Kapitel 11

Es war jetzt nicht mehr nötig zu fragen, wo die Ballons zu finden seien — sie waren nicht mehr zu übersehen. Sie fingen an, wie riesenhafte, knallig bunte Pilze emporzuwachsen, sich wie Buckel überall auf der ausgedehnten Wiesenfläche außerhalb des eigentlichen Festplatzes zu erheben. Ich hatte irgendwie die Vorstellung gehabt, daß da vielleicht drei oder vier Ballons sein würden, höchstens sechs, aber es mußten gut zwanzig sein.

Mit der Menge, die in die gleiche Richtung strömte, gelangte ich bis zum Tor in der Hecke und dann hinaus aufs freie Feld, und da wurde mir klar, daß ich die Aufgabe, John Viking zu finden, erheblich unterschätzt hatte.

Zunächst kam ich an ein Absperrseil, wo Ordner dafür sorgten, daß die herbeidrängenden Zuschauer davor stehenblieben. Es gelang mir schließlich, darunter durchzutauchen, doch nun fand ich mich in einem Wald halb gefüllter Ballons wieder, die sich überall um mich her aufwölbten und mir jede Sicht nahmen.

Die erste Gruppe von Menschen, auf die ich traf, war mit einem rosa- und purpurfarbenen Monstrum beschäftigt, dem mit Hilfe eines großen Ventilators Luft ins Maul geblasen wurde. Der Ballon war mit vier dünnen Nylonseilen an dem dazugehörigen Korb befestigt, der auf der Seite lag, und davor kniete ein junger Mann mit rotem Sturzhelm, der besorgt in seine Tiefen hineinspähte.

«Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich zu einem Mädchen,das am Rande der Gruppe stand,»wissen Sie vielleicht, wo ich John Viking finden kann?«

«Tut mir leid, nein.«

Der rote Sturzhelm kam hoch, und zwei sehr blaue Augen wurden darunter sichtbar.»Der ist hier irgendwo in der Nähe«, sagte der junge Mann höflich.»Fliegt einen >Stormcloud<-Ballon. Und würden Sie jetzt bitte so gut sein und verduften, wir haben zu tun.«

Ich hielt mich am Rande des Geschehens, versuchte, niemandem im Wege zu sein. Ballonwettfahrten waren, wie es schien, eine höchst ernsthafte Angelegenheit und nicht Anlaß zu fröhlichem Gelächter und freundlichem Geplauder. Angespannte Gesichter beugten sich über Seile und Ausrüstungsgegenstände, zählten, prüften, runzelten besorgt die Stirn. Aber kein Ballon sah wie eine Sturmwolke aus. Ich riskierte erneut eine Frage.

«John Viking? Der Vollidiot? Ja, der ist da. Fliegt einen >Stormcloud<. «Er wandte sich ab, beschäftigt und sorgenvoll.

«Welche Farben?«fragte ich schnell.

«Gelb und grün. Also bitte, nun gehn Sie doch aus dem Weg!«

Es gab Ballons, die für Whisky, für Marmelade, für Städte, ja sogar für Versicherungsgesellschaften Reklame machten. Da waren Ballons in strahlendsten Grundfarben, in rosa-weißen Pastelltönen, Ballons, die sich im Sonnenschein vom grünen Rasen erhoben wie durcheinandergewirbelte Regenbogen. An einem ganz normalen Tag wäre das ein wunderschöner Anblick gewesen, aber heute war es für mich, der ich versuchte, bis zur nächsten, erwartungsvoll um ihren Korb versammelten Gruppe durchzukommen, um einmal mehr und vergebens meine Frage zu stellen, nur ein frustrierendes Labyrinth aus Seide.

Ich umging ein sich blähendes, schwarz-weißes Ungeheuer und bewegte mich mehr auf die Mitte zu. Wie auf ein Signal hin erhob sich plötzlich überall um mich herum ein vielstimmiges, heiseres Fauchen, das von den Brennern stammte, die auf Gestellen über den Körben montiert waren. Die Flammen fuhren tosend in die offenen Rachen der halb aufgeblasenen Ballons, erhitzten und dehnten die bereits darin befindliche Luft und trieben zusätzliche hinein. Die leuchtenden Hüllen schwollen und wogten jetzt stärker, wuchsen wie Pilze langsam und prächtig in den blaßblauen Himmel empor.

«John Viking? Irgendwo da drüben. «Ein Mädchen hob vage deutend den Arm.»Aber der wird genauso beschäftigt sein wie wir.«

Die Ballons füllten sich, lösten sich vom Boden und standen schwankend in der Luft, stießen sich dabei gegenseitig leicht an. Aber sie waren noch immer nicht voll genug, um es den Vögeln gleichzutun. Unter allen Ballons tosten die Brenner, feuerrot und kräftig, und die Grüpp-chen der Helfer klammerten sich an die Körbe, um zu verhindern, daß sie vorzeitig entschwebten.

Nun, da die Ballons nicht mehr am Boden lagen, war es mir ein leichtes, auch einen grün-gelben zu entdecken. Grüne und gelbe Segmente wie bei einer Apfelsine und unten ein breites, grünes Band. Ein Mann stand bereits in dem Korb, den drei Leute festhielten. Im Unterschied zu den anderen Fahrern hatte er keinen Sturzhelm auf, sondern eine blaue Segelmütze.

Ich rannte auf ihn zu, und als ich die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, ertönte der Startschuß. Überall um mich her wurden die Körbe losgelassen und fingen an, sich schwerfällig und immer wieder auf den Boden aufstoßend davonzubewegen. Die Zuschauer brachen in lautes Jubelgeschrei aus.

Ich erreichte die Gruppe, auf die ich es abgesehen hatte, und legte die Hand auf den Rand des Korbes.

«John Viking?«

Niemand beachtete meine Frage. Ein heftiger Streit war im Gange. Eine junge Frau in Sturzhelm, Anorak, Jeans und Stiefeln stand vor dem Korb, die zwei Helfer mit bedrückten, verlegenen Gesichtern neben ihr.

«Ich fahr nicht mit. Du bist doch total verrückt.«

«Steig ein! Los, steig ein, verdammt noch mal. Der Start ist freigegeben.«

Der Mann im Korb war sehr groß, sehr hager, sehr erregt.

«Ich komm nicht mit.«

«Du mußt!«Er packte sie mit festem Griff am Handgelenk. Es sah fast so aus, als wolle er sie mit Schwung in den Korb hieven, und auch sie schien das zu erwarten, denn sie versuchte sich loszureißen, keuchte, zappelte und schrie:»Laß los, John. Laß los. Ich fahr nicht mit.«

«Sind Sie John Viking?«fragte ich laut.

Er warf den Kopf herum, hielt das Mädchen aber weiterhin fest.

«Ja, bin ich. Was wollen Sie? Ich starte, sobald meine Mitfahrerin im Korb ist.«

«Ich fahr nicht mit«, schrie sie.

Ich sah mich um. Die anderen Ballons waren inzwischen fast alle in der Luft, schwebten über die Wiese, einen halben oder auch einen Meter über dem Boden — ein herrlich anzusehender Pulk, der sich sanft in die Lüfte erhob. Ich stellte fest, daß in jedem Korb zwei Leute standen.

«Wenn Sie einen Mitfahrer brauchen«, rief ich,»dann komme ich mit.«

Er ließ das Mädchen los und sah mich abschätzig an.

«Wieviel wiegen Sie denn?«wollte er wissen — und sagte dann, als er sah, was für einen Vorsprung die anderen Ballons schon hatten:»Also los, rein mit Ihnen.«

Ich griff nach einer Strebe, sprang, wälzte mich über den Rand des Korbes und landete aufrecht stehend in einem ziemlich kleinen Tragkorb unter einer großen Ballonwolke.

«Loslassen!«befahl der Kapitän meines Luftfahrzeugs, und die Helfer gehorchten einigermaßen verwirrt.

Der Korb blieb kurz an der Stelle stehen, an der er die ganze Zeit gestanden hatte. Dann griff John Viking nach oben und zog an dem Hebel, mit dem der Brenner betätigt wurde — dicht über unseren Köpfen schoß die Flamme nach oben, erhob sich das ohrenbetäubende Fauchen.

Das Gesicht der jungen Frau war noch immer auf einer Höhe mit meinem.»Er ist komplett verrückt«, schrie sie.»Und Sie sind wahnsinnig!«

Der Korb bewegte sich von ihr fort, holperte über den Boden — und stieg ganz plötzlich auf eine Höhe von etwa drei Metern. Das Mädchen rannte uns nach und verabschiedete mich mit der ermutigenden Feststellung:»Und einen Sturzhelm haben Sie auch nicht!«

Statt dessen hatte ich jedoch eine ausgezeichnete Möglichkeit, zwei entschlossenen Ganoven zu entkommen, und ein Sturzhelm kam mir in diesem Augenblick überflüssig vor, zumal mein Begleiter auch keinen hatte.

John Viking blickte immer noch wütend um sich, murmelte vor sich hin und ließ den Brenner fast ohne Unterbrechung laufen. Sein Ballon war der letzte, der wegkam. Ich sah auf die applaudierenden Zuschauer hinunter, die den Massenstart verfolgten, und erblickte plötzlich einen kleinen Jungen, der unter dem Absperrseil durchkroch, auf den jetzt leeren Startplatz rannte, laut rief und mit dem

Finger zeigte. Er zeigte auf John Vikings Ballon, zeigte ganz aufgeregt auf mich.

Mein kleiner Freund Mark mit seinen scharfen Augen und seiner Wahrheitsliebe! Mein kleiner Freund Mark, dem ich am liebsten den Hals umgedreht hätte.

John Viking fing laut zu schimpfen an. Ich wandte meine Aufmerksamkeit vom Boden ab und der Luft zu, bemerkte sofort, daß der Grund für seine himmelwärts schallenden, sehr phantasievollen Flüche eine Baumreihe war, die genau vor uns lag und uns an einer Weiterfahrt zu hindern drohte. Ein Ballon lag bereits als wirres Knäuel diesseits der Bäume, und ein anderer, scharlachrot und purpurn, befand sich ganz offenkundig auf direktem Kollisionskurs.

John Viking schrie mir über das fortdauernde Tosen des Brenners hinweg zu:»Halten Sie sich mit beiden Händen gut fest!

Wenn der Korb die Baumwipfel streift, soll’s uns nicht gleich rauskippen.«

Die Bäume kamen mir sehr hoch und wie ein gewaltiges Hindernis vor, aber die meisten Ballons waren ohne weiteres darüber weggekommen und trieben himmelwärts davon — große, leuchtende, birnenförmige Phantasiegebilde, die mit dem Wind dahinzogen.

John Vikings Korb näherte sich jedoch den Wipfeln sehr schnell, obwohl der Brenner über uns fauchte wie ein wahnsinnig gewordener Drache. Der Auftrieb, den er uns verschaffen sollte, schien gänzlich ausbleiben zu wollen.

«Turbulenzen!«kreischte John Viking.»Verfluchter Wind. Festhalten! Bis unten ist es weit.«

Furchtbar lustig, dachte ich, zwanzig Meter über dem Boden ohne Sturzhelm aus einem Korb gekippt zu werden. Ich grinste ihn an, und er warf mir, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, einen überraschten Blick zu.

Der Korb krachte in die Wipfel der Bäume, legte sich zur Seite und brachte mich mühelos aus der Vertikalen in die Horizontale. Ich grapschte mit der rechten Hand nach irgendeinem Halt, um nicht herauszufallen, und fühlte und sah, wie die stolz geblähte Ballonhülle über mir ihre Fahrt unbeirrt fortsetzte. Sie zog den Korb dabei hinter sich her, der krachend und ruckend durch die Äste fuhr, so daß ich wie eine Puppe hin und her geschleudert wurde und zuweilen auch mit dem größten Teil meines Körpers im freien Raum hing. Mein Gastgeber war aus härterem Holz geschnitzt, hatte den einen Arm wie eine Schraubzwinge um eine der Metallstreben gelegt, die den Brenner trugen, und den anderen durch eine Schlinge aus schwarzem Gummi geschoben. Seine Beine waren gegen die Seitenwand des Korbes gestemmt, die jetzt den Boden bildete, und er veränderte die Stellung seiner Füße je nach Lage der Dinge, wobei er den einen einmal auch fest auf meinen Bauch setzte.

Mit einer letzten, auf den Magen schlagenden, ruckartigen Drehung kam der Korb frei, und wir schwangen nun wie ein Pendel unter dem schwankenden Ballon hin und her. Mich hatte dieses Manöver endgültig als unordentliches Bündel auf dem Boden des Korbes festgeklemmt, wohingegen John Viking noch immer in vorbildlicher Haltung auf beiden Beinen stand.

Es war wirklich nicht viel Platz vorhanden, dachte ich, als ich meine Knochen zu ordnen und mich aufzurichten versuchte. Der Korb, der noch immer hin und her schwang, maß nur etwas über einen Meter im Quadrat und reichte gerade bis in Höhe der Taille. Auf zwei Seiten standen sich je vier Gasflaschen gegenüber, die mit starken Gummiriemen am Korbgeflecht festgezurrt waren. Der verbliebene längliche Raum war gerade groß genug, daß zwei Menschen so eben aufrecht nebeneinander stehen konnten: knapp ein halber Quadratmeter pro Person.

John Viking gönnte dem Brenner endlich eine Pause und sagte in die eingetretene Stille hinein grimmig:»Warum, zum Teufel, haben Sie sich nicht ordentlich festgehalten, wie ich’s Ihnen gesagt habe? Wissen Sie, daß Sie fast rausgefallen wären und mich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht hätten?«

«Tut mir leid«, sagte ich amüsiert.»Ist es üblich, den Brenner laufen zu lassen, wenn man an einem Baum festhängt?«

«Hat uns rausgezogen, oder etwa nicht?«

«Allerdings.«

«Na also, dann beschweren Sie sich gefälligst nicht. Ich hab Sie auch nicht gebeten mitzukommen.«

Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger. Sein Gesicht unter der blauen Segelmütze war kantig, konnte ihm mal zu einem Charakterkopf verhelfen, und seine blauen Augen zeigten den funkelnden Glanz, der den echten Fanatiker verrät. John Viking der Verrückte, dachte ich und fing an, ihn zu mögen.

«Überprüfen Sie mal die Seiten und sehen Sie nach, ob irgendwas fehlt.«

Er schien die Außenseiten des Korbes zu meinen, denn er selbst beugte sich über den Rand nach unten. Ich entdeckte, daß auch auf meiner Seite ein paar Bündel am Korb hingen, entweder fest angeschnallt oder frei an Seilen schwebend.

Da war auch ein kürzeres Seil, an dem nichts hing. Ich zog es ein und zeigte es ihm.

«Mist!«explodierte er.»Wahrscheinlich von den Ästen weggerissen. Plastikkanister mit Wasser. Hoffe, Sie haben keinen Durst. «Er langte nach oben und ließ den Brenner wieder eine Weile laufen, und ich lauschte seinem schleppenden Eton-Akzent nach und begriff, warum er so war, wie er war.

«Muß man Erster werden, um bei so einer Wettfahrt zu gewinnen?«fragte ich.

Er sah mich erstaunt an.»Bei der hier nicht. Das hier ist ein Zwei einhalb-Stunden-Rennen. Wer in dieser Zeit am weitesten kommt, hat gewonnen. «Er zog die Stirn in Falten.»Sind Sie etwa noch nie in einem Ballon gefahren?«

«Nein.«

«Grundgütiger Himmel«, sagte er.»Was habe ich da für Siegeschancen?«

«Nicht die geringsten, wenn ich nicht mitgekommen wäre«, sagte ich freundlich.

«Da ist was dran. «Er sah aus seiner Höhe von etwa eins neunzig auf mich herab.»Wie heißen Sie eigentlich?«

«Sid«, sagte ich.

Er schaute drein, als sei Sid nicht gerade ein Name, wie ihn seine Freunde trugen, fand sich aber doch mannhaft mit der Tatsache ab.

«Warum wollte eigentlich Ihre Freundin nicht mitfahren?«fragte ich.

«Wer? Ach, Sie meinen Popsy. Sie ist nicht meine Freundin.

Ich kenne sie kaum. Sie wollte einspringen, weil sich mein üblicher Mitfahrer in der vergangenen Woche bei einer etwas rauhen Landung ein Bein gebrochen hat, der alberne Mensch. Aber Popsy wollte unbedingt eine riesengroße Handtasche mitschleppen. Wollte nicht ohne sie fahren, sich um keinen Preis von ihr trennen. Ich bitte Sie! Wo ist hier wohl noch Platz für eine Handtasche, was? Und schwer war sie auch. Jedes Gramm zählt. Ein Pfund weniger an Bord, und Sie kommen eine ganze Meile weiter.«

«Wo, glauben Sie, werden wir runterkommen?«erkundigte ich mich.

«Hängt ganz vom Wind ab. «Er sah zum Himmel hinauf.»Im Augenblick fahren wir ungefähr in nordöstlicher Richtung, aber ich will noch höher gehen. Laut Wetterbericht zieht von Westen her eine Front auf, und ich denke, daß da oben ganz schön was los ist, was uns weiterhilft. Wir könnten dann gut bis Brighton kommen.«

«Brighton!«Ich hatte an etwa zwanzig Meilen gedacht, nicht an hundert. Er mußte sich irren, dachte ich — man konnte in einem Ballon unmöglich hundert Meilen in zweieinhalb Stunden zurücklegen!

«Wenn der Wind noch mehr aus Nordwest kommt, erreichen wir vielleicht die Isle of Wight. Oder Frankreich. Kommt ganz drauf an, wieviel Gas noch da ist. Wir wollen mit dem Ding hier schließlich keine Wasserlandung bauen. Können Sie schwimmen?«

Ich nickte. Ich nahm an, daß ich es noch konnte — einhändig hatte ich es noch nicht ausprobiert.»Wenn’s geht, lieber nicht«, sagte ich.

Er lachte.»Keine Bange. So ein Ballon kostet ein Heidengeld, ist viel zu teuer, um ihn zu versenken.«

Nachdem wir die Baumreihe glücklich hinter uns gebracht hatten, waren wir sehr schnell gestiegen und schwebten nun in einer Höhe dahin, aus der die Autos unten auf der Straße wie Spielzeugautos aussahen, wobei man ihre Größe und Farbe durchaus noch erkennen konnte.

Geräusche drangen klar und deutlich zu uns herauf. Man konnte die Motoren der Autos hören, das Gebell von Hunden und gelegentlich auch den Ruf eines Menschen. Die

Leute sahen zu uns hoch und winkten uns zu. Eine entrückte Welt, dachte ich. Ich befand mich in einer idyllischen Kinderwelt, trieb mit dem Wind dahin, hatte alle mich an die Erde fesselnden Gewichte abgeworfen, war frei und stieg empor, von unendlicher Freude erfüllt.

John Viking ruckte an dem Hebel, und die Flamme fauchte wieder los, schoß hinauf in die grün-gelbe Höhle wie eine rotgoldene Drachenzunge. Der Flammenstoß dauerte zwanzig Sekunden, und in der plötzlichen Stille danach stiegen wir merklich höher.

«Was für Gas verwenden Sie?«fragte ich.

«Propan.«

Er blickte über den Rand des Korbes suchend in die Landschaft, als wollte er seine Position feststellen.»Holen Sie doch bitte mal die Karte raus. Ist da in einer Tasche auf Ihrer Seite. Und lassen Sie sie ja nicht davonfliegen.«

Ich sah an der Außenseite des Korbes hinunter und fand die erwähnte Tasche, ein mappenähnliches Ding, das an dem Korbgeflecht festgebunden war, die Klappe mit einer Schnalle verschlossen. Ich machte die Schnalle auf, sah in die Tasche hinein, ergriff mit fester Hand die große, zusammengefaltete Karte und reichte sie dem Kapitän.

Der sah unverwandt auf meine linke Hand, mit der ich mich am Korbrand festgehalten hatte. Jetzt ließ ich sie wieder an meiner Seite hinuntersinken, und er hob die Augen und sah mich an.

«Sie haben ja nur eine Hand«, sagte er ungläubig.

«Stimmt.«

Er hob seine eigenen Arme in einer Geste verzweifelter Ratlosigkeit.»Also wirklich! Wie, zum Teufel, soll ich nur dieses Rennen gewinnen?«

Ich lachte.

Er warf mir erneut einen Blick zu.»Das ist überhaupt nicht komisch.«

«Doch, und wie. Ich gewinne auch gern Rennen… meinetwegen werden Sie das hier bestimmt nicht verlieren.«

Er verzog angewidert das Gesicht.»Viel nutzloser als Popsy können Sie auch nicht sein«, sagte er.»Aber die kann angeblich immerhin Karten lesen. «Er entfaltete das Blatt, das ich ihm gegeben hatte. Es war eine Navigationskarte für Piloten, und die Oberfläche war mit einem Plastiküberzug versehen, so daß man darauf schreiben konnte.

«Sehen Sie her«, sagte er.»Wir sind hier gestartet. «Er zeigte auf den entsprechenden Punkt.»Wir bewegen uns grob in nordöstlicher Richtung. Jetzt nehmen Sie die Karte und stellen Sie fest, wo wir sind. «Er machte eine kleine Pause.»Haben Sie wenigstens eine schwache Ahnung, wie man seine Uhr als Kompaß benutzen kann? Oder überhaupt von Navigation?«

Ich hatte ein Buch über Navigation, das ich noch nicht gelesen hatte, in einer der Taschen des leichten Baum-wollanoraks stecken, den ich trug. Und, Gott sei’s gedankt, in einer anderen Tasche eine voll aufgeladene Ersatzbatterie.»Geben Sie die Karte nur her«, sagte ich,»mal sehen, was sich machen läßt.«

Er übergab sie mir ohne allzu großes Zutrauen und ließ den Brenner wieder kurz laufen. Ich überschlug grob, wo wir sein müßten, blickte über den Rand des Korbes und entdeckte sofort, daß die Erde da unten ganz anders aussah als die Karte. Die Dörfer und Straßen, die auf ihr deutlich eingezeichnet waren, verloren sich im braunen und grünen Teppich der Landschaft, wirkten wie die Flecken auf einem Tarnnetz. Das Sonnenlicht ließ Schattenmuster entstehen und löste so alle klaren Umrisse auf.

Das sich unter uns ausbreitende Panorama sah überall gleich aus, machte es mir unmöglich, irgendwelche Besonderheiten zu erkennen, und bewies schlüssig, daß ich noch weniger zu gebrauchen war als Popsy.

Verdammt, dachte ich, noch mal von vorn.

Wir waren um drei Uhr gestartet, jedenfalls so etwa. Wir waren jetzt zwölf Minuten in der Luft. Am Boden hatte ein schwacher Wind aus südlicher Richtung geweht, jetzt aber fuhren wir ein bißchen schneller und nach Nordosten. Sagen wir mal… mit fünfzehn Knoten. Zwölf Minuten mit fünfzehn Knoten… das machte ungefähr drei Seemeilen. Ich hatte also an der falschen Stelle gesucht, viel zu weit weg. Wir müßten jetzt eigentlich, dachte ich, über einen Fluß kommen — und obwohl ich sehr aufmerksam nach unten blickte, hätte ich ihn fast übersehen, denn wo die Karte ein klares, blaues Band zeigte, da war in Wirklichkeit nur ein silbrig glänzendes Fädchen, das sich unauffällig zwischen einer Weide und einem Wald dahinschlängelte. Rechts davon und halb von einem Hügel verdeckt lag ein Dorf, und jenseits davon war eine Eisenbahnlinie zu erkennen.

«Wir sind jetzt hier«, sagte ich und zeigte es ihm auf der Karte.

Er warf einen Blick darauf und suchte dann den Erdboden unter uns ab.

«Alle Achtung«, sagte er,»das stimmt. Also gut, behalten Sie die Karte. Schadet ja nichts, wenn wir jederzeit wissen, wo wir gerade sind.«

Er betätigte den Hebel und ließ den Brenner längere Zeit laufen. Die Ballons vor uns flogen viel niedriger, lagen ganz eindeutig unter uns. Während der nun wieder folgenden Gesprächspause schaute er auf zwei Instrumente, die auf seiner Seite außen am Korb hingen, und knurrte vor sich hin.

«Wozu sind die da?«fragte ich.

«Höhenmesser, Steiggeschwindigkeitsmesser«, antwortete er.

«Wir sind jetzt fünftausend Fuß hoch und steigen mit achthundert Fuß pro Minute.«

«Steigen?«

«Na sicher. «Auf seinem Gesicht erschien plötzlich ein wölfisches Grinsen, aus dem ich unschwer die wilde, ruchlose Freude des ungezogenen Kindes herauslesen konnte.»Deshalb wollte ja Popsy nicht mit. Irgend jemand hat ihr gesteckt, daß ich hoch raufgehen wollte. Und das mochte sie nicht mitmachen.«

«Wie hoch?«fragte ich.

«Ich mache nie halbe Sachen«, sagte er.»Wenn ich an Wettfahrten teilnehme, dann tue ich das, um zu gewinnen. Alle wissen, daß ich gewinne. Und das mögen sie gar nicht. Sie meinen, man darf kein Risiko eingehen. Sind alle so sicherheitsbewußt heutzutage. und werden immer schlapper. Ha!«Seine Verachtung kannte keine Grenzen.»Früher, Anfang des Jahrhunderts, bei den Gordon-Bennet-Rennen etwa, da flogen sie zwei Tage und tausend Meilen und mehr. Aber heute? Sicherheit, Sicherheit, nichts als Sicherheit. «Er starrte mich an.»Wenn ich keinen Mitfahrer haben müßte, dann hätte ich bestimmt keinen. Die haben nur dauernd was zu meckern und zu klagen.«

Er zog eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche und steckte sich eine an. Wir waren von Flaschen voller Flüssiggas umgeben. Ich dachte an die Schilder, die Rauchen und offenes Feuer im Umkreis von Treibstofftanks verbieten — und schwieg.

Der Ballonpulk unter uns schien nach links zu schwenken, aber dann merkte ich, daß wir es waren, die nach rechts abdrehten. John Viking nahm die Richtungsänderung mit großer Befriedigung zur Kenntnis und entzündete ein länger anhaltendes Brennerfeuer. Wir stiegen jetzt deutlich schneller, und die Sonne stand nun nicht mehr hinter uns, sondern auf der Steuerbordseite.

Trotz des Sonnenscheins wurde es ziemlich kalt. Ein Blick über den Korbrand zeigte die Erde tief unter uns — man konnte jetzt sehr weit sehen. Ich studierte die Karte und behielt unsere Position im Auge.

«Was haben Sie an?«fragte er.

«Mehr oder weniger das, was Sie sehen«, sagte ich.

«Hm.«

Wenn der Brenner lief, wurde es über einem fast schon ein bißchen zu heiß, und aus der unteren Öffnung des Ballons strömte stets ein gewisses Maß warmer Luft. Wind gab es keinen, da der Ballon ja mit dem Wind fuhr, das heißt mit der Geschwindigkeit des Windes. Es lag einzig und allein an der Höhe, daß einem kalt wurde.

«Wie hoch sind wir jetzt?«fragte ich ihn.

Er blickte auf seine Instrumente.»Elftausend Fuß.«

«Und wir steigen weiter?«

Er nickte. Die anderen Ballons, linker Hand und weiter unter uns, wirkten vor dem Grün der Erde wie eine ferne Anhäufung leuchtend bunter Farbkleckse.

«Die werden alle da unten bei dreitausend Fuß bleiben«, sagte er.»Wegen des Flugverkehrs. «Er warf mir einen schnellen Seitenblick zu.»Sie können’s da auf der Karte sehen. Die Luftstraßen, die die zivilen Flieger benutzen, sind da eingezeichnet, ebenso die Höhen, die für andere gesperrt sind.«

«Und man darf auch mit dem Ballon so eine Straße nicht in elftausend Fuß Höhe durchqueren?«

«Sie sind gar nicht dumm, Sid«, sagte er grinsend.

Er betätigte den Hebel, der Brenner fauchte los und machte der Unterhaltung ein Ende. Ich verglich Landschaftsbild und Karte und hätte beinahe die Orientierung verloren, denn wir schienen plötzlich viel schneller vorangekommen zu sein — und nun deutlich in südöstlicher Richtung. Als ich wieder hinuntersah, waren die anderen Ballons nicht mehr auszumachen.

Als es wieder still geworden war, erklärte mir John Viking, daß die Helfer der anderen Ballonfahrer ihnen im Auto folgten, um sie einzusammeln, wenn sie gelandet waren.

«Und was ist mit Ihnen?«fragte ich.»Folgt uns auch jemand?«

Etwa gar Peter Rammileese samt Ganoven, um sich am anderen Ende auf uns zu stürzen? Wir taten ihm dabei, dachte ich flüchtig, sogar noch den Gefallen und leiteten ihn nach Südosten, das heißt nach Kent und nach Hause.

John Viking grinste sein Wolfsgrinsen und sagte:»Kein Auto der Welt könnte heute an uns dranbleiben.«

«Ist das Ihr Ernst?«rief ich aus.

Er sah auf den Höhenmesser.»Fünfzehntausend Fuß«, sagte er.»Ich hab mir für diesen Trip von den Jungs im Tower den Wetterbericht geben lassen. Windgeschwindigkeit fünfzig Knoten aus zwei neun null in fünfzehntausend Fuß Höhe, haben die gesagt. Warten Sie nur ab, Sid, mein Freund — wir kommen noch nach Brighton!«

Ich sah uns beide da in unserem taillenhohen, quadratmetergroßen Weidenkorb stehen, der von Terylen und heißer Luft getragen wurde und fünfzehntausend Fuß über dem Erdboden und — ohne daß man es wahrnahm — mit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde dahinfuhr. Ziemlich verrückt, dachte ich.

Vom Boden aus gesehen würden wir nur noch ein schwarzer Fleck sein. Kein Auto konnte mit uns mithalten. Ich grinste John Viking mit einer Zufriedenheit an, die ebenso groß war wie die seine, und er lachte laut auf.

«Kaum zu glauben«, sagte er.»Endlich habe ich mal jemanden hier oben dabei, der sich nicht vor Angst in die Hosen macht.«

Er steckte sich wieder eine Zigarette an und nahm dann einen der zum Brenner führenden Zuleitungsschläuche von einer Gasflasche ab und schraubte ihn auf die nächste. Dazu mußte er den Hahn der leeren Flasche zudrehen, das Verbindungsstück abschrauben, es auf die nächste Flasche aufschrauben und deren Hahn aufdrehen. Es gab zwei Zuleitungen, je eine für die vier Flaschen auf beiden Seiten des Korbes. Er hatte dabei die ganze Zeit die Zigarette im Mund und blinzelte durch den Rauch.

Ich hatte auf der Karte festgestellt, daß wir direkt auf die An- und Abflugschneise von Gatwick zufuhren, wo große Flugzeuge rauf- und runterdonnerten und dabei keinen wabbeligen Ballon erwarteten, der unerlaubterweise ihre Bahn kreuzte.

Seine Freude am Risiko war für meinen Geschmack ein bißchen zu groß. Im Vergleich dazu nahm sich das Reiten von Hindernisrennen unten auf der Erde ziemlich zahm aus. Aber das tat ich ja nicht mehr, durchzuckte es mich, sondern ich gab mich statt dessen mit Leuten ab, die damit drohten, einem die Hände wegzuschießen. und wenn man das bedachte, war ich sehr viel sicherer hier oben bei John Viking dem Verrückten, bei Propangas und Zigaretten und drohenden Zusammenstößen mit Flugzeugen und was sonst nicht allem.

«Gut«, sagte er,»wir bleiben jetzt für anderthalb Stunden, wie und wo wir sind, und lassen uns vom Wind trei-ben. Wenn Ihnen ein bißchen schummerig wird, dann ist das nur der Sauerstoffmangel. «Er nahm wollene Handschuhe aus der Tasche und zog sie sich an.»Ist Ihnen kalt?«

«Ja, ein bißchen.«

Er grinste.»Ich hab Liebestöter unter meinen Jeans und zwei Pullover unter dem Anorak. Tja, Sie müssen halt ein bißchen frieren.«

«Herzlichen Dank. «Ich legte die Karte auf den Boden, stellte einen Fuß darauf und schob meine echte Hand tief in die Tasche meines Baumwollanoraks. Er meinte, daß wenigstens meine Kunsthand keine Frostbeulen kriegen könne. Dann betätigte er den Brenner, sah auf die Uhr, auf die Erde hinunter und auf den Höhenmesser — und schien mit dem Stand der Dinge zufrieden zu sein. Er sah mich ein bißchen verwundert an, und ich wußte, daß er sich nun, da er ein wenig Zeit hatte, die Frage stellte, wie ich eigentlich dahin gelangt war, wo ich gerade war.

«Ich bin eigens nach Highalane Park rausgekommen, um Sie, John Viking, zu sprechen«, sagte ich.

Er sah mich verblüfft an.»Können Sie Gedanken lesen?«

«Immer. «Ich zog die Hand aus der Tasche, steckte sie in eine andere und holte das Taschenbuch über Navigation heraus.»Ich wollte Sie nämlich hierzu befragen. Da steht Ihr Name drin.«

Er besah sich das Buch mit gefurchter Stirn und schlug die Titelseite auf.»Herr im Himmel, ich hab mich schon gewundert, wo das wohl abgeblieben sein könnte. Wie sind Sie da rangekommen?«

«Haben Sie es mal jemandem ausgeliehen?«

«Ich glaube nicht.«»Hm…«, sagte ich.»Wenn ich Ihnen jetzt jemanden beschreibe, könnten Sie mir dann sagen, ob Sie ihn kennen?«

«Schießen Sie los.«

«Ein Mann, etwa achtundzwanzig Jahre alt«, sagte ich.

«Dunkles Haar, gutaussehend, immer zu Späßchen und Witzen aufgelegt, sehr umgänglich, mag die Frauen, ist ein guter Kumpel, hat die Angewohnheit, unter der Socke ein ans Bein geschnalltes Messer mit sich herumzutragen, und ist sehr wahrscheinlich ein Gauner.«

«Ja doch«, sagte er und nickte.»Das ist mein Vetter.«

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