigem Mitgefühl fähig, ein klein wenig exzentrisch und weitaus intelligenter als von den meisten erwartet. Sein leichtes Stottern hatte nicht das geringste mit Sprachstörungen zu tun, sondern sollte nur den Eindruck vermeiden, er wolle sich in dieser egalitären Welt vielleicht seiner sozialen Stellung brüsten.

Im Laufe der Jahre war ich mehrfach Gast in seinem Hause in Shropshire gewesen, meistens zu rennsportlichen Ereignissen im Norden des Landes, und hatte mit ihm zusammen ungezählte Meilen in den verschiedensten, recht betagten Automobilen zurückgelegt. Das Alter der Wagen war allerdings kein weiterer Ausdruck seiner zurückhaltenden Bescheidenheit, sondern entsprang seiner Abneigung, Geld an unwichtige Dinge zu verschwenden. Und wichtig im Sinne der gräflichen Einkünfte war allein die Erhaltung von Friarly Hall und der Besitz so vieler Pferde wie möglich.

«Schön, Sie zu sehen, Sir«, sagte ich.

«Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich Philip nennen.«

«O ja. Verzeihung.«

«Hören Sie«, sagte er,»ich möchte Sie um etwas bitten. Wie man mir sagt, sind Sie sehr gut darin, Dingen auf den Grund zu gehen. Wundert mich natürlich gar nicht. Sie wissen, daß ich schon immer viel auf Ihre Meinung gegeben habe.«

«Selbstverständlich helfe ich gern, wenn ich kann«, sagte ich.

«Ich werde das unbehagliche Gefühl nicht los, daß man mich irgendwie benutzt«, sagte er.»Sie wissen ja, daß ich ganz versessen darauf bin, meine Pferde laufen zu sehen, je öfter, desto lieber, wenn ich so sagen darf. Nun, im vergangenen Jahr habe ich mich bereit erklärt, als registrierter Besitzer für ein Syndikat aufzutreten… Sie kennen das ja, man teilt sich die Kosten mit acht oder zehn anderen, die Pferde laufen aber weiter unter dem Namen ihres Besitzers und seinen Farben.«

«Ja«, sagte ich und nickte,»ich hab davon gehört.«

«Na ja. die anderen Leute sind mir nicht alle persönlich bekannt. Diese Syndikate wurden von einem Burschen ins Leben gerufen, der nichts anderes macht als ebendies, nämlich Leute zusammenbringen und ihnen ein Pferd verkaufen. Sie verstehen?«

Ich nickte. Es hatte schon Fälle gegeben, wo solche Syndikatsgründer Pferde billig eingekauft und dann den Mitgliedern des Syndikats für das Vierfache des gezahlten Preises verkauft hatten. Ein gewinnbringendes kleines Geschäft, soweit auch noch nicht illegal.

«Diese Pferde laufen nicht so, wie sie es von ihrer Form her könnten, Sid«, sagte er in aller Offenheit.»Ich habe das häßliche Gefühl, daß es da irgendwo in diesen Syndikaten jemanden gibt, der bestimmt, wie die Pferde zu laufen haben. Würden Sie das für mich überprüfen? In aller Stille?«

«Ich will’s gern versuchen«, sagte ich.

«Gut«, äußerte er befriedigt.»Dachte es mir. Ich habe Ihnen deshalb auch gleich die Namen der Leute mitgebracht, die den Syndikaten angehören. «Er zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Innentasche seines Jacketts.»Hier sind sie«, fuhr er fort, entfaltete das Papier und zeigte darauf.»Vier Pferde. Die Syndikate sind alle beim Jockey Club registriert, alles einwandfrei, Bücher geprüft und so weiter. Auf dem Papier, da sieht alles vollkommen in Ordnung aus, aber wenn ich ehrlich sein soll, Sid, macht mich die Geschichte nicht sehr glücklich

«Ich will mir das mal genauer anschauen«, versprach ich, und er dankte mir ebenso überschwenglich wie aufrichtig. Nach ein paar Minuten entfernte er sich, um mit Rosemary und George zu sprechen.

In einiger Entfernung machte Bobby Unwin, Notizblock und Stift gezückt, einem mittelklassigen Trainer, wie es schien, das Leben schwer. Seine Stimme drang bis zu mir herüber, von der Aggressivität des Nordengländers geschärft und mit jenem inquisitorischen Tonfall, den er Fernsehreportern abgelauscht hatte.

«Können Sie also sagen, daß Sie mit der Art, wie Ihre Pferde laufen, voll und ganz zufrieden sind?«Der Trainer sah sich nach Fluchtwegen um und trat von einem Bein aufs andere. Es war schon erstaunlich, dachte ich, daß er sich das gefallen ließ, auch wenn Bobby Unwins gedruckte Bösartigkeit leicht noch schlimmer ausfiel, wenn er sich des Vergnügens beraubt sah, sein Opfer in direktem Gespräch einschüchtern zu können. Er hatte eine gute Schreibe, wurde mit Begeisterung gelesen und war vielen

Angehörigen der Rennsportzunft von Herzen zuwider. Zwischen ihm und mir hatte viele Jahre lang eine Art Waffenstillstand geherrscht, was in der Praxis bedeutete, daß Wörter wie» blind «und» stümperhaft «nicht mehr als zweimal pro Absatz vorkamen, wenn er von Rennen berichtete, die ich verloren hatte. Seit ich mit der Rennreiterei aufgehört hatte, stellte ich keine Zielscheibe mehr für ihn dar, und folglich gewannen wir unseren Gesprächen eine perverse Befriedigung ab — es war so, wie wenn man sich einen juckenden Pickel kratzt.

Mich aus den Augenwinkeln erspähend, ließ er sofort von dem unseligen Trainer ab und lenkte seine schnabelartige Nase in meine Richtung. Er war groß, vierzig und ging beständig damit hausieren, daß er in einem Hinterhof von Bradford das Licht der Welt erblickt habe — ein Kämpfer, der sich hatte durchboxen müssen und das niemanden je vergessen lassen würde. Uns hätte eigentlich vieles verbinden müssen, da auch ich das Produkt einer schäbigen Seitenstraße war, aber das Temperament hat nichts mit der Umgebung zu tun. Er neigte dazu, das Schicksal mit wilder Entschlossenheit anzugehen, während ich die Ruhe bevorzugte, was bedeutete, daß er viel redete und ich zuhörte.

«Die Beilage liegt in meiner Aktenmappe im Pressezimmer«, sagte er.»Wofür brauchst du sie denn?«

«Interessiert mich halt ganz allgemein.«

«Na, komm schon«, sagte er.»Woran arbeitest du?«

«Und würdest du mich bitte bei deinem nächsten heißen Knüller vorab informieren?«erwiderte ich.

«Gut, gut«, sagte er.»Schon kapiert. Aber das kostet dich eine Flasche vom besten Schampus, der in der Clubbar zu haben ist. Nach dem ersten Rennen, okay?«

«Und könnte ich für ein paar zusätzliche Lachssandwiches auch ein paar Hintergrundinformationen bekommen, die noch nicht im Druck erschienen sind?«

Er grinste häßlich und meinte, er sehe keinen Grund, der dagegen spreche — und zu gegebener Zeit, das heißt nach dem ersten Rennen, hielt er sich an die getroffene Vereinbarung.

«Du kannst es dir doch leisten, Sid, alter Junge«, sagte er, verschlang ein Sandwich mit rosafarbenem Belag und legte schützend die Hand um den mit Goldfolie überzogenen Hals der Flasche, die neben uns auf dem Bartresen stand.»Was möchtest du denn nun wissen?«

«Du bist doch sicher in Newmarket… in Caspars Stall gewesen… damals, als du diesen Artikel geschrieben hast, oder nicht?«Ich deutete auf die Wochenendbeilage, die längs gefaltet neben der Flasche lag.

«Aber klar doch.«

«Dann erzähl mir doch mal, was du nicht geschrieben hast.«

Er hörte zu kauen auf.»Über welchen Daseinsbereich?«

«Was hältst du ganz privat von dem Menschen George?«

Seine Stimme wand sich um Bröckchen braunen Brotes herum.»Das habe ich so gut wie alles in dem Artikel da geschrieben. «Er blickte auf die Beilage hinab.»Er versteht mehr davon, wann ein Pferd fürs Rennen einsatzbereit ist und welches Rennen für es in Frage kommt, als jeder andere Trainer auf dem Turf. Dabei hat er für Menschen soviel Gespür wie ein Stein. Er kennt Namen und Stammbaum, bis zurück zur Sintflut, von jedem einzelnen der über hundertzwanzig Pferde in seinem Stall, und er erkennt sie alle auch noch bei strömendem Regen und von hinten, was praktisch gar nicht möglich ist, aber die vierzig Stallburschen, die für ihn arbeiten, die nennt er alle Tommy, weil er sie absolut nicht auseinanderhalten kann.«»Stallburschen kommen und gehen«, stellte ich sachlich fest.

«Pferde auch. Sein Kopf ist halt darauf geeicht. Leute scheren ihn einen Dreck.«

«Und wie steht’s mit den Frauen?«erkundigte ich mich.

«Er benutzt sie, die armen Dinger. Ich wette, daß er selbst dann, wenn er mit ihnen schläft, noch darüber nachdenkt, welche Pferde er am nächsten Tag laufen lassen soll.«

«Und Rosemary… was hält sie so von alledem?«

Ich füllte sein Glas nach und nahm einen Schluck aus dem meinen. Bobby schlang den Rest seines Sandwiches hinunter und leckte sich die Krümel von den Fingern.

«Rosemary? Die ist schon halbwegs übergeschnappt.«

«Beim Rennen gestern sah sie eigentlich ganz normal aus«, entgegnete ich.»Und heute ist sie doch auch da.«

«Schön und gut, in der Öffentlichkeit kann sie durchaus noch die große Dame mimen, das stimmt schon, aber ich war drei Tage lang Gast in ihrem Haus, und ich kann dir nur sagen, alter Knabe, daß man das, was da vor sich geht, selbst miterlebt haben muß, um es glauben zu können.«

«Was zum Beispiel?«

«Zum Beispiel, daß Rosemary im ganzen Haus rumbrüllt, die Sicherheitsmaßnahmen im Stall seien nicht ausreichend, und George ihr rät, die Schnauze zu halten. Rosemary leidet unter der fixen Idee, daß jemand an ein paar von ihren Pferden rumgepfuscht hat, und ich glaube, sie hat gar nicht so unrecht damit, denn man kann keinen so großen und so erfolgreichen Stall sein eigen nennen, ohne nicht auch eine entsprechende Menge an Ganoven abzubekommen, die Einfluß auf die Gewinnchancen zu nehmen versuchen. Jedenfalls«- er nahm einen großen

Schluck und griff nach der Flasche, um seine Vorräte großzügig wieder aufzufüllen —»packte sie mich eines Tages in der Diele am Jackett — und die Diele ist so groß wie eine geräumige Scheune —, packte mich also buchstäblich am Jackett und erklärte mir, daß ich lieber mal was über >Gleaner< und >Zingaloo< und über Manipulationsversuche schreiben solle… du erinnerst dich doch, diese beiden superschnellen Zweijährigen, mit denen es dann irgendwie nicht weiterging… und George kam aus seinem Arbeitszimmer und sagte, sie sei neurotisch und leide unter den Wechseljahren, und dann kam es in meiner Gegenwart zu einer regelrechten Schlammschlacht. «Er holte Luft und nahm einen Schluck.»Das Komische ist, daß sie sich trotzdem irgendwie mögen, glaube ich. Soweit er überhaupt jemanden mögen kann.«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne und gab mir den Anschein, nur mäßig interessiert zu sein, so, als sei ich in Gedanken ganz woanders.»Und was meinte George zu ihrer Geschichte von >Gleaner< und >Zingaloo

«Er ging einfach davon aus, daß ich sie nicht ernst nehmen würde, aber wie dem auch sei, er sagte mir dann doch, daß sie wahnsinnige Angst habe, jemand könnte >Tri-Nitro< klauen, und daß sie immer alles übertreibe. Das sei halt ihr Alter, sagte er. Er meinte, Frauen führten sich in diesem Alter immer so eigenartig auf. Er sagte, die Sicherheitsmaßnahmen, die man wegen ihrer ständigen Drängelei im Falle von >Tri-Nitro< ergriffen habe, seien schon doppelt so intensiv wie das, was er normalerweise für notwendig erachte, und mit Beginn der neuen Saison werde er sogar für Nachtwächter mit Hunden und dergleichen sorgen. Das heißt also jetzt. Er sagte mir, daß Rosemary sich irre, wenn sie glaube, >Gleaner< und >Zingaloo< seien manipuliert worden, aber sie habe nun mal diese

Zwangsvorstellung, und er wolle ihr bis zu einem gewissen Grad entgegenkommen, um zu verhindern, daß sie völlig überschnappt. Es scheint, daß beide… ich meine die Pferde… ein Herzgeräusch hatten, was natürlich die miserable Leistung erklären würde, die sie brachten, als sie älter und schwerer wurden. Das ist alles. Keine Story. «Er leerte sein Glas und füllte es wieder.»Also, mein lieber Sid, was willst du denn nun wirklich über George Caspar wissen?«

«Hm«, sagte ich.»Glaubst du, daß er vor irgend etwas Angst hat?«

«George?«sagte er ungläubig.»Was sollte das sein?«

«Ich weiß nicht, irgend etwas.«

«Als ich dort war, hatte ich den Eindruck, daß er soviel Angst hatte wie eine Tonne Stahlbeton.«

«Er wirkte nicht beunruhigt?«

«Nicht im geringsten.«

«Oder nervös?«

Er zuckte die Achseln.»Nur seiner Frau gegenüber.«

«Wann warst du eigentlich dort?«

«Warte mal…«Er überlegte.»Nach Weihnachten. Ja… es war in der zweiten Januarwoche. Wir müssen diese Wochenendbeilagen immer schon so lange im voraus produzieren.«

«Du glaubst also nicht«, sagte ich langsam und mit einem Unterton von Enttäuschung,»daß ihm an einem zusätzlichen Schutz für >Tri-Nitro< gelegen wäre?«

«Das ist’s also, was dich beschäftigt?«Er griente anzüglich.

«Da läuft nichts, mein lieber Sid. Versuch’s bei einem mit kleinerer Schuhgröße. George hat seinen ganzen verdammten Stall verrammelt. Abgesehen davon handelt es sich um eines dieser alten Dinger, die von einer Mauer eingeschlossen sind wie eine Festung. Und dann gibt’s da drei Meter hohe Doppeltore mit einer Krone aus Stahlspitzen oben drauf.«

Ich nickte.»Ja… hab ich gesehen.«

«Na bitte. «Er zuckte mit den Schultern, als sei die Sache damit erledigt.

In allen Bars von Kempton waren Fernsehgeräte vorhanden, um auch die ernsthaften Trinker über den Stand der Rennen draußen auf dem laufenden zu halten, und Bobby Unwin und ich sahen uns auf dem am nächsten stehenden Gerät das zweite Rennen an. Das Pferd, das mit sechs Längen Vorsprung gewann, gehörte zu denen, die von George Caspar trainiert wurden, und während Bobby nachdenklich den Rest des Champagners betrachtete, der noch in der Flasche war, betrat George die Bar. Hinter ihm kam ein fülliger Mann in kamelhaarfarbenem Mantel herein, dem deutlich der zufriedene, weil siegreiche Besitzer anzusehen war. Strahlendes Siegerlächeln, große Gesten, die Runde übernehme ich.

«Mach die Flasche leer, Bobby«, sagte ich.

«Möchtest du nichts mehr?«

«Alles deins.«

Er erhob keine Einwände. Schenkte sich ein, trank aus und rülpste behaglich.»Gehn wir lieber mal«, sagte er.»Muß noch was Brauchbares über die Gäule im dritten schreiben. Und erzähl bloß meinem Chef nicht, daß ich mir das zweite in der Bar angeschaut habe, der schmeißt mich sonst glatt raus. «Das war nicht so ernst gemeint. Er verfolgte so manches Rennen in der Bar.»Wir sehn uns, Sid. Danke für den Drink.«

Er drehte sich mit einem Kopfnicken um, ging mit festem Schritt zur Tür und ließ durch nichts erkennen, daß er soeben sieben Achtel einer Flasche Champagner in ungefähr einer halben Stunde in sich hineingekippt hatte. Zweifellos hatte er damit nur eine Grundlage geschaffen — seine Aufnahmekapazität war geradezu phänomenal.

Ich steckte die Wochenendbeilage ein und folgte ihm langsam, wobei ich über das nachdachte, was er mir erzählt hatte. Als ich an George Caspar vorbeikam, sagte ich» Gut gemacht«, wie es bei solchen Anlässen die Höflichkeit gebietet, und er nickte mir kurz zu und sagte» Sid«, woraufhin ich, da die Sache damit erledigt zu sein schien, meinen Weg zur Tür fortsetzte.

«Sid«, rief er mir mit erhobener Stimme nach.

Ich drehte mich um. Er winkte mir, und ich ging zu ihm zurück.

«Möchte Sie gern mit Trevor Deansgate bekannt machen«, sagte er.

Ich schüttelte die dargebotene Hand — schneeweiße Manschette, goldene Manschettenknöpfe, weiche, blasse Haut, ein wenig feucht, gepflegte Fingernägel, ein Siegelring, Onyx und Gold, am kleinen Finger.

«War der Sieger Ihr Pferd?«fragte ich.»Ich gratuliere.«

«Wissen Sie, wer ich bin?«

«Trevor Deansgate.«

«Davon mal abgesehen?«

Es war das erste Mal, daß ich ihn aus nächster Nähe sah. Mächtige Männer haben oftmals verräterisch herabhängende Augenlider, die Ausdruck eines Gefühls der Überlegenheit sind — und ebendie hatte er auch. Dazu dunkelgraue Augen, schwarzes, sorgfältig frisiertes Haar und den schmalen Mund, der zu den gut durchtrainierten Muskeln des entscheidungsfreudigen Menschen paßt.

«Nun mal los, Sid«, sagte George in mein kurzes Zögern hinein.»Wenn Sie’s wissen, dann raus damit. Ich hab Trevor gesagt, daß Sie alles wissen.«

Ich sah ihn an, aber alles, was sich seinen harten, wettergegerbten Zügen entnehmen ließ, war eine Art spöttischer Erwartung. Ich wußte sehr wohl, daß viele Leute in meiner neuen Tätigkeit so etwas wie eine Spielerei sahen. In der augenblicklichen Situation schien es jedoch nichts zu schaden, wenn ich durch den Reifen sprang, den er mir hinhielt.

«Buchmacher?«sagte ich vorsichtig und fügte, an Trevor Deansgate gewandt, hinzu:»Billy Bones?«

«Na bitte«, rief George erfreut aus,»hab ich’s Ihnen nicht gesagt?«

Trevor Deansgate nahm es philosophisch. Ich versuchte auch gar nicht erst, weitere Reaktionen zu provozieren, da diese vielleicht nicht gar so freundlich ausgefallen wären. Sein Geburtsname lautete dem Vernehmen nach Shum-muck. Trevor Shummuck aus Manchester, der mit messerscharfem Verstand in einem Slum zur Welt gekommen war und auf dem Weg nach oben seinen Namen, seinen Akzent und seinen Umgang gewechselt hatte. Wie Bobby Unwin vielleicht gesagt haben würde: Haben wir das nicht alle, und warum auch nicht?

Der Aufstieg in die Gruppe der ganz Großen war Trevor Deansgate geglückt, als er die traditionsreiche, aber in Schwierigkeiten geratene Firma» Billy Bones«übernommen hatte, wobei» Billy Bones «nur das Aushängeschild eines Brüderpaars namens Rubenstein und ihres Onkels Solly gewesen war. In den vergangenen Jahren war Billy Bones wieder zu einem sehr erfolgreichen Haus geworden. Man konnte kaum noch eine Sportzeitung aufschlagen oder zu einem Rennen gehen, ohne auf die das Auge blen-dende, in fluoreszierendem Rosa gehaltene Werbung der Firma zu stoßen, die einem mit Slogans wie» Billy ist der Beste — jede Wette!«den sonntäglichen Frieden zu rauben drohte. Wenn das Geschäft so lebhaft war wie seine Werbekampagnen, dann konnte an Trevor Deansgates Wohlergehen nicht gezweifelt werden. Wir unterhielten uns höflich über das siegreiche Pferd, bis es an der Zeit war, sich nach draußen zu begeben, um die im nächsten Rennen laufenden Pferde anzuschauen.

«Was macht >Tri-Nitro

«Dem geht’s großartig«, antwortete er.»Ist in Topform.«

«Keine Probleme?«

«Nicht die geringsten.«

Draußen trennten wir uns, und ich verbrachte den Rest des Nachmittags in gewohnt zielloser Weise, das heißt, ich sah mir die Rennen an, unterhielt mich mit Leuten und hing unwichtigen Gedanken nach. Ich sah Rosemary nicht wieder, schätzte, daß sie mich mied, und beschloß, nach dem fünften zu gehen.

Einer der Rennbahnordner hielt mich am Ausgang mit erleichterter Miene an, als habe er schon Ewigkeiten auf mich gewartet und gerade alle Hoffnung fahren lassen.

«Eine Nachricht für Sie, Mr. Halley.«

«Ach ja? Danke.«

Er überreichte mir einen unscheinbaren braunen Umschlag. Ich steckte ihn in die Tasche und ging zu meinem Auto. Stieg ein, holte den Umschlag wieder hervor, öffnete ihn und las den Brief.

Sid,bin den ganzen Nachmittag sehr eingespannt gewesen, würde Sie aber gern sprechen. Wäre es möglich, daß wir uns im Teeraum treffen? Nach dem letzten Rennen?

Lucas Wainwright

Unter wilden Verwünschungen ging ich über den Parkplatz zurück, durchs Tor hindurch und weiter zum Restaurant, wo die Mittagsmahlzeiten Sandwiches und Kuchen gewichen waren. Das letzte Rennen war gerade vorbei, die nach Tee verlangenden Zuschauer schlenderten langsam und in kleinen, durstigen Grüppchen herein — aber keine Spur von Commander Lucas Wainwright, dem Sicherheitsbeauftragten des Jockey Club.

Ich saß wartend herum, und schließlich kam er doch noch, gehetzt, besorgt, unter Entschuldigungen und völlig geschafft.

«Möchten Sie einen Tee?«Er war ganz außer Atem.

«Nicht unbedingt.«

«Na schön, trinken Sie trotzdem einen. Hier können wir ungestört sitzen, in der Bar hocken immer viel zu viele Leute.«

Er führte mich zu einem Tisch und forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen.

«Hören Sie, Sid. Was würden Sie davon halten, einen Job für uns zu übernehmen?«Kein Zeitverschwender, dieser Commander Wainwright!

«Heißt >uns< der Sicherheitsdienst?«

«Ja.«

«Offiziell?«fragte ich überrascht. Die für die Sicherheit auf den Rennplätzen zuständigen Leute hatten eine ungefähre Vorstellung von meiner augenblicklichen Tätigkeit und hatte keine Einwände erhoben, aber ich hatte mir noch nie vorstellen können, daß sie damit im Gegenteil sogar einverstanden sein könnten. In mancherlei Hinsicht hatte ich mich auf ihr Terrain vorgewagt und ihnen auf die Zehen getreten.

Lucas trommelte mit den Fingern auf dem Tischtuch.

«Inoffiziell«, sagte er.»Meine ganz private Angelegenheit.«

Da Lucas Wainwright der Obermohr des Sicherheitsdienstes war, also Chef des Untersuchungs- und Kontrollorgans des Jockey Club, durfte man auch inoffizielle Anfragen seinerseits als einigermaßen wohlbegründet ansehen. Jedenfalls, solange nicht das Gegenteil bewiesen war.

«Was ist das für ein Job?«erkundigte ich mich.

Der Gedanke an die Art des Auftrages ließ ihn zum ersten Mal das Tempo drosseln. Er sagte» Hm «und»Äh «und» Ha «und trommelte weiter mit den Fingern, raffte sich schließlich und endlich aber doch auf und konfrontierte mich mit einem Problem, das sich als ausgesprochen haarig herausstellte.

«Also, Sid, das ist alles streng vertraulich.«

«Ja.«

«Ich bin eigentlich nicht befugt, mit Ihnen darüber zu sprechen.«

«Aha«, sagte ich.»Na egal, fahren Sie fort.«

«Da ich keinen offiziellen Auftrag habe, kann ich Ihnen auch keine Bezahlung zusagen.«

Ich seufzte.

«Was ich Ihnen allenfalls anbieten könnte, wäre… na ja… Unterstützung, sollten Sie die je brauchen. Und natürlich nur im Rahmen dessen, was mir zu Gebote steht.«

«Das kann unter Umständen mehr wert sein als Geld«, sagte ich.

Er sah erleichtert aus.»Gut. Hm… jetzt wird’s schwierig.

Sehr heikel. «Er zögerte nach wie vor, aber dann sagte er schließlich mit einem sich schon eher wie ein Aufstöhnen anhörenden Seufzer:»Ich möchte Sie bitten, ganz… äh… diskret den Hintergrund… äh… ich meine, einen von unseren Leuten zu überprüfen.«

Es trat eine kurze Stille ein. Dann sagte ich:»Wollen Sie damit sagen, einen von Ihren Leuten? Einen vom Sicherheitsdienst?«

«Bedauerlicherweise, ja.«

«Und worum genau geht es da?«fragte ich.

Er blickte mich unglücklich an.»Bestechung, Schmiergelder, solche Geschichten.«

«Hm«, sagte ich.»Verstehe ich Sie richtig? Sie glauben, daß einer Ihrer Leute Gelder von irgendwelchen Dunkelmännern kassiert, und möchten nun, daß ich dem nachgehe?«

«So ist es«, sagte er.»Genau das.«

Ich dachte nach.»Warum übernehmen Sie diese Ermittlungen nicht selbst- und setzen einen Ihrer Leute darauf an?«

«Ah, ja…«Er räusperte sich.»Wissen Sie, da gibt es Schwierigkeiten. Falls ich mich irren sollte, wäre es nicht wünschenswert, wenn alle Welt erführe, daß ich einen solchen Verdacht hatte. Das würde große, sehr große Unannehmlichkeiten nach sich ziehen. Und falls ich recht behalte, was, wie ich fürchte, der Fall sein wird, möchten wir… also der Jockey Club… uns in der Lage sehen, die Geschichte in aller Stille zu bereinigen. Ein öffentlicher Skandal, in dessen Mittelpunkt der Sicherheitsdienst stünde, würde dem Rennsport erheblichen Schaden zufügen.«

Ich dachte kurz, daß er die Sache vielleicht doch ein wenig aufbauschte, aber dem war nicht so.

«Der Mann, um den es geht«, sagte er traurig,»ist Eddy Keith.«

Wieder herrschte Schweigen. Die Hierarchie des Sicherheitsdienstes sah derzeit so aus, daß Lucas Wainwright an seiner Spitze stand und eine Stufe tiefer zwei gleichberechtigte Stellvertreter. Diese Stellvertreter waren beide hochrangige Polizeibeamte im Ruhestand. Einer davon war Ex-Superintendent Eddison Keith.

Ich hatte eine klare Vorstellung von ihm, da ich oft mit ihm zu tun gehabt hatte. Ein hochgewachsener, gutmütigderber, heiterer Mann, der einem gern mit kräftiger Hand auf die Schulter schlug. In der von Natur aus lauten Stimme ein deutlich vernehmbarer Einschlag des in Suffolk gesprochenen Dialekts. Ein stattlicher, üppig sprießender, strohblonder Schnurrbart, weiches, hellbraunes Haar, durch das die rosa Schädeldecke hindurchschimmerte, und unter schweren Lidern Augen, die ständig vor guter Laune zu leuchten schienen, was aber nicht selten täuschte.

Ich hatte gelegentlich ein Funkeln darin gesehen, das so kalt und unbarmherzig schimmerte wie ein Gletscher. Es glich eher Sonnenlicht, das auf Eis fiel — hübsch, aber trügerisch. Einer, der einem die Handschellen mit vergnügtem Lächeln anlegte — so einer war Eddy Keith.

Aber krumme Dinger.? Das hätte ich nie gedacht.

«Welche Hinweise gibt es denn?«fragte ich schließlich.

Lucas Wainwright kaute eine Weile auf seiner Unterlippe herum und sagte dann:»Vier seiner im vergangenen Jahr vorgenommenen Überprüfungen haben Resultate erbracht, die nicht korrekt sind.«

Ich sah ihn verständnislos an.»Das besagt doch aber noch nicht allzu viel.«

«Nein, stimmt genau. Wenn ich meiner Sache sicher wäre, säße ich ja auch nicht hier und spräche mit Ihnen.«

«Wahrscheinlich nicht. «Ich dachte ein Weilchen nach.»Und was waren das für Überprüfungen?«

«In allen vier Fällen ging es um Syndikate. Genauer gesagt darum, die Eignung von Leuten zu prüfen, die Syndikate zum Zweck des Erwerbs von Rennpferden gründen wollten. Es sollte gewährleistet sein, daß sich da nicht irgendwelche unerwünschten Personen gleichsam durch die Hintertür in den Rennsport einschlichen. Eddy erklärte die vier geplanten Syndikate für unbedenklich, obwohl allen in Wirklichkeit eine oder mehrere Personen angehören, die wir nie und nimmer zur Tür hereinlassen würden.«

«Woher wissen Sie das? Wie haben Sie das herausgefunden?«

Er schnitt eine Grimasse.»Ich habe in der vergangenen Woche jemanden im Zusammenhang mit einer Dopinganzeige verhört. Und der hatte eine Stinkwut auf eine Gruppe von Leuten, die ihn, wie er sagte, hängengelassen hatten. Er verkündete mir triumphierend, daß diese Kerle alle miteinander Pferde unter falschem Namen laufen lassen würden. Er nannte mir die Namen, ich prüfte die Sache, und die vier Syndikate, denen die Genannten angehörten, hatten alle von Eddy grünes Licht erhalten.«

«Könnte es sein«, sagte ich langsam,»daß es sich bei allen um Syndikate handelt, denen Lord Friarly vorsteht?«

Er sah bedrückt aus.»Ja, leider ist es so. Lord Friarly hat heute nachmittag mir gegenüber erwähnt, daß er Sie gebeten hat, sich mal mit dieser Geschichte zu befassen. Aus reiner Höflichkeit. Das bestärkte mich nur noch in meinem

Vorhaben, Sie meinerseits ebenfalls darum zu bitten. Aber ich möchte, daß nichts davon nach außen dringt.«

«Das ist auch sein Wunsch«, versicherte ich ihm.»Könnten Sie mir Eddys Berichte zur Verfügung stellen? Oder Kopien davon? Und die falschen sowie die richtigen Namen der unerwünschten Personen?«

Er nickte.»Ich werde dafür sorgen, daß Sie sie bekommen. «Er sah auf die Uhr und erhob sich, wobei die gewohnte Lebhaftigkeit in ihn zurückkehrte.»Ich muß Ihnen das wohl nicht erst sagen… aber bitte, gehen Sie diskret vor.«

Ich begleitete ihn auf seinem Eilmarsch zur Tür, wo er mich mit noch schnelleren Schritten und einem nur angedeuteten Abschiedswinken verließ. Seine aufrechte Gestalt verschwand in der Tür der Waage, und ich begab mich erneut zu meinem Auto, wobei mir durch den Kopf ging, daß ich, wenn ich weiter mit solcher Geschwindigkeit Aufträge einsammelte, wohl schon bald die Reservisten einberufen müßte.

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