Kapitel 8

Ich flog nach Paris und blieb gleich dort, wo ich gelandet war, nämlich in einem der Airport-Hotels. Ich verspürte weder den Drang noch den Mut, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Ich blieb sechs Tage, verließ mein Zimmer nicht und verbrachte den größten Teil der Zeit damit, von meinem Fenster aus zuzusehen, wie die Flugzeuge starteten und landeten. Ich fühlte mich wie betäubt. Fühlte mich krank. Desorientiert und geschlagen und meiner Wurzeln beraubt. In einen Zustand tiefsten geistigen Elends gestürzt, denn diesmal wußte ich, daß ich wirklich davongelaufen war.

Natürlich konnte ich mir leicht einreden, daß ich gar keine andere Wahl gehabt hatte, als Deansgate die geforderte Zusicherung zu geben. Hätte ich es nicht getan, hätte er mich mit Sicherheit umgebracht. Ich konnte mir — und das tat ich auch — pausenlos sagen, daß es ein Gebot des gesunden Menschenverstandes gewesen war, mich an seine Anweisungen zu halten, aber Tatsache war auch, daß seine Schläger, nachdem sie mich in Heathrow aus dem Wagen geworfen hatten, sofort davongefahren waren und ich aus freien Stücken das Ticket besorgt, in der Abflughalle gewartet und mich dann an Bord des Flugzeuges begeben hatte.

Da war niemand gewesen, der mich mit einem Gewehr dazu gezwungen hätte. Nur die Tatsache, daß ich es, wie Deansgate zutreffend gesagt hatte, nicht ertragen konnte, die andere Hand auch noch zu verlieren. Nicht einmal das Risiko konnte ich ertragen. Die bloße Vorstellung brachte, wie ein konditionierter Reflex, einen Schweißausbruch hervor.

Die Tage vergingen, aber das Gefühl der Auflösung schien nicht nachzulassen, sondern sich im Gegenteil noch zu vertiefen.

Der automatisierte Teil meines Ichs funktionierte weiter wie gewohnt — er lief, sprach, bestellte Kaffee, ging zur Toilette. In jenem Teil aber, auf den es ankam, herrschten Aufruhr und Schmerz und das Gefühl, daß mein ganzes Ich in den wenigen, mein Dasein umwälzenden Minuten auf dem Stroh in der Scheune von Trevor Deansgate buchstäblich zertrümmert worden war.

Das Problem lag nicht zuletzt darin, daß ich meine Schwächen nur allzu gut kannte und wußte, daß mich der Verlust meines Stolzes vor allem deshalb so traf, weil dieser Stolz so groß war.

Die erzwungene Erkenntnis, daß das Bild, das ich bis jetzt von mir gehabt hatte, eine Illusion gewesen war, hatte wie ein psychisches Erdbeben gewirkt, und so war es vielleicht nicht verwunderlich, daß ich mich zerbrochen, im wahrsten Sinne des Wortes in meine Einzelteile zerlegt fühlte.

Ob ich das ertragen konnte, wußte ich auch nicht.

Ich wünschte nur, ich könnte richtig schlafen und ein wenig Ruhe finden.

Als der Mittwoch kam, dachte ich an Newmarket und all die großen Hoffnungen, die sich auf die 2000 Guineas richteten.

Ich dachte an George Caspar, der >Tri-Nitro< der entscheidenden Bewährungsprobe aussetzte, ihn in Topform antreten ließ und zutiefst davon überzeugt war, daß diesmal nichts schiefgehen konnte. Dachte an Rosemary, die jetzt ein einziges Nervenbündel war, die das Pferd unbedingt gewinnen sehen wollte und gleichzeitig wußte, daß es das nicht tun würde. Dachte an Trevor Deansgate, der, von keinem verdächtigt, im verborgenen alles daran setzte, den besten Hengst, den es im ganzen Lande gab, auf irgendeine Weise kaputtzumachen.

Ich hätte ihn daran hindern können, wenn ich es versucht hätte.

Dieser Mittwoch war für mich der schlimmste Tag von allen — der Tag, an dem ich erfahren mußte, was Verzweiflung und Elend und Schuld wirklich sind.

Am sechsten Tag, am Donnerstag, ging ich morgens in die Hotelhalle hinunter und kaufte mir eine englische Zeitung.

Das 2000 Guineas hatte planmäßig stattgefunden.

>Tri-Nitro< war als hoher Favorit an den Start gegangen — und hatte das Rennen als letzter beendet.

Ich bezahlte meine Rechnung und ließ mich zur Abflughalle fahren. Es gab Flugzeuge in alle Richtungen, mit denen ich hätte fliehen können. Und der Drang zur Flucht war sehr stark. Aber wohin man auch ging, man nahm sich selbst mit. Man konnte sich selbst nicht entkommen. Wohin ich auch ging, am Ende würde ich doch zurückkehren müssen.

Wenn ich in diesem kaputten Zustand zurückkehrte, würde ich die ganze Zeit gleichsam auf zwei Ebenen leben müssen. Ich würde mich so wie immer verhalten müssen, so, wie es alle von mir erwarteten. Würde denken müssen und Auto fahren und mit Leuten reden und weiterleben. Eine Rückkehr bedeutete all das. Und sie bedeutete, daß ich das alles würde tun und mir selbst dabei beweisen müssen, daß ich es konnte, obwohl ich innerlich nicht mehr derselbe war.

Es kam mir der Gedanke, daß der diesmal erlittene Verlust vielleicht schlimmer war als der Verlust einer Hand. Für eine Hand gab es Ersatz, Apparate, mit denen man zugreifen konnte und die durchaus passabel aussahen. Wie aber sollte man zurechtkommen, wenn der innerste Wesenskern zerbröckelt war?

Wenn ich zurückkehrte, würde ich versuchen müssen, damit fertig zu werden.

Wenn ich zu einem solchen Versuch nicht fähig war, warum dann zurückkehren?

Ich brauchte eine sehr lange, einsame Zeit, um mir ein Ticket nach Heathrow zu kaufen.

Ich landete gegen Mittag, rief kurz im» Cavendish «an, bat darum, dem Admiral auszurichten, daß ich unsere Verabredung leider nicht einhalten könne, und fuhr mit dem Taxi zu meiner Wohnung.

Der Hauseingang, die Treppe, der Treppenabsatz — alles sah so wie immer und zugleich völlig verändert aus. Ich war es, der sich verändert hatte. Ich steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn herum und betrat die Wohnung.

Ich erwartete dort niemanden, aber noch bevor ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, hörte ich im Wohnzimmer ein raschelndes Geräusch und dann Chicos Stimme:»Sind Sie das, Admiral?«

Ich antwortete nicht. Eine Sekunde später wurde sein fragend in den Flur gesteckter Kopf sichtbar, dann seine ganze Gestalt.

«Das wird auch langsam Zeit«, sagte er, im großen und ganzen wohl erleichtert, mich zu sehen.

«Ich habe dir doch ein Telegramm geschickt.«

«Sicher, sicher. Hab’s hier, steht auf dem Kaminsims. Kannst Newmarket verlassen und nach Hause fahren. Bin ein paar Tage weg. Rufe dich an. Was ist das denn für ein Telegramm? Aus Heathrow, Freitag früh abgeschickt. Warst du auf Urlaub?«

«Ja.«

Ich ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Hier sah alles ganz anders aus. Überall, auf jeder Ablagefläche, lagen Papiere und Schnellhefter, beschwert von Tassen und Untertassen mit Kaffeerändern.

«Du bist ohne das Ladegerät fort«, sagte Chico.»Das machst du sonst nie, nicht mal, wenn du nur eine Nacht weg bist. Die Ersatzbatterien sind auch alle hier. Du hast die Hand sechs Tage lang nicht bewegen können.«

«Trinken wir einen Kaffee.«

«Du hast auch keine Kleider und keinen Rasierer mitgenommen.«

«Ich habe in einem Hotel gewohnt. Die konnten mir mit einem Rasierer aushelfen. Was soll die ganze Unordnung hier?«

«Die Politurbriefe.«

«Was?«

«Na ja, du weißt doch. Die Möbelpoliturbriefe. Dieses Problem von deiner Frau.«

«Ach so…«

Ich starrte verblüfft auf das Chaos hinab.

«Hör mal«, sagte Chico,»einen Käsetoast? Ich bin am Verhungern.«

«Gute Idee. «Es war unwirklich, alles absolut unwirklich.

Chico verfügte sich in die Küche und fing an, dort herumzuwerkeln. Ich nahm die leere Batterie aus meinem Arm und ersetzte sie durch eine aufgeladene. Die Finger ließen sich wieder öffnen und schließen, ganz wie in alten Zeiten. Ich hatte sie stärker vermißt, als ich mir je hätte träumen lassen.

Chico kam mit dem Käsetoast herein. Er aß seinen, und ich betrachtete meinen. Ich sollte ihn essen, dachte ich, brachte aber nicht die Energie dazu auf. Ich hörte, wie die Wohnungstür mit einem Schlüssel geöffnet wurde, dann die Stimme meines Schwiegervaters im Flur.

«Er ist nicht im >Cavendish< aufgetaucht, hat aber wenigstens eine Nachricht hinterlassen. «Er trat ins Zimmer, genau hinter mir, und ich sah, wie Chico mit dem Kopf in meine Richtung deutete.

«Er ist wieder da«, sagte Chico.»In alter Frische.«

«Hallo, Charles«, sagte ich.

Er warf mir einen langen, nachdenklichen Blick zu. Sehr beherrscht, sehr höflich.»Wir haben uns Sorgen gemacht, weißt du. «Das war ein Vorwurf.

«Tut mir leid.«

«Wo hast du gesteckt?«fragte er. Ich befand, daß ich ihm das nicht sagen konnte. Wenn ich ihm sagte, wo ich gewesen war, dann mußte ich auch erklären, warum — und vor dem Warum schreckte ich zurück. Ich sagte einfach gar nichts.

Chico grinste ihn fröhlich an.»Sid ist böse das Dach auf den Kopf gefallen. «Er sah auf die Uhr.»Wo Sie jetzt da sind, Admiral, könnte ich mich eigentlich auch mal aufmachen und den kleinen Scheißern in der Penne beibringen, wie man seine Oma über die Schulter schmeißt. Ach ja, Sid, bevor ich es vergesse… da stehen ungefähr fünfzig Nachrichten für dich auf dem Block neben dem Telefon. Zwei neue Versicherungsfälle warten auf Erledigung. Und ein Überwachungsjob. Lucas Wainwright verlangt nach dir, er hat viermal angerufen. Und Rosemary Caspar hat in den Hörer gekreischt, daß mir fast das Trommelfell geplatzt wäre. Alles da notiert. Bis dann, ich komm später wieder her.«

Ich wollte ihn bitten, das nicht zu tun, aber da war er schon fort.

«Du hast abgenommen«, sagte Charles.

Das war nicht verwunderlich. Ich sah wieder auf meinen Käsetoast hinab und entschied, daß zur Rückkehr wohl auch Dinge wie die Nahrungsaufnahme gehörten.

«Möchtest du auch einen?«fragte ich.

Er besah sich das erkaltete Viereck.»Danke, nein.«

Ich mochte eigentlich auch nicht und schob den Teller von mir weg. Saß da und starrte ins Leere.

«Was war los?«fragte er.

«Nichts.«

«Letzte Woche bist du voller Schwung ins >Cavendish< gekommen«, sagte er.»Vor Lebenskraft nur so strotzend, mit regelrecht funkelnden Augen. Und wenn man dich jetzt ansieht…«

«Dann laß es doch«, sagte ich.»Sieh mich nicht an. Wie bist du mit den Briefen vorangekommen?«

«Sid.«

«Admiral. «Ich stand unruhig auf, um mich seinem forschenden Blick zu entziehen.»Laß mich zufrieden.«

Er schwieg eine Weile, dann sagte er:»Du hast doch in letzter Zeit an der Warenbörse spekuliert. Hast du dein Geld verloren? Ist es das?«

Ich war überrascht, fast amüsiert.

«Nein«, sagte ich.

Er fuhr fort:»Du bist schon mal so auf Tauchstation gegangen, als du deinen Job verloren hast. Und meine Tochter. Was hast du also diesmal verloren, wenn es nicht Geld ist? Was könnte so schlimm sein… oder noch schlimmer?«

Ich kannte die Antwort. Ich hatte sie in Paris erfahren, unter Qualen von Scham. In meinem Kopf bildete sich das Wort Mut, und zwar so deutlich, daß ich schon fürchtete, es würde ganz von selbst in den seinen überspringen.

Aber nichts deutete darauf hin, daß das geschehen war. Er wartete noch immer auf eine Antwort.

Ich schluckte.»Sechs Tage«, sagte ich ausdruckslos.»Ich habe sechs Tage verloren. Laß uns jetzt die Suche nach Nicholas Ashe fortsetzen.«

Er schüttelte mißbilligend und frustriert den Kopf, fing dann aber doch an, mir zu erklären, was er inzwischen unternommen hatte.

«Dieser dicke Stapel da, das sind die Briefe der Leute, deren Name mit M anfängt. Ich habe sie alphabetisch geordnet und eine Liste getippt. Ich dachte mir, daß uns vielleicht schon ein einziger Buchstabe reicht, um zu Ergebnissen zu kommen… hörst du mir eigentlich zu?«

«Ja.«

«Ich bin mit der Liste, deinem Vorschlag entsprechend, zu Christie’s und Sotheby’s gegangen und habe sie überredet, uns zu helfen. Aber die Rubrik M von ihrer Adressenliste deckt sich nicht mit der von unserer. Ich habe dabei auch festgestellt, daß wir so unter Umständen gar nicht weit kommen, weil heutzutage so viele Briefe per Computer adressiert werden.«

«Du hast ja wirklich schwer gearbeitet«, sagte ich.

«Chico und ich haben hier schichtweise Dienst gemacht, Anrufe beantwortet und versucht herauszufinden, wo du abgeblieben bist. Dein Wagen stand ja noch in der Garage, und Chico meinte, du würdest niemals freiwillig irgendwohin gehen, ohne das Ladegerät für deine Armbatterien mitzunehmen.«

«Tja… diesmal doch.«

«Sid.«

«Nein«, sagte ich.»Was wir jetzt brauchen, ist eine Liste von Zeitschriften und Fachblättern, die sich mit antiken Möbeln befassen. Und da versuchen wir es dann noch mal mit den Ms.«

«Das ist aber ein schrecklicher Aufwand«, sagte Charles zweifelnd.»Und selbst wenn wir sie finden, was dann? Der Mann bei Christie’s hatte völlig recht: Selbst wenn wir herausbekommen, wessen Adressenliste er benutzt hat, was bringt uns das? Die Firma oder der Verlag wäre doch gar nicht in der Lage, uns zu sagen, wer von den vielen Leuten, die Zugang zu der Liste hatten, Nicholas Ashe war, zumal er höchstwahrscheinlich gar nicht diesen Namen benutzt hat, wenn er mit ihnen zu tun hatte.«

«Hm«, sagte ich.»Aber es wäre ja auch möglich, daß er inzwischen woanders wieder aktiv geworden ist und sich noch immer der gleichen Liste bedient. Er hat sie ja mitgenommen, als er verschwunden ist. Wenn wir herausfinden können, von wem die Liste stammt, können wir ein paar Leute, die darauf stehen und deren Namen mit den Buchstaben A bis K oder P bis Z anfangen, anrufen und uns bei ihnen erkundigen, ob sie kürzlich auch solche Spendenaufrufe bekommen haben. Wenn ja, dann steht auf denen die Anschrift, an die das Geld geschickt werden soll. Und dort finden wir dann vielleicht unseren Mr. Ashe.«

Charles spitzte den Mund zu einem Pfiff, aber was herauskam, klang eher wie ein Seufzer.

«Wenigstens bist du mit intaktem Verstand nach Hause zurückgekommen«, sagte er.

O Gott, dachte ich, ich zwinge mich zum Denken, um den Abgrund draußen zu halten. Ich bin zersplittert… ich werde nie wieder in Ordnung kommen. Der analytische, rationale Teil meines Hirns mochte unberührt weiterarbeiten, aber das, was man als Seele bezeichnen mußte, war krank, sterbenskrank.

«Und dann ist da das Wachs«, sagte ich. Ich hatte den Zettel noch in der Tasche, den er mir vor einer Woche gegeben hatte.

«Es kann nicht sehr viele Privatkunden geben, die so große Mengen Möbelpolitur in Dosen ohne Aufdruck und kleinen, weißen Schachteln bestellen. Wir könnten die Herstellerfirma bitten, uns zu verständigen, wenn wieder eine derartige Bestellung eingeht. Es besteht immer die Möglichkeit, daß sich Ashe wieder an die gleiche Firma wendet, wenn auch nicht sofort. Er sollte sich der Gefahr eigentlich bewußt sein… aber vielleicht ist er ja dumm.«

Ich wandte mich müde ab. Mir war nach einem Whisky zumute. Ich ging und schenkte mir einen großen ein.

«Du säufst ganz schön, was?«sagte Charles hinter mir in seinem ausfälligsten Ton.

Ich biß die Zähne zusammen und sagte:»Nein. «Abgesehen von Kaffee und Wasser hatte ich seit einer Woche nichts getrunken.

«Dein erster alkoholbedingter Blackout, die vergangenen Tage, wie?«

Ich ließ das Glas unangetastet auf dem Tablett stehen und drehte mich um. Sein Blick war eiskalt, so unfreundlich wie damals, als wir uns kennenlernten.

«Sei nicht so verdammt albern«, sagte ich.

Er hob das Kinn ein ganz klein wenig an.»Ein Funke!«sagte er sarkastisch.»Er hat noch seinen Stolz, wie ich sehe.«

Ich preßte die Lippen zusammen, drehte ihm wieder den Rücken zu und nahm einen sehr großen Schluck von meinem Scotch. Nach einer Weile gelang es mir, mich wieder ein bißchen zu entspannen, und ich sagte:»Auf diese Weise wirst du nichts herausbekommen. Ich kenne dich zu gut. Du benutzt die Kränkungen als Hebel, provozierst die Leute dazu, ihre Deckung zu verlassen. Das hast du bei mir auch schon gemacht. Aber diesmal klappt’s nicht.«

«Wenn ich den richtigen Hebel finde«, sagte er,»benutze ich ihn auch.«

«Möchtest du auch was trinken?«

«Wenn du mich schon fragst, ja.«

Wir saßen uns in unveränderter Kameradschaftlichkeit in unseren Sesseln gegenüber, und ich dachte vage an dies und das und schreckte vor den quälendsten Überlegungen zurück.

«Weißt du«, sagte ich endlich,»wir müssen eigentlich gar nicht mit dieser Adressenliste rumziehen, um herauszufinden, von wem sie stammt. Wir fragen einfach die Leute selbst. Die da.«

Ich zeigte auf den M-Stapel.»Wir fragen einfach ein paar von ihnen, auf welchen Versandlisten sie stehen. Wir brauchten gar nicht viele zu fragen… der gemeinsame Nenner zeigt sich dann schon.«

Als Charles gegangen war, um nach Hause, nach Ayns-ford, zu fahren, wanderte ich ziellos in der Wohnung herum, ohne Schlips und in Hemdsärmeln, und bemühte mich, vernünftig zu sein. Ich sagte mir, daß eigentlich nicht viel passiert war — Trevor Deansgate hatte lediglich eine Menge fürchterlicher Drohungen eingesetzt, um mich dazu zu bringen, etwas zu beenden, womit ich noch gar nicht angefangen hatte. Aber ich konnte die Schuld nicht von mir abwälzen. Sobald er die Maske hatte fallen lassen, sobald ich wußte, daß er irgend etwas im Schilde führte, hätte ich ihn daran hindern können — und hatte es nicht getan.

Wenn er mich nicht so wirkungsvoll aus Newmarket vertrieben hätte, hätte ich wahrscheinlich weiterhin recht unproduktiv im Nebel herumgestochert, nicht einmal sicher, ob es da überhaupt etwas zu entdecken gab. Jedenfalls bis zu dem Augenblick, in dem >Tri-Nitro< bei den Guineas als letzter ins Ziel gewankt war. Aber dann wäre ich jetzt wenigstens dort, dachte ich, meiner Sache endlich sicher und um Aufklärung bemüht. Dank seiner Drohung war ich es nicht.

Ich konnte mein Nicht-dort-Sein als Klugheit ansehen, als ein Gebot des gesunden Menschenverstandes, als unter den gegebenen Umständen einzig gangbaren Weg. Ich konnte Begründungen anführen und Entschuldigungen. Ich konnte sagen, daß ich nichts getan hätte, was nicht schon vom Jockey Club getan worden war. Aber immer wieder landete ich bei der unübersehbaren Tatsache, daß ich jetzt nicht dort war, weil ich Angst hatte.

Chico kehrte von seinem Judounterricht zurück und machte sich erneut daran, in Erfahrung zu bringen, wo ich gewesen war. Und wieder verriet ich ihm nichts, obwohl ich wußte, daß er mich nicht halb so sehr verachten würde, wie ich mich selbst verachtete.

«Na schön«, sagte er schließlich,»dann behältst du’s eben für dich. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Wo immer du gewesen bist, es war übel. Du brauchst dich doch bloß anzuschauen. Es wird dir nicht bekommen, wenn du das alles so in dich reinfrißt.«

Die Dinge in mich hineinfressen war jedoch eine lebenslange Gewohnheit, eine schon in der Kindheit erlernte Methode der Selbstbehauptung, ein Schutz gegen die Welt — und nicht mehr zu ändern.

Ich brachte immerhin ein halbes Lächeln zustande.»Eröffnest du demnächst eine Praxis in der Harley Street?«fragte ich.

«Schon besser«, sagte er.»Weißt du eigentlich, daß du den ganzen Spaß verpaßt hast? >Tri-Nitro< hat gestern beim Guineas doch irgendwas verabreicht bekommen, und sie stellen jetzt Caspars ganzen Stall auf den Kopf. Steht alles irgendwo hier im Sporting Life. Der Admiral hat’s mitgebracht. Hast du’s gelesen?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Unsere gute Rosemary hatte also doch kein Rad ab, oder? Was meinst du, wie die das geschafft haben?«

«Die?«sagte ich.

«Wer immer es gewesen ist.«

«Ich weiß es nicht.«

«Ich hab mir das Abschlußtraining am Samstagmorgen angesehen«, berichtete er.»Ja, ja, ich weiß, du hast mir das Telegramm geschickt, daß ich abreisen sollte, aber ich hatte da am Freitagabend eine wirklich tolle Braut aufgerissen, und deshalb blieb ich noch. Eine Nacht mehr machte auch keinen Unterschied. und außerdem war es die Tippse von George Caspar.«

«Sie war…«

«Sie erledigt den Schreibkram. Reitet auch manchmal. Sie weiß über alles Bescheid und ist noch dazu gesprächig.«

Der neue, verängstigte Sid Halley wollte das alles gar nicht hören.

«Den ganzen Mittwoch gab’s bei George Caspar ein Riesentheater«, fuhr Chico fort.»Beim Frühstück ging’s schon los, als nämlich dieser Inky Poole auftauchte und sagte, Sid Halley habe ihm da Fragen gestellt, die er, Inky Poole, gar nicht gut gefunden habe.«

Er machte eine Pause, um seine Worte auf mich wirken zu lassen, aber ich starrte nur stumm vor mich hin.

«Hörst du mir auch zu?«erkundigte er sich.

«Ja.«

«Du ziehst gerade wieder die Pokerface-Show ab.«

«Tut mir leid.«

«Also, dann erschien Brothersmith, der Tierarzt, kriegte mit, wie Inky Poole Dampf abließ, und meinte, komisch, Sid Halley sei auch bei ihm gewesen und habe Fragen gestellt. Sich für Herzfehler interessiert, sagte er. Dieselben Pferde, von denen Inky Poole redete. >Bethesda<, >Glea-ner< und >Zingaloo<. Und dann hätte er auch noch wissen wollen, wie denn >Tri-Nitros< Herz so sei. Meine kleine Tippse meinte, George Caspar sei dermaßen explodiert, daß man’s bis Cambridge hören konnte. Er sei sehr empfindlich, was diese Pferde angeht.«

Trevor Deansgate, überlegte ich kalt, hatte an diesem Mittwochmorgen bei den Caspars gefrühstückt und jedes Wort mitbekommen.

Chico fuhr fort:»Natürlich haben sie dann auch bei den Gestüten nachgefragt, bei Garvey und Thrace, und erfahren, daß du da auch gewesen bist. Meine Mieze meint, du bist ziemlich unten durch.«

Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht.»Weiß deine Mieze, daß du mit mir zusammengearbeitet hast?«»Na, hör mal! Natürlich nicht.«

«Hat sie sonst noch was erzählt?«Warum, zum Teufel, stelle ich eigentlich diese Fragen, dachte ich.

«Ja, doch. Sie sagte, Rosemary habe George Caspar gebeten, den gewohnten Ablauf des Abschlußtrainings am Samstag zu ändern, habe ihm den ganzen Donnerstag und den ganzen Freitag damit in den Ohren gelegen, und George sei die Wände hochgegangen. Und im Stall hätten sie derart intensive Sicherheitsmaßnahmen gehabt, daß sie schon über ihre eigenen Alarmanlagen gestolpert seien. «Er holte Luft.»Danach sagte sie dann nicht mehr viel, von wegen der drei Martinis und der freudigen Erregung.«

Ich saß auf der Sofalehne und blickte auf den Teppich hinab.

«Am nächsten Tag«, sagte Chico,»hab ich mir dann wie gesagt das Abschlußtraining angesehen. Deine Fotos kamen mir da gut zupaß. Hunderte von Gäulen… jemand sagte mir, welche die von George Caspar waren, und da war dann auch Inky Poole mit finsterem Gesicht, ganz wie auf den Bildern. Da hab ich mich auf ihn konzentriert und einfach so rumgehangen. Es gab ’ne Menge Wirbel, als >Tri-Nitro< dran war. Sie nahmen ihm den Sattel ab, legten einen kleinen drauf, und auf dem ritt dann Inky Poole.«

«Es war also Inky Poole, der >Tri-Nitro< geritten hat, wie sonst auch?«

«Sie sahen genauso aus wie auf deinen Fotos«, sagte Chico.

«Ich kann’s aber nicht beschwören.«

Ich starrte weiter auf den Teppich.

«Und was machen wir jetzt?«fragte er.

«Nichts… Wir geben Rosemary ihr Geld zurück und ziehen einen Schlußstrich unter die Geschichte.«

«Aber hör mal!«protestierte er.»Jemand ist an das Pferd rangekommen, das weißt du genau.«

«Nicht mehr unser Bier.«

Wenn er doch bloß aufgehört hätte, mich anzusehen. Ich verspürte das ganz entschiedene Bedürfnis, mich in einem Loch zu verkriechen.

Von der Türglocke kam das langanhaltende Läuten eines beharrlichen Daumendrucks.»Wir sind nicht da«, sagte ich, aber Chico ging hinaus, um zu öffnen.

Rosemary Caspar rauschte an ihm vorbei, durch den Flur und ins Wohnzimmer — in dem schon vertrauten rehbraunen Regenmantel und wutschnaubend. Kein Kopftuch, keine Perücke und keine Liebenswürdigkeiten.

«Da sind Sie ja«, sagte sie barsch.»Ich wußte doch, daß Sie sich hierher verdrückt haben. Wenn ich angerufen habe, hat mir Ihr Freund da dauernd weiszumachen versucht, Sie wären nicht da, aber ich wußte, daß er lügt.«

«Ich war wirklich nicht da«, sagte ich. Ebensogut hätte ich versuchen können, den Sankt-Lorenz-Strom mit einem kleinen Zweiglein zu stauen.

«Sie waren nicht da, wo Sie hätten sein müssen und wofür ich Sie bezahlt habe, nämlich in Newmarket. Und ich habe Ihnen von Anfang an immer wieder gesagt, George darf nicht mitbekommen, daß Sie Erkundigungen einziehen, aber er hat’s doch erfahren, und seither haben wir ständig einen Riesenkrach miteinander. Und nun hat uns >Tri-Nitro< auch noch bis auf die Knochen blamiert, und das ist alles Ihre Schuld, verdammt noch mal.«

Chico hob belustigt die Augenbrauen.»Sid hat ihn nicht geritten… und auch nicht trainiert.«

Sie starrte ihn jetzt mit dem Haß an, der zuvor mir gegolten hatte.»Und er hat ihn auch nicht geschützt.«»Äh, nein«, sagte Chico.»Zugegeben.«

«Und Sie«, sagte sie und wandte sich schnell wieder mir zu,»Sie sind ein unfähiger, mieser Hochstapler. Das ist doch alles eine einzige Farce, Ihre Detektivspielerei. Warum werden Sie nicht endlich erwachsen und hören auf, solche Spielchen zu spielen? Sie haben nichts als Unheil angerichtet. Ich verlange mein Geld zurück.«

«Tut’s ein Scheck?«fragte ich.

«Sie haben nichts dagegen einzuwenden?«

«Nein«, sagte ich.

«Sie geben also zu, daß Sie versagt haben?«

Nach kurzem Schweigen sagte ich:»Ja.«

«Ach. «Das hörte sich an, als hätte ich ihr bis zu einem gewissen Grad den Wind aus den Segeln genommen, aber während ich den Scheck ausstellte, ging die Tirade in unverminderter Form weiter.

«Ihr Vorschlag, die Routine zu ändern, der war doch völlig sinnlos. Ich habe George ständig wegen der Sicherheitsmaßnahmen gedrängt, aber er meint, er hätte nicht mehr tun können, niemand hätte das, und er ist völlig verzweifelt. Und dabei hatte ich gehofft, absurderweise wirklich gehofft, Sie könnten irgendwie ein Wunder tun und >Tri-Nitro< würde doch gewinnen, obwohl ich ganz sicher war, ganz sicher… und ich hatte recht damit.«

Der Scheck war ausgestellt.»Warum waren Sie immer ganz sicher?«fragte ich.

«Ich weiß nicht. Ich wußte es einfach. Ich hatte schon seit Wochen Angst davor… sonst wäre ich ja auch nicht so verzweifelt gewesen und hätte mich an Sie gewandt, ausgerechnet an Sie. Ich hätte es genausogut bleiben lassen können… es hat so viel Unheil gebracht, und ich kann es einfach nicht ertragen. Gestern, das war einfach schrecklich. Er hätte gewinnen müssen… und ich wußte, daß er nicht gewinnen würde. Mir war so elend. Mir ist immer noch elend.«

Sie zitterte wieder. Ihr Gesicht verriet heftigen Schmerz. Soviel Hoffnung, soviel Arbeit hatten sie in >Tri-Nitro< investiert, soviel Mühe und soviel Sorgfalt. Ein Rennen zu gewinnen ist für einen Trainer das, was für einen Filmemacher sein Film ist. Wenn man es hinkriegt, gibt es Applaus — geht es daneben, wird man ausgepfiffen. Aber wie auch immer, man hat sein Herzblut dafür gegeben, alle Gedanken, alle Fähigkeiten, hat Wochen voller Quälerei dafür geopfert. Ich konnte gut verstehen, was das verlorene Rennen für George bedeutete — und genauso für Rosemary, die sich so sehr engagiert hatte.

«Rosemary…«:, sagte ich mit sinnlosem Mitgefühl.

«Es ist doch schlichtweg Quatsch, wenn Brothersmith meint, er müsse irgendeine Infektion gehabt haben«, sagte sie.»Er gibt immer solche Sachen von sich. Er ist so was von blöd, ich kann ihn einfach nicht ausstehen. Schaut dauernd über seine Schulter. Ich hab ihn noch nie leiden können. Außerdem war es seine Aufgabe, >Tri-Nitro< zu untersuchen, und das hat er ja auch, zigmal, und da fehlte dem Pferd nichts, absolut gar nichts. Als >Tri-Nitro< an den Start ging, sah er hervorragend aus, auch vorher schon, im Führring, da fehlte ihm nicht das geringste. Und dann im Rennen, da ist er fast rückwärts gelaufen… und als er ins Ziel kam… als er zu den Boxen zurückkam… war er völlig verausgabt. «Einen Augenblick lang schimmerten Tränen in ihren Augen, aber sie wehrte sich mit aller Macht dagegen, sich von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen.

«Ich nehme an, daß eine Dopingkontrolle durchgeführt wurde«, sagte Chico.

Das brachte sie erneut in Rage.»Dopingkontrollen! Natürlich haben sie die durchgeführt, was denken Sie denn! Blut, Urin, Speichel, Dutzende dieser blödsinnigen Tests. Sie haben George auch Proben zur Verfügung gestellt, deshalb sind wir ja hier. Er will sie von einem privaten Labor analysieren lassen… aber die werden nichts feststellen, genau wie vorher… nichts, absolut gar nichts.«

Ich riß den Scheck heraus und reichte ihn ihr. Sie starrte blind darauf hinab.

«Wäre ich bloß nie hergekommen! Mein Gott, hätte ich’s bloß gelassen! Sie sind eben nur ein Jockey, das hätte ich wissen müssen. Ich will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben. Ich verbitte mir, bei den Rennen von Ihnen angesprochen zu werden, ist das klar?«

Ich nickte. Es war klar. Sie wandte sich abrupt zum Gehen.

«Und sprechen Sie um Himmels willen auch George nicht an.«

Sie ging allein aus dem Zimmer und der Wohnung, deren Tür sie hinter sich zuschlug.

Chico schnalzte mit der Zunge und zuckte die Achseln.»Man kann eben nicht alle für sich einnehmen«, sagte er.»Du hättest auch nicht mehr tun können als ihr Mann, von einer Privatpolizei und einem halben Dutzend Wachhunde ganz zu schweigen. «Er rechtfertigte mich, und das wußten wir beide.

Ich antwortete nicht.

«Sid?«

«Ich glaube, ich mache nicht weiter«, sagte ich.»Mit dieser Art von Job, meine ich.«

«Du wirst doch wohl nicht beachten, was die da eben gesagt hat!«protestierte er.»Du darfst diesen Job nicht aufgeben. Dazu bist du zu gut. Wenn ich dran denke, was für fürchterliche Geschichten du schon in Ordnung gebracht hast. Bloß weil mal eine daneben gegangen ist…«

Ich starrte leer auf eine Menge unsichtbarer Dinge.

«Du bist doch schon ein großer Junge«, sagte er. Und dabei war er sieben Jahre jünger als ich, jedenfalls fast.»Möchtest du dich an Papis Schulter ausweinen?«Er machte eine Pause.»Hör mal, Sid, du mußt dich wirklich wieder fangen. Was auch passiert ist, es kann nicht so schlimm gewesen sein wie damals, als das Pferd dir die Hand zerquetscht hat. Es ist jetzt nicht die Zeit, um alles hinzuschmeißen, schließlich warten da noch fünf Aufträge auf Erledigung. Die Versicherung und der Überwachungsjob und die Syndikate von Lucas Wainwright.«

«Nein«, sagte ich. Ich fühlte mich bleischwer und zu nichts nütze.»Nicht jetzt, ehrlich, Chico.«

Ich stand auf und ging ins Schlafzimmer, schloß die Tür hinter mir. Ging ziellos zum Fenster und sah auf die Dächer und Schornsteine hinaus, die in dem gerade einsetzenden Regen feucht zu glänzen anfingen. Die Schornsteine waren alle noch da, obwohl die dazugehörigen Kamine längst zugemauert worden waren, die Feuer darin erloschen. Ich fühlte mich eins mit diesen Schornsteinen. Wenn ein Feuer ausging, dann fror man.

Hinter mir öffnete sich die Tür.

«Sid«, sagte Chico.

Ich sagte resigniert:»Erinnere mich daran, daß ich ein Schloß an der Tür anbringe.«

«Es ist Besuch für dich da.«

«Sag ihm, er soll gehen.«

«Es ist ein Mädchen. Louise Soundso.«

Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und den

Kopf bis in den Nacken. Entspannte mich. Wandte mich vom Fenster ab.

«Louise McInnes?«

«Ja, genau.«

«Sie teilt sich die Wohnung mit Jenny«, sagte ich.

«Ach, die. Na gut, Sid, wenn du heute nichts mehr für mich hast, werde ich mal losziehen. Und… äh… du bist doch morgen hier, oder?«

«Ja.«

Er nickte. Alles Weitere blieb ungesagt. Belustigung, Spott, Freundschaft und unterdrückte Sorge — all das war in seinem Gesicht und in seiner Stimme… Vielleicht erkannte er es auch bei mir. Wie dem auch sei, er grinste mich breit an, als er hinausging, und ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und dachte bei mir, daß es bestimmte Schulden gab, die man einfach nicht zurückzahlen konnte.

Louise stand in der Mitte des Zimmers und sah sich so um, wie ich das in Jennys Wohnung getan hatte. Durch ihre Augen sah ich mein Wohnzimmer ganz neu: seinen unregelmäßigen Grundriß, seine hohe Decke, sein unmodernes Aussehen. Und das Ledersofa, am Fenster das Tischchen mit den Getränken, die Bücherregale, die gerahmten Drucke an den Wänden und das große Gemälde, auf dem ein Pferderennen dargestellt war und das hinter der Tür an der Wand lehnte, weil ich mich noch nicht dazu hatte aufraffen können, es endlich mal aufzuhängen. Überall standen Kaffeetassen und Gläser und volle Aschenbecher herum, und natürlich waren da auch die Briefstapel — auf dem Couchtisch und überall sonst.

Louise sah ebenfalls anders aus — die komplette Inszenierung, nicht das Wesen, das am Sonntagmorgen aus dem Bett hochgescheucht worden war. Eine braune Samtjacke, ein strahlend weißer Pullover, ein dezent gemusterter, brauner Wollrock und ein breiter Ledergürtel um die Taille, die von Gewichtsproblemen nichts wußte. Blondes Haar, gewaschen und schimmernd, ein leichtes Make-up auf der an englische Rosen erinnernden Haut. Eine Distanziertheit im Blick, die zu verstehen gab, daß all dieser Honig nicht vornehmlich dazu da war, die Bienen anzulocken.

«Mr. Halley.«

«Warum versuchen Sie’s nicht mit Sid?«sagte ich.»Sie kennen mich doch schon recht gut, und sei es auch nur indirekt.«

Ihr Lächeln reichte nicht ganz bis zu mir.»Also Sid.«

«Louise.«

«Jenny meint, Sid ist ein Name für Klempnergesellen.«

«Keine schlechten Leute, Klempnergesellen.«

«Wußten Sie«, sagte sie und setzte dabei ihre visuelle Inspektionstour fort,»daß im Arabischen Sid soviel wie Herr, Gebieter bedeutet?«

«Nein, das wußte ich nicht.«

«Tja, es ist aber so.«

«Das könnten Sie eigentlich mal Jenny sagen«, meinte ich.

Ihr Blick kehrte sehr schnell zu meinem Gesicht zurück.»Sie läßt Sie nicht los, was?«

Ich lächelte.»Mögen Sie einen Kaffee? Oder einen Drink?«

«Tee.«

«Aber gern.«

Sie begleitete mich in die Küche und sah zu, wie ich Tee machte. Sie enthielt sich dabei aller komischen Bemerkungen über Bionik und künstliche Hände, was sie wohltuend von sehr vielen neuen Bekannten unterschied, die zumeist fasziniert waren und dies in aller Ausführlichkeit aussprachen. Statt dessen sah sie sich mit unaufdringlicher Neugier um und richtete ihr Augenmerk schließlich auf den Kalender, der am Türgriff eines der Fichtenholzschränkchen hing. Fotografien von Pferden, das weihnachtliche Werbegeschenk einer Buchmacher-Firma. Louise blätterte die Seiten um, besah sich die Bilder der kommenden Monate und hielt beim Dezember inne. Das Bild zeigte die Silhouette eines Pferdes mit Jockey beim Sprung über den» Chair «in Aintree, in gekonnter Manier gegen den Himmel fotografiert.

«Das ist toll«, sagte sie — und dann nach Lektüre der Bildlegende überrascht:»Das sind ja Sie.«

«Ein sehr guter Fotograf.«

«Haben Sie das Rennen gewonnen?«

«Ja«, sagte ich müde.»Nehmen Sie Zucker?«

«Danke, nein. «Sie ließ die Kalenderblätter wieder herabfallen.

«Muß seltsam sein, sich in einem Kalender wiederzufinden.«

Für mich war das nicht so seltsam. Seltsam war eher, dachte ich, wenn man sein Bild schon so oft gedruckt gesehen hatte, daß man es kaum noch bemerkte. Ich trug das Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf dem Briefstapel ab, der auf dem Couchtisch lag.

«Setzen Sie sich doch«, sagte ich, und wir ließen uns beide nieder.

«Das hier sind alles Briefe«, sagte ich mit einer Kopfbewegung zu dem Stapel hin,»die zusammen mit den Schecks für das Wachs gekommen sind.«

Sie sah mich zweifelnd an.»Sind die denn von irgendwelchem Nutzen?«

«Das hoffe ich«, sagte ich und erklärte ihr die Sache mit der Adressenliste.

«Ach du lieber Himmel. «Sie zögerte.»Na ja… vielleicht können Sie ja das, was ich mitgebracht habe, gar nicht gebrauchen. «Sie nahm ihre braune Lederhandtasche auf und öffnete sie.»Ich bin nicht extra deswegen hergekommen«, fuhr sie dann fort.»Eine Tante von mir wohnt hier ganz in der Nähe, und ich besuche sie öfter mal. Wie dem auch sei, ich dachte, Sie hätten das hier vielleicht gern, und ich könnte es Ihnen vorbeibringen, wo ich nun schon mal in der Gegend bin.«

Sie zog ein Taschenbuch hervor. Sie hätte es auch mit der Post schicken können, dachte ich — aber ich war ganz froh, daß sie es nicht getan hatte.

«Ich habe den Versuch unternommen, ein wenig Ordnung in das Chaos meines Zimmers zu bringen«, erklärte sie.»Ich habe eine Menge Bücher, und die haben die Neigung, sich zu stapeln.«

Ich verschwieg ihr, daß ich das gesehen hatte.»Das haben Bücher so an sich«, sagte ich.

«Und dabei habe ich das hier gefunden. Es gehört Nik-ky.«

Sie reichte mir das Taschenbuch. Ich blickte auf den Umschlag und legte es dann aus der Hand, um den Tee einzuschenken. Navigation für Anfänger. Ich reichte ihr ihre Tasse.»Interessierte er sich für Navigation?«

«Ich habe keine Ahnung. Aber ich tu’s. Ich habe es mir aus seinem Zimmer geholt. Ausgeborgt. Ich glaube, er hat es nicht mal gemerkt. Er hatte da so eine Schachtel mit persönlichen Sachen drin, wie sie Jungs ins Internat mitnehmen. Und eines Tages, als ich in sein Zimmer kam, lagen die Sachen alle auf der Kommode, als wäre er gerade beim Aufräumen. Na ja, er war nicht da, und da hab ich mir das Buch eben geborgt… Er hätte nichts dagegen gehabt, denn er war in solchen Dingen ziemlich locker… Ich hab es dann wohl in mein Zimmer getan und irgendwas oben draufgelegt und es dann schlicht vergessen.«

«Haben Sie’s gelesen?«

«Nein, bin nicht dazu gekommen. Ich hab’s schon vor Wochen verlegt.«

Ich nahm das Buch wieder zur Hand und öffnete es. Auf das Vorsatzblatt hatte jemand mit schwarzem Filzstift und in fester, gut leserlicher Schrift den Namen» John Viking «geschrieben.

«Ich weiß nicht«, sagte Louise, meine Frage vorwegnehmend,»ob das Nickys Schrift ist oder nicht.«

«Weiß Jenny das?«

«Sie hat’s nicht gesehen. Sie ist mit Toby in Yorkshire.«

Jenny und Toby. Jenny und Ashe. Du lieber Himmel, dachte ich, was erwartest du denn? Sie ist fort, sie ist fort, sie gehört dir nicht mehr, wir sind geschieden. Und ich war ja auch nicht allein geblieben, nicht so ganz.

«Sie sehen sehr müde aus«, sagte Louise zweifelnd.

Ich war verwirrt.»Ganz und gar nicht. «Ich blätterte das Buch einmal flüchtig durch. Es war, was es zu sein versprach, nämlich ein Buch über Navigation zu Wasser und in der Luft, mit Zeichnungen und Diagrammen illustriert. Koppeln, Sextant, Magnetismus, Versetzung. Nichts Auffälliges — außer einer einzigen Formel, die mit dem gleichen Filzstift wie der Name innen auf dem hinteren Einbanddeckel notiert worden war.

Auftrieb = 22,024 x V x D x (1/T1 — VT2).

Ich gab Louise das Buch.

«Sagt Ihnen das irgend etwas? Charles meinte, Sie hätten ein abgeschlossenes Mathematikstudium.«

Sie besah sich mit leicht gerunzelter Stirn die Formel.»Nicky brauchte schon einen Taschenrechner, um zwei und zwei zusammenzuzählen.«

Zwei plus zehntausend hatte er mühelos hingekriegt, dachte ich.

«Hm«, sagte sie.»Auftrieb ist gleich 22,024 mal Volumen mal Druck mal… ich glaube, das hat etwas mit Temperaturveränderung zu tun. Eigentlich nicht mein Fach. Hier geht’s um Physik.«

«Hat das denn irgendwas mit Navigation zu tun?«fragte ich.

Sie dachte konzentriert nach. Ich beobachtete ihr angespanntes Gesicht. Ein fixer Verstand unter dem schönen Haar, dachte ich.

«Komisch«, sagte sie nach einer Weile,»aber ich meine, es könnte etwas damit zu tun haben, wieviel Gewicht man mit einer Gaszelle heben kann.«

«Mit so etwas wie einem Ballon?«sagte ich nachdenklich.

«Es kommt ganz darauf an, was 22,024 ist«, sagte sie.»Das ist eine Konstante. Und das wiederum bedeutet«, fügte sie hinzu,»daß sie nur für das Gültigkeit hat, was durch diese Gleichung ausgedrückt wird.«

«Ich tue mich leichter, wenn man von mir wissen will, wer das Rennen um drei Uhr dreißig gewinnt.«

Sie sah auf die Uhr.»Damit kommen Sie drei Stunden zu spät.«

«Morgen gibt’s wieder eins.«

Sie lehnte sich entspannt in ihrem Sessel zurück, nachdem sie mir das Buch zurückgegeben hatte.»Ich glaube nicht, daß das was nützt«, sagte sie.»Aber Sie schienen an allem interessiert zu sein, was von Nickys Sachen noch aufzutreiben ist.«»Es könnte sehr wohl was nützen. Man kann nie wissen.«

«Aber wie?«

«Das Buch gehört John Viking. Und John Viking könnte Nicky Ashe kennen.«

«Aber… Sie kennen doch John Viking nicht.«

«Nein«, sagte ich,»aber er interessiert sich für Gaszellen. Und ich kenne jemanden, der sich ebenfalls dafür interessiert. Ich wette, daß die Welt der Gaszellen genauso klein ist wie die des Rennsports.«

Sie blickte auf die Briefstapel, dann auf das Taschenbuch und sagte langsam:»Ich glaube, Sie werden ihn finden. Auf die eine oder andere Art.«

Ich sah von ihr weg, ins Leere.

«Jenny sagt, daß Sie niemals aufgeben.«

Ich lächelte matt.»Sind das genau ihre Worte?«

«Nein. «Ich spürte, daß sie amüsiert war.»Bockig, egoistisch und entschlossen, seinen Willen durchzusetzen.«

«Nicht sehr weit daneben. «Ich tippte auf das Buch.»Darf ich das behalten?«

«Natürlich.«

«Danke.«

Wir sahen uns an, wie das Menschen zu tun pflegen, vor allem, wenn sie noch jünger sind, männlich und weiblich, und am Ende eines Apriltages allein in einer stillen Wohnung beieinander sitzen.

Sie erriet meinen unausgesprochenen Gedanken und sagte trocken:»Ein andermal.«

«Wie lange werden Sie noch bei Jenny wohnen?«

«Ist das für Sie von Bedeutung?«

«Hm.«»Sie sagt, Sie seien so hart wie Feuerstein. Stahl sei im Vergleich mit Ihnen Kinderkram.«

Ich dachte an Angst und Elend und Selbstekel. Ich schüttelte den Kopf.

«Was ich sehe«, sagte sie langsam,»ist ein Mann, der elend aussieht und einem unerwünschten Gast gegenüber höflich ist.«

«Sie sind erwünscht«, sagte ich.»Und mir fehlt nichts.«

Sie stand trotzdem auf, und ich folgte ihrem Beispiel.

«Ich hoffe«, sagte ich,»daß Sie Ihre Tante sehr gern haben.«

«Ich vergöttere sie.«

Sie schenkte mir ein kühles, halb ironisches Lächeln, in dem auch Überraschung lag.

«Auf Wiedersehen… Sid.«

«Auf Wiedersehen, Louise.«

Als sie gegangen war, knipste ich ein paar Tischlampen an, um der langsam anbrechenden Dämmerung entgegenzuwirken, goß mir einen Whisky ein, besah mir ein Bündel bleicher Würstchen im Kühlschrank und briet sie mir nicht.

Jetzt würde wohl niemand mehr kommen, dachte ich. Meine Besucher hatten alle auf ihre Weise die Schatten ferngehalten, ganz besonders Louise. Jetzt würde kein Wesen aus Fleisch und Blut mehr erscheinen, aber er würde da sein, wie er auch in Paris dagewesen war… Trevor Deansgate. Unausweichlich. Mich unerbittlich an das erinnernd, was ich so gerne vergessen hätte.

Nach einer Weile zog ich Hose und Hemd aus und schlüpfte in einen kurzen, blauen Bademantel. Dann nahm ich den Arm ab. Es war eines der Male, wo das wirklich weh tat. Nach allem, was vorgefallen war, schien es jedoch kaum von Belang zu sein.

Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, um mich noch ein wenig der Unordnung dort anzunehmen, aber es gab einfach zuviel aufzuräumen — und so stand ich nur da, besah mir alles, stützte wie so oft meinen schwachen linken Armstumpf mit der starken, heilen, beweglichen rechten Hand und fragte mich, was einen wohl mehr zum Krüppel machte, eine innerliche oder eine äußerliche Amputation.

Erniedrigung und Zurückweisung, Hilflosigkeit und Versagen.

Nach all diesen Jahren würde ich mich nicht, dachte ich elend, würde ich mich, verdammt noch mal, nicht von der Angst unterkriegen lassen.

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