Kapitel 7

Ich fuhr im Taxi nach Hause und bezahlte den Fahrer vor der Eingangstür des Wohnhauses, das heißt nicht genau davor, denn dort parkte ein dunkles Auto, und das mitten im absoluten Halteverbot.

Ich beachtete den Wagen jedoch kaum, was sich als Fehler erwies, denn als ich auf seiner Höhe war und mich der Haustür zuwandte, gingen die Türen auf der Gehsteigseite auf und spuckten Scherereien der übelsten Sorte aus.

Ich wurde von zwei Männern in dunkler Kleidung gepackt. Der eine versetzte mir mit etwas Hartem einen betäubenden Schlag auf den Kopf, während mir der andere etwas, was ich später als eine Art Lasso aus dickem Seil erkannte, um Arm und Brust warf und fest zusammenzog. Dann verstauten sie mich gemeinsam auf dem Rücksitz ihres Autos, und der eine band mir zur Abrundung noch ein schwarzes Tuch vor meine halb geschlossenen Augen.

«Schlüssel«, sagte eine Stimme.»Schnell. Es hat uns keiner gesehen.«

Ich fühlte, wie sie in meinen Taschen herumkramten. Ein klirrendes Geräusch zeigte an, daß sie gefunden hatten, was sie suchten. Als ich sozusagen wieder klar sehen konnte, begann ich mich zu wehren, was eine reine Reflexhandlung war, dessenungeachtet aber wiederum ein Fehler.

Das Tuch vor meinen Augen wurde um ein widerwärtig riechendes Stoffknäuel vor Mund und Nase ergänzt. Anästhesierende Dämpfe vernebelten mir die Sinne, und mein letzter Gedanke war, daß sie keine Zeit verloren hatten, falls ich Masons Schicksal teilen sollte.

Als erstes wurde mir bewußt, daß ich auf Stroh lag.

Stroh. Stroh wie in einem Stall. Es raschelte, wenn ich mich zu bewegen versuchte. Das Gehör funktionierte — wie immer — als erstes wieder.

Ich hatte mir im Laufe der Jahre bei Stürzen schon etliche Gehirnerschütterungen zugezogen. Eine Weile dachte ich wirklich, ich wäre vom Pferd gefallen. Ich konnte mich nur nicht daran erinnern, von welchem und wo.

Komisch.

Die gar nicht willkommene Orientierung war ganz plötzlich wieder da. Ich hatte an keinem Rennen teilgenommen. Ich hatte ja nur eine Hand. Ich war am hellichten Tage auf einer Straße Londons entführt worden. Ich lag auf dem Rücken, lag irgendwo auf Stroh, die Augen verbunden, ein Seil um Brust und Arme geschlungen, oberhalb der Ellbogen, so daß die Oberarme am Leib festgeschnürt waren. Ich lag auf dem Knoten. Ich wußte nicht, warum ich hier war… und sah der Zukunft nicht mit der allergrößten Zuversicht entgegen.

Mist, Mist, verdammter Mist!

Meine Füße waren an irgendeinem nicht zu bewegenden Gegenstand festgebunden. Es war stockdunkel, sogar an den Rändern meiner Augenbinde. Ich setzte mich auf und versuchte, mich wenigstens teilweise zu befreien. Eine Heidenmühe und nicht der geringste Erfolg.

Ewigkeiten später waren draußen Schritte auf Kiesgrund hörbar, dann knarrte eine Holztür, und plötzlich schimmerte an den Seiten Licht durch die Binde.

«Nun hören Sie schon auf damit, Mr. Halley«, sagte eine Stimme.»Sie kriegen diese Knoten mit einer Hand nie und nimmer auf.«

Ich stellte meine Versuche ein. Es hatte wirklich keinen Zweck weiterzumachen.

«Hat ein bißchen was von einem Overkill«, sagte der Mann genüßlich.»Fesseln und Betäubungsmittel und Gummiknüppel und Augenbinde. Na ja, ich hab ihnen natürlich gesagt, sie sollten vorsichtig sein und sich außer Reichweite dieses Blecharms da halten. Ein Bursche, den ich kenne, weiß sehr häßliche Geschichten davon zu erzählen, wie Sie ihm mal mit diesem Ding, mit dem er nicht gerechnet hatte, eine verpaßt haben.«

Ich kannte die Stimme. Untertöne von Manchester, Obertöne vom oberen Teil der sozialen Stufenleiter. Das Selbstbewußtsein der Macht.

Trevor Deansgate.

Zuletzt gesehen in Newmarket, wo er im Pulk nach >Tri-Nitro< gesucht und ihn erkannt hatte, da er im Unterschied zu den meisten anderen den Bereiter kannte. Deansgate, der dann zum Frühstück zu den Caspars gegangen war. Der Buchmacher Trevor Deansgate war ein Fragezeichen gewesen, eine Möglichkeit, jemand, den man in Betracht ziehen, überprüfen mußte. Etwas, was ich getan hätte, aber noch nicht getan hatte.

«Nehmt ihm die Augenbinde ab«, sagte er.»Ich will, daß er mich sieht.«

Irgendwelche Finger brauchten ihre Zeit, bis sie den sehr festgezogenen Stoffknoten aufbekamen. Als das Tuch herunterfiel, war ich einen Augenblick vom Licht geblendet. Was ich danach als erstes erblickte, war der auf mich gerichtete Doppellauf einer Schrotflinte.

«Kanonen auch noch«, sagte ich säuerlich.

Es war eine Scheune, kein Stall. Zu meiner Linken türmte sich ein riesiger Stapel Strohballen, und rechts von mir stand ein paar Schritte entfernt ein Traktor. Meine Füße waren an der Zugstange einer Walze festgebunden. Die Scheune hatte ein hohes, auf Balken ruhendes Dach, von dem eine nackte, schwächliche Glühbirne herabhing und Trevor Deansgate beleuchtete.

«Sie sind ein wirklich schlaues Kerlchen, und das sehr zu Ihrem Schaden«, sagte er.»Wissen Sie, was man über Sie sagt? Wenn Halley hinter dir her ist, dann sieh dich vor. Der pirscht sich an dich ran, wenn du noch meinst, daß er nicht mal was von deiner Existenz weiß, und bevor du getickt hast, was eigentlich läuft, fallen schon die Zellentüren hinter dir zu.«

Ich sagte nichts. Was konnte man darauf schon sagen? Zumal, wenn man wie ein zusammengeschnürter Narr auf der falschen Seite einer Schrotflinte saß.

«Tja, Sie sehen, ich habe nicht auf Sie gewartet«, sagte er.»Ich weiß, daß Sie verdammt nah dran waren, mich einbuchten zu lassen. Haben nur noch Ihre Fallen aufgestellt, wie? Darauf gewartet, daß ich Ihnen in die Hände falle, wie schon so viele andere.«

Er verstummte und überdachte, was er soeben gesagt hatte.»In Ihre Hand«, verbesserte er sich dann.»Und in diese tolle Kralle.«

Er sprach in einer Art zu mir, die unseren gemeinsamen Ursprüngen Rechnung trug, der Tatsache, daß wir es beide, gemessen daran, einigermaßen weit gebracht hatten. Es war nicht so sehr eine Frage des Akzents, sondern des Verhaltens. Es war nicht erforderlich, sich in sozialer Hinsicht etwas vorzumachen. Die Botschaft war schlicht, erfolgte von gleich zu gleich und würde verstanden werden.

Wie schon in Newmarket, trug er auch jetzt einen Straßenanzug, diesmal weißer Nadelstreifen. Dazu eine Krawatte von Gucci. Die gepflegten Hände hielten die Schrotflinte mit der Könnerschaft, zu der einem viele, auf Land-sitzen verbrachte Wochenenden verhelfen. Was spielte es für eine Rolle, dachte ich, wenn die Finger, die den Abzug betätigten, sauber und manikürt waren? Was spielte es für eine Rolle, daß seine Schuhe so blitzblank geputzt waren… Ich konzentrierte mich auf diese bedeutungslosen Einzelheiten, weil ich nicht an den Tod denken wollte.

Er stand eine Weile schweigend vor mir, betrachtete mich nur. Ich saß so bewegungslos wie möglich da und dachte an einen netten, sicheren Job im Büro eines Börsenmaklers.

«Sie kann nichts aus der Fassung bringen, was?«sagte er schließlich.»Überhaupt nichts.«

Ich antwortete nicht.

Die anderen beiden Männer befanden sich rechts hinter mir, außerhalb meines Blickfeldes. Hin und wieder hörte ich ihre Füße übers Stroh scharren. Viel zu weit weg, um sie erreichen zu können.

Ich trug das, was ich für mein Mittagessen mit Charles angezogen hatte. Graue Hosen, Socken, dunkelbraune Schuhe. Ferner Hemd, Schlips und einen erst kürzlich erstandenen, ziemlich teuren Blazer — das Seil war eine Zugabe. Was spielte das schon für eine Rolle? Wenn er mich umbrachte, würde Jenny alles übrige bekommen. Ich hatte mein Testament nicht geändert.

Trevor Deansgate wandte seine Aufmerksamkeit den beiden Männern hinter mir zu.

«Hört zu«, sagte er,»und bringt mir nichts durcheinander. Nehmt die beiden Stricke da und bindet einen an seinen rechten und einen an seinen linken Arm. Paßt auf, falls er irgendwelche Tricks versucht.«

Er hob das Gewehr ein wenig, so daß ich nun direkt in die Läufe hineinschauen konnte. Wenn er von da aus schoß, dachte ich, würde er seine beiden Kumpel treffen.

Es sah doch nicht nach einer schnellen Exekution aus. Seine Kumpel waren damit beschäftigt, die beiden Stricke an meinen Handgelenken festzubinden.

«Nicht am linken Gelenk, du Blödmann«, rief Trevor Deansgate.»Das geht doch ab. Benutz mal deinen Verstand. Bind ihn weiter oben fest, über dem Ellbogen.«

Der betreffende Kumpel tat wie geheißen, zog den Knoten fest und hob dann fast beiläufig eine wie ein Brecheisen aussehende Metallstange auf, die er so fest packte, als fürchte er, ich könne mich wie Superman doch noch befreien und mich auf ihn stürzen.

Brechstange… plötzlich überliefen Schauder häßlicher Vorahnungen meine Kopfhaut. Ich war schon einmal einem Schurken begegnet, der genau gewußt hatte, wo er mich am empfindlichsten treffen konnte. Er hatte meine ohnehin schon unbrauchbare linke Hand mit einem Schürhaken zerschmettert und eine Verkrüppelung in einen Totalverlust verwandelt. Der Verlust meiner richtigen Hand hatte mich oft geschmerzt, ich hatte immer wieder still darunter gelitten, aber mir war bis zu diesem Übelkeit erregenden Augenblick gar nicht klar gewesen, wie teuer mir der verbliebene Rest war. Die Muskeln, die die Elektroden aktivierten — sie verhalfen mir doch zumindest zu etwas, das einer funktionierenden Hand nahekam. Wenn sie noch einmal verletzt würden, hätte ich nicht einmal mehr das. Und was den Ellbogen anbetraf… wenn er mich auf längere Zeit außer Gefecht setzen wollte, brauchte er nur die Brechstange zu benutzen.

«Das gefällt Ihnen gar nicht, wie, Mr. Halley?«meinte Trevor Deansgate.

Ich wandte mich wieder ihm zu. In seiner Stimme und in seinem Gesicht war plötzlich eine Mischung aus Triumph und Befriedigung — und so etwas wie Erleichterung.

Ich sagte nichts.

«Sie schwitzen ja«, bemerkte er.

Er gab seinen Kumpanen einen weiteren Befehl.»Macht das Seil um seine Brust los. Und Vorsicht dabei. Haltet die Stricke an seinen Armen gut fest.«

Sie lösten den Knoten und zogen das beengende Seil weg. Meine Fluchtchancen erhöhten sich dadurch allerdings nicht. Sie überschätzten meine Fähigkeiten, ihnen einen Kampf zu liefern, doch gewaltig.

«Legen Sie sich hin«, sagte Trevor zu mir, und als ich nicht sofort gehorchte, sagte er:»Stoßt ihn um. «So oder so, ich endete auf dem Rücken liegend.

«Ich habe nicht die Absicht, Sie umzubringen«, sagte er da.

«Natürlich könnte ich Ihre Leiche irgendwo verschwinden lassen, aber das gäbe zuviele Fragen. Das Risiko kann ich nicht eingehen. Wenn ich Sie aber schon nicht umbringe, muß ich Ihnen wenigstens das Maul stopfen, ein für allemal.«

Ich hatte keine Ahnung, wie er das machen wollte, ohne mich umzubringen — ich war ja so begriffsstutzig!

«Zieht den Arm zur Seite, vom Körper weg!«befahl er.

Mein linker Arm wurde mit Macht beiseite gezogen, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich drehte den Kopf in diese Richtung und versuchte, nicht zu betteln und nicht zu weinen.

«Doch nicht den, du verdammter Schwachkopf!«brüllte Trevor los.»Den anderen, den rechten. Zieh ihn weg, zur Seite.«

Jetzt zog der Kerl zu meiner Rechten mit aller Kraft am Seil, bis mein Arm im rechten Winkel zu meinem Körper und gerade ausgestreckt lag, die Handfläche nach oben.

Trevor Deansgate trat auf mich zu und senkte das Gewehr, bis die beiden Läufe direkt auf das Handgelenk des ausgestreckten rechten Arms zeigten. Dann senkte er sie vorsichtig noch weiter, bis sie meine Haut berührten, und drückte das Gelenk nach unten auf den strohbedeckten Boden. Ich konnte die metallenen Ränder der Läufe hart auf den Knochen, Nervensträngen und Sehnen des Handgelenks spüren — auf der Brücke zu einer gesunden Hand.

Ich hörte das Klicken, als er den Hahn spannte. Ein Schuß aus einer Waffe dieses Kalibers würde mir den größten Teil des Arms abreißen.

Ich fühlte mich halb ohnmächtig und schwitzte am ganzen Leibe.

Was immer die Leute sagen mochten — ich wußte sehr wohl, was Angst war. Ich hatte keine Angst vor Pferden, vor Rennen, vor Stürzen oder vor ganz normalen Schmerzen, sondern vor Erniedrigung und Zurückweisung, vor Hilflosigkeit und Versagen. Davor fürchtete ich mich.

Aber alle Furcht, die ich in meinem Leben schon verspürt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was ich in dieser alles auflösenden, das Denken zersetzenden, grauenvollen Minute empfand. Sie zerbrach mich. Überflutete mich. Reduzierte mich auf einen Morast von Angst, ein Wimmern in der Seele. Und instinktiv und verzweifelt versuchte ich, es mir nicht anmerken zu lassen.

Er beobachtete mich bewegungslos ungezählte, stille, immer bedrängender werdende Sekunden lang. Ließ mich schmoren. Machte es immer schlimmer.

Am Ende atmete er tief durch und sagte:»Sie sehen, ich könnte Ihnen leicht Ihre Hand wegpusten. Nichts einfacher als das. Ich werd’s aber wahrscheinlich nicht tun. Jedenfalls nicht heute. «Er machte eine Pause.»Hören Sie mir zu?«

Ich nickte kaum wahrnehmbar. Meine Augen konnten vor lauter Gewehr nichts sehen.

Seine Stimme war ruhig, ernst, gab jedem Satz Gewicht.»Sie werden mir zusichern, daß Sie sich zurückziehen. Daß Sie nichts mehr unternehmen, was in irgendeiner Weise gegen mich gerichtet ist. Nie wieder. Sie werden morgen früh nach Frankreich fliegen und bis nach den Guineas dort bleiben. Danach können Sie tun, was Sie wollen. Sollten Sie Ihre Zusicherung jedoch nicht einhalten… nun ja, Sie sind leicht zu finden. Ich werde Sie finden und Ihnen die rechte Hand wegschießen. Mir ist es ernst, und Sie täten gut daran, mir das zu glauben. Irgendwann würde ich Sie erwischen, Sie würden mir nicht entgehen. Verstehen Sie?«

Ich nickte wieder. Ich spürte das Gewehr — es fühlte sich heiß an. Laß es nicht zu, dachte ich, lieber Gott, laß es nicht zu!

«Geben Sie mir Ihr Versprechen. Sagen Sie’s.«

Ich schluckte, was weh tat. Zwang eine Stimme in meine Kehle, leise und heiser.»Ich verspreche es.«

«Sie ziehen sich zurück.«

«Ja.«

«Sie unternehmen nichts mehr gegen mich, nie mehr.«

«Nein.«

«Sie gehen nach Frankreich und bleiben dort bis nach den 2000 Guineas.«

«Ja.«

Wieder trat Stille ein und schien hundert Jahre zu dauern, während ich über mein unversehrtes Handgelenk hinweg auf die dunkle Seite des Mondes blickte.

Schließlich zog er das Gewehr zurück, öffnete den Verschluß und nahm die Patronen heraus. Mir war körperlich übel, und ich hatte mich kaum noch in der Gewalt.

Trevor ließ sich neben mir auf seine nadelgestreiften Knie nieder und betrachtete eingehend, was ich noch an Abwehr in mein bewegungsloses Gesicht und meine ausdruckslosen Augen zu legen vermochte. Ich fühlte, wie mir der verräterische Schweiß über die Backen rann. Er nickte mit grimmiger Befriedigung.

«Ich wußte, daß Sie das nicht ertragen könnten. Nicht auch noch die andere. Das könnte niemand. Es ist gar nicht nötig, Sie umzubringen.«

Er erhob sich wieder und streckte sich, wie um eine innere Anspannung zu lösen. Dann fuhr er mit der Hand in verschiedene Taschen und zog Dinge daraus hervor.

«Hier sind Ihre Schlüssel. Ihr Paß. Ihr Scheckheft. Kreditkarten. «Er legte alles auf einen Strohballen. Zu seinen Kumpeln sagte er:»Bindet ihn los und fahrt ihn zum Flugplatz. Nach Heathrow.«

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