Kapitel 10

Chico und ich verbrachten den größten Teil des Sonnabends damit, jeder für sich einen Teil der Londoner Adressen von der M-Liste der Politurbesteller abzuklappern, und trafen uns um sechs Uhr mit wundgelaufenen Füßen und durstig in einem Pub in Fulham, den wir beide kannten.

«Wir hätten das nicht an einem Samstag und noch dazu an einem verlängerten Wochenende machen sollen«, sagte Chico.

«Nein«, stimmte ich ihm zu.

Chico sah zu, wie das Bier appetitlich ins Glas rann.»Mehr als die Hälfte war nicht da.«

«Bei mir dasselbe. Sogar fast alle.«

«Und die, die zu Hause waren, schauten sich in der Glotze Pferderennen oder Ringkämpfe an oder fummelten an ihren Miezen rum und wollten nichts wissen.«

Wir trugen sein Bier und meinen Whisky zu einem kleinen Tischchen an der Wand, nahmen einen großen Schluck und verglichen unsere Ergebnisse. Chico hatte alles in allem vier Leute festnageln können, ich nur zwei, aber das reichte schon.

Alle sechs waren — auf welchen Adressenlisten sie sonst noch stehen mochten — glückliche und regelmäßige Bezieher der Zeitschrift Antiques for All.

«Da hätten wir’s ja«, sagte Chico.»Eindeutige Sache. «Er

lehnte sich entspannt und zufrieden gegen die Wand.»Montag ist alles zu, vor Dienstag können wir nichts machen.«

«Hast du morgen schon was vor?«

«Hab Erbarmen! Das Mädchen in Wembley!«Er warf einen Blick auf die Uhr und schüttete den Rest seines Biers hinunter.

«Und damit ade, Sid, alter Junge, aber ich komm sonst zu spät. Sie mag es gar nicht, wenn ich total verschwitzt bei ihr erscheine.«

Er grinste und ging, und ich trank etwas langsamer mein Glas aus und begab mich nach Hause.

Wanderte umher. Tauschte die Batterien aus. Aß ein paar Cornflakes. Nahm die Rennberichte zur Hand und schlug die Pferde der Syndikate nach. Höchst unterschiedliche Form — Rennen waren bei niedrigen Quoten verloren und bei hohen gewonnen worden. Alle Anzeichen einer regelmäßigen, gekonnten Manipulation. Ich gähnte. So etwas kam andauernd vor.

Ich wurschtelte weiter unruhig herum, vermißte heftig den Frieden, den ich für gewöhnlich fand, wenn ich an diesem Ort mit mir allein war. Zog mich dann aus und meinen Bademantel an, nahm den Arm ab. Versuchte, mir was im Fernsehen anzuschauen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Machte den Apparat wieder aus.

Normalerweise nahm ich den Arm erst ab, wenn ich den Bademantel schon angezogen hatte, denn auf diese Weise vermied ich, den Teil meines Körpers sehen zu müssen, der unterhalb des linken Ellbogens übriggeblieben war. Mit der Tatsache als solcher hatte ich mich einigermaßen abgefunden, nicht aber mit dem Anblick, obwohl es eine durchaus saubere und keineswegs so grausige Sache war wie die zerquetschte Hand. Ich wußte, daß dieser leichte Abscheu nicht gerechtfertigt war, aber ich empfand ihn trotzdem. Es war mir auch zuwider, wenn andere — den Orthopäden ausgenommen — es sahen, selbst bei Chico. Ich schämte mich, und auch das war durch nichts gerechtfertigt. Menschen ohne Behinderung konnten dieses Gefühl der Scham nicht verstehen — und auch ich hatte es nicht nachvollziehen können, jedenfalls nicht bis zu dem Tag kurz nach meinem Unfall, an dem ich dunkelrot angelaufen war, weil ich jemanden hatte bitten müssen, mir das Fleisch auf meinem Teller kleinzuschneiden. Danach war es dann sehr oft vorgekommen, daß ich lieber gehungert als einen anderen um Hilfe gebeten hatte. Daß ich das nicht mehr mußte, seit ich die elektronische Hand hatte, war für mich eine psychische Erlösung von geradezu seelenrettenden Dimensionen gewesen.

Die neue Hand hatte mir wieder zu dem Status eines normalen menschlichen Wesens verholfen. Nun behandelte mich keiner mehr wie einen Schwachsinnigen oder mit jenem Mitgefühl, bei dem ich mich vorher so oft innerlich gewunden hatte. Niemand mehr war übertrieben rücksichtsvoll oder brachte vor lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, keinen Ton mehr heraus. Die Zeit der mich zu absoluter Nutzlosigkeit verdammenden Entstellung erschien mir rückblickend wie ein unerträglicher Alptraum.

Mit einer Hand war ich ein unabhängiger Mensch. Ohne Hände…

O Gott, dachte ich. Denk nicht daran. An sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu. Allerdings hatte Hamlet nicht die gleichen Probleme wie ich.

Ich überstand die Nacht und den nächsten Morgen und auch den Nachmittag, aber gegen sechs Uhr gab ich auf, setzte mich ins Auto und fuhr nach Aynsford.

Falls Jenny da war, überlegte ich, als ich den Wagen hinter dem Haus vor der Küche zum Stehen brachte, würde ich einfach auf dem Absatz kehrtmachen und nach London zurückkehren. Dann hätte mir die Fahrerei wenigstens die Zeit vertrieben. Ihr Auto war aber nicht zu sehen, und so betrat ich durch den Seiteneingang und einen langen Flur das Haus.

Charles saß in dem kleinen Wohnzimmer, das er als Offiziersmesse zu bezeichnen pflegte, war allein und ordnete seine vielgeliebte Sammlung von Angelfliegen.

Er blickte auf. Keine Überraschung. Keine freudige Begrüßung. Kein Getue. Und das, obwohl ich noch nie ohne Einladung hier erschienen war.

«Hallo«, sagte er lediglich.

«Hallo.«

Ich stand da, und er sah mich an und wartete.

«Ich brauchte Gesellschaft«, gestand ich.

Er begutachtete eine Trockenfliege.»Hast du Sachen für die Nacht mit?«

Ich nickte.

Er deutete auf das Tablett mit den Getränken.»Bedien dich. Und gib mir einen Pink Gin, sei so gut. Eis ist in der Küche.«

Ich machte seinen Drink zurecht, dann meinen, und ließ mich in einem Sessel nieder.

«Willst du’s mir sagen?«fragte er.

«Nein.«

Er lächelte.»Also Abendessen? Und Schach.«

Wir aßen zusammen zu Abend und spielten zwei Partien. Er gewann die erste leicht und meinte, ich solle besser aufpassen. Die zweite endete nach anderthalb Stunden remis.»Schon besser«, sagte er.

Der Friede, den ich allein nicht hatte finden können, kehrte in der Gesellschaft von Charles langsam wieder, obwohl ich durchaus wußte, daß dies mehr der Entspannt-heit unseres persönlichen Umgangs und der Zeitlosigkeit seines riesigen, alten Hauses zuzuschreiben war als einer wirklichen Überwindung der Zerstörungen in mir. In jedem Falle schlief ich zum ersten Mal seit zehn Tagen wieder etliche Stunden tief durch.

Beim Frühstück besprachen wir den vor uns liegenden Tag. Er wollte zum Jagdrennen nach Towcester, fünfundvierzig Minuten in nördlicher Richtung gelegen, um dort als ehrenamtlicher Steward zu fungieren, eine Aufgabe, die ihm großen Spaß machte. Ich erzählte ihm von John Viking und der Ballonwettfahrt, ferner von unseren Besuchen bei den M-Leuten und von Antiques for All, und er lächelte mit der ihm eigenen Mischung von Befriedigung und Belustigung, als sei ich ein Wesen, das er höchstpersönlich erschaffen hatte und das allmählich seinen Er-Wartungen zu entsprechen begann. Schließlich war er es ja auch gewesen, der mich nach dem Unfall dazu animiert hatte, Detektiv zu werden. Jedesmal wenn ich einen Erfolg verbuchen konnte, sah er das als sein ureigenstes Verdienst an.

«Hat dir Mrs. Cross von dem Anruf berichtet?«fragte er und bestrich sich eine Scheibe Toast mit Butter. Mrs. Cross war seine Haushälterin, ruhig, tüchtig und freundlich.

«Was für ein Anruf?«

«Jemand hat heute morgen um sieben hier angerufen und gefragt, ob du vielleicht da wärst. Mrs. Cross hat ihm gesagt, du schläfst noch und ob sie dir etwas ausrichten könne, aber der Anrufer sagte, er würde sich später noch mal melden.«

«War’s Chico? Vielleicht hat er mich in meiner Wohnung nicht erreicht und sich gedacht, daß ich hier draußen bin.«»Mrs. Cross sagte, einen Namen habe er nicht genannt.«

Ich zuckte die Achseln und griff nach der Kaffeekanne.»Es kann nichts Dringendes gewesen sein, sonst hätte er Mrs. Cross wohl gebeten, mich zu wecken.«

Charles lächelte.»Mrs. Cross schläft mit Lockenwicklern und Gesichtsmaske. Sie würde sich dir nie und nimmer morgens früh um sieben zeigen, außer vielleicht bei einem Erdbeben. Sie hält dich übrigens für einen reizenden jungen Mann. Das sagt sie mir jedes Mal, wenn du herkommst.«

«Ach du liebe Güte!«

«Kommst du heute abend wieder her?«fragte er.

«Ich weiß es noch nicht.«

Er faltete seine Serviette zusammen, blickte darauf hinab.

«Ich bin froh, daß du gestern gekommen bist.«

Ich sah ihn an.»Ja«, sagte ich.»Gut, du möchtest, daß ich das sage, also tu ich’s. Und ich meine es auch. «Ich hielt inne, suchte nach den schlichtesten Worten, die ihm zu verstehen geben könnten, was ich für ihn empfand. Fand sie. Sagte sie.»Hier ist mein Zuhause.«

Er sah schnell auf, und ich lächelte schief, machte mich über mich selbst lustig, über ihn, über die ganze gottverdammte Welt.

Highalane Park war ein alter Herrensitz, der sich voller Unbehagen mit dem Plastikzeitalter abfand. Das Anwesen selbst präsentierte sich wie eine echauffierte Jungfer nur ein paarmal im Jahr der breiteren Öffentlichkeit, der Park dagegen konnte jederzeit für Veranstaltungen oder Festlichkeiten, wie etwa der aus Anlaß des Maifeiertages, angemietet werden.

Man hatte sich keine besondere Mühe gegeben, durch eine entsprechende Ausschilderung auf die Veranstaltung aufmerksam zu machen und Vorbeifahrende anzulocken. Keine Fahnen, kein Tamtam, keine riesengroßen, schon von weitem lesbaren Plakate — alles eher schüchtern, ja zaghaft. Angesichts dessen war die Menschenmenge, die zum Festplatz strömte, von beachtlicher Größe. Als ich an der Reihe war, zahlte ich das Eintrittsgeld und holperte dann über das Gras, um mein Auto gehorsam auf dem eigens abgesperrten Parkplatz abzustellen. Andere Autos folgten und halfen, die säuberlichen Reihen zu vervollständigen.

Ein paar Reiter bewegten sich geschäftig im Gelände herum, während die Karussells, die auf der einen Seite des Festplatzes aufgebaut worden waren, bewegungslos dastanden. Von Ballons keine Spur. Ich stieg aus dem Auto, schloß es ab und dachte, daß halb zwei vielleicht noch etwas früh für bedeutendere Aktivitäten sei. Wie man sich täuschen kann!

Eine Stimme hinter mir sagte:»Ist das der Mann?«

Ich drehte mich um und sah zwei Menschen durch die enge Lücke zwischen meinem und dem daneben geparkten Auto auf mich zukommen, einen Mann, der mir unbekannt, und einen Jungen, der mir bekannt war.

«Ja«, sagte der Junge erfreut.»Hallo!«

«Hallo, Mark«, erwiderte ich.»Wie geht’s denn deiner Mama?«

«Ich hab Daddy erzählt, daß Sie gekommen sind. «Er sah zu dem Mann neben sich auf.

«So?«Ich dachte, seine Anwesenheit hier in Highalane Park sei der reinste Zufall, aber das war sie nicht.

«Er hat Sie mir beschrieben«, sagte der Mann.»Diese Hand und wie Sie mit den Pferden umzugehen wußten…

mir war da gleich klar, von wem er sprach. «Seine Stimme und sein Gesicht waren hart und wachsam, verrieten etwas, was mir inzwischen recht vertraut war: Schuldbewußtsein, das sich mit Unannehmlichkeiten konfrontiert sah.»Ich mag das ganz und gar nicht, wenn Sie da auf meinem Anwesen rumschnüffeln.«

«Sie waren nicht da«, sagte ich milde.

«So ist es, ich war nicht da. Und dieser Knirps hier hat Sie sich selbst überlassen.«

Er war etwa vierzig, ein drahtiger Bursche, dem die bösen Absichten nur allzu deutlich anzusehen waren.

«Ich habe auch Ihr Auto wieder erkannt«, sagte Mark voller Stolz.»Papa sagt, ich bin ganz schön clever.«

«Kinder haben eine gute Beobachtungsgabe«, meinte sein Vater mit häßlichem Behagen.

«Wir haben gewartet, bis Sie da aus so einem großen Haus rausgekommen sind, und dann sind wir Ihnen die ganze Strecke bis hierher nachgefahren. «Er strahlte, forderte mich auf, den Spaß an seinem Spielchen mit ihm zu teilen.»Das dort ist unser Auto, das neben Ihrem. «Er klopfte auf das Blech des kastanienbraunen Daimlers, der dort geparkt stand.

Der Anruf, schoß es mir durch den Kopf. Nicht von Chico. Von Peter Rammileese, der sich nach mir umgehört hatte.

«Daddy hat versprochen, daß er mit mir Karussell fährt«, schwatzte Mark glücklich weiter.»Und derweil nehmen unsere Freunde Sie mit auf eine Spazierfahrt. Mit unserem Auto.«

Sein Vater sah streng auf ihn herab, aber Mark bemerkte es nicht, sondern blickte auf einen Punkt hinter meinem Rücken.

Ich sah mich um. Zwischen dem Scimitar und dem Daimler standen noch zwei Gestalten. Große, finster dreinblickende Kerle von der Bruderschaft der Muskelmänner. Schlagringe und Schuhspitzen aus Stahl.

«Steigen Sie ein«, sagte Rammileese und zeigte auf seinen Wagen, nicht auf meinen.»Hinten.«

Aber sicher doch, dachte ich. Glaubte der etwa, ich wäre verrückt? Ich beugte mich leicht nach vorn, als wolle ich seiner Aufforderung Folge leisten, hob statt dessen aber mit dem rechten Arm Mark vom Boden auf und rannte los.

Rammileese fuhr mit einem Aufschrei herum. Marks Gesicht, dicht neben dem meinen, hatte einen erstaunten Ausdruck, aber zugleich lachte er. Ich lief etwa zwanzig Schritte, setzte ihn dann ab, seinem wütend herbeieilenden Vater genau in den Weg, und rannte weiter, fort vom Parkplatz und auf die Menschenansammlung in der Mitte des Festplatzes zu.

Verflucht, dachte ich. Chico hatte wirklich recht. Wir brauchten neuerdings nur noch mit der Wimper zu zucken, und schon setzten sie ihre schweren Jungs auf uns an. Allmählich wurde es wirklich zuviel.

Es war die Art von Hinterhalt, die vielleicht funktioniert hätte, wenn Mark nicht dabeigewesen wäre — ein Schlag in die Nieren und rein ins Auto, bevor ich wieder hätte Luft kriegen können. Aber sie hatten wahrscheinlich Mark gebraucht, um mich zu identifizieren, weil sie mich zwar dem Namen nach, nicht aber persönlich kannten. Sie würden mich dort auf dem Festplatz nicht kriegen, soviel stand fest — und wenn ich später zu meinem Auto zurückging, dann nur mit entsprechendem Begleitschutz. Vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, sahen sie ja ein, daß es zwecklos war, und verschwanden wieder.

Ich erreichte den Rand des Reitplatzes, auf dem ein Springreiten im Gang war, und blickte mich um, über den Kopf eines Mädchens hinweg, das ein Eis leckte. Die Schläger waren nicht zurückgepfiffen worden. Sie folgten mir noch immer verbissen. Ich beschloß, nicht abzuwarten, was passieren würde, wenn ich einfach stehenbliebe und die diversen Familien bäte zu verhindern, daß ich verschleppt wurde und mit kaputtgetretenem Kopf auf den Straßen von Tunbrigde Wells wieder aufwachte. Die diversen Familien mit ihren Hunden und Omas und Kinderwagen und Picknickkörben würden wahrscheinlich nur tatenlos und mit offenen Mündern herumstehen und sich, wenn alles längst vorbei war, verwirrt fragen, was da eigentlich vor sich gegangen war.

Ich lief also weiter, tiefer in die Menschenmenge hinein, um die Reitbahn herum, stieß mit Kindern zusammen, wenn ich über die Schulter zurückblickte — und sah die beiden Kerle nach wie vor hinter mir.

Der Reitplatz lag zu meiner Linken. An seiner Außenseite waren ringsherum Autos abgestellt, neben denen der breite Grasweg freigelassen war, auf dem ich entlanglief. Rechts von mir befand sich der Ring der Zelte, Buden und Wagen, die zu einer Veranstaltung dieser Art dazugehören. Da gab es Sattelzeug zu kaufen, Reitsachen, Bilder, Spielzeug, Würstchen, Obst, noch mehr Sättel, Eisenwaren, Tweedjacken, Hausschuhe aus Schaffell… eine endlose Reihe kleiner Händler.

Zwischen den Buden und Zelten die mobilen Verkaufsund Informationsstände — ein Eisauto, ein Informationswagen der Reitsportlichen Vereinigung, eine Ausstellung kunsthandwerklicher Arbeiten, eine Wahrsagerin, ein Verkaufswagen, in dem Trödel zu wohltätigen Zwecken feilgeboten wurde, ein fahrbares Kino, in dem man sich Filme über verschiedene Schäferhundrassen ansehen konnte, ein seitlich geöffneter, riesiger Sattelschlepper, aus dem allerlei Küchensachen in Orange, Gelb und Grün herausquollen. Davor überall Trauben von Menschen und drinnen keinerlei Deckung.

«Können Sie mir sagen, wo ich die Ballons finde?«fragte ich jemanden, und er deutete auf einen Stand, wo es bunte Luftballons gab — Kinder kauften sie sich und banden sie an ihren Handgelenken fest.

Die doch nicht, dachte ich. Die ganz bestimmt nicht. Ich blieb aber nicht stehen, um genauer zu erklären, was ich meinte, sondern ging ein Stück weiter und fragte erneut.

«Die Ballonwettfahrt? Ich glaube, da auf der nächsten Wiese. Aber es ist noch zu früh.«

«Danke«, sagte ich. Laut den Plakaten war der Start für drei Uhr vorgesehen, aber ich mußte John Viking schon sehr viel früher erwischen, solange er noch bereit war, mich anzuhören.

Ich stellte mir die Frage, worum es eigentlich bei einer Ballonwettfahrt ging. Schließlich fuhren alle mit gleicher Geschwindigkeit, nämlich mit der des Windes.

Meine Verfolger wollten einfach nicht aufgeben. Sie rannten nicht — ebensowenig wie ich. Sie folgten mir nur immer im gleichen Abstand, als steuere sie ein Sender in meiner Tasche. Sie hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes an meine Fersen geheftet. Ich mußte irgendwo untertauchen, dachte ich, und so lange verschwunden bleiben, bis ich mit John Viking geredet hatte. Danach konnte ich mich dann vielleicht auf die Suche nach Hilfe begeben, zum Beispiel bei den Mitgliedern des Festkomitees, bei den Rotkreuzschwestern oder dem einen Polizisten, der draußen auf der Straße den Verkehr regelte.

Inzwischen war ich auf der anderen Seite des Turnierplatzes angelangt und überquerte den Sammelplatz, wo

Kinder auf Ponys herumschwirrten wie die Bienen, mit angespanntem Blick, wenn sie an die Reihe kamen, und in Tränen aufgelöst oder triumphierend, wenn sie abritten.

Vorbei an ihnen, vorbei an der Kabine, in der der Ansager saß —»Jane Smith hat ihren Ritt fehlerfrei beendet, der nächste Reiter ist John Daley auf >Traddles<«-, vorbei an der kleinen Tribüne für die Veranstalter und die Prominenz — Reihen leerer Klapp-Stühle —, vorbei an einem seitlich offenen, gutgefüllten Zelt, in dem es Erfrischungen gab, und wieder zurück zu den Ständen und Wagen.

Ich schlüpfte mal hier, mal da hinein, drückte mich hinten an den Buden vorbei, kroch unter den Spannseilen der Zelte durch und an Haufen von Pappkartons vorbei. Aus der Deckung eines dicht mit Reitjacken behängten Kleiderständers beobachtete ich, wie die beiden Spürhunde an mir vorbeiliefen, hastig, mit suchenden Blicken, deutlich beunruhigt.

Sie waren anders als die beiden, die Trevor Deansgate geschickt hatte, dachte ich. Seine waren kleiner und unbeholfener gewesen und hatten weniger professionell gewirkt. Die beiden hier machten den Eindruck, als gehöre diese Art von Tätigkeit zu ihrem täglichen Brot. Und trotz der relativen Sicherheit des Festplatzes, der mir ja als letzten Ausweg immer noch die Möglichkeit bot, mitten in die Reitbahn hineinzulaufen und laut um Hilfe zu schreien, ging etwas sehr Einschüchterndes von ihnen aus. Mietschläger wurden für gewöhnlich stundenweise bezahlt — diese beiden sahen dagegen wie feste Angestellte, wenn nicht gar Mitglieder der Geschäftsführung aus.

Ich verließ den Schutz der Reitjacken wieder und verdrückte mich in den Vorführwagen, in dem der Schäferhund-Film gezeigt wurde, der durchaus fesselnd gewesen wäre, wenn draußen nicht ein Schafetreiben stattgefunden hätte, bei dem ich das Schaf abgab.

Ich sah auf die Uhr. Zwei durch. Es verging zuviel Zeit. Ich mußte mir einen anderen Weg suchen, um zu den Ballons zu gelangen. Ich ging wieder hinaus — sie waren nicht mehr zu sehen. Ich schob mich durch die Menge, fragte nach dem Weg.

«Da, da hinten, mein Freund«, erklärte ein resoluter Mann und wies in die entsprechende Richtung.»An der Würstchenbude vorbei, dann rechts, da ist ein Durchlaß im Zaun. Ist gar nicht zu verfehlen.«

Ich nickte ihm einen Dank zu, wandte mich in die mir gewiesene Richtung und sah einen meiner Verfolger direkt auf mich zukommen. Er suchte Bude für Bude ab und schien sehr besorgt.

Noch eine Sekunde, dann mußte er mich sehen… ich blickte mich hastig um und entdeckte, daß ich vor dem Wohnwagen der Wahrsagerin stand. Vor der Tür hing ein Fliegenvorhang aus Plastikbändern, schwarz und weiß, und dahinter war eine schattenhafte Gestalt zu erkennen. Ich machte vier schnelle Schritte, schob mich durch die Plastikbänder und trat in den Wohnwagen.

Hier drinnen war es still und dämmerig, das Tageslicht drang kaum durch die mit Spitzengardinchen verhängten Scheiben. Die Einrichtung pseudoviktorianisch, mit nachgemachten Petroleumlampen und Deckchen aus Chenille. Draußen ging der Spürhund vorbei, warf dem Wagen der Wahrsagerin nur einen flüchtigen Blick zu. Seine Aufmerksamkeit war nach vorn gerichtet. Er hatte mich nicht hier hineinschlüpfen sehen. Die Wahrsagerin dagegen schon, und für sie bedeutete ich Kundschaft.

«Möchten Sie Ihr ganzes Leben, mein Lieber, mit Vergangenheit und allem, oder nur die Zukunft?«

«Äh…«:, brachte ich hervor.»Tja, ich weiß nicht so recht. Wie lange dauert’s denn?«»Eine Viertelstunde, mein Lieber, wenn’s das Ganze sein soll.«

«Dann machen wir nur die Zukunft.«

Ich sah zum Fenster hinaus. Ein Teil meiner Zukunft suchte mich zwischen den Autos, die um den Reitplatz standen, stellte Fragen und bekam eine Menge geschüttelter Köpfe zu sehen.

«Setzen Sie sich hier neben mich aufs Sofa, mein Lieber, und geben Sie mir Ihre linke Hand.«

«Sie müssen die Rechte nehmen«, sagte ich abwesend.

«Nein, mein Lieber. «Ihre Stimme klang ziemlich scharf.»Immer die Linke.«

Ich setzte mich belustigt hin und reichte ihr gehorsam die Linke. Sie befühlte sie und betrachtete sie und blickte dann mich an. Sie hatte dunkles Haar, war klein und mollig, von mittlerem Alter und in keiner Weise bemerkenswert.

«Also schön«, sagte sie nach einer kleinen Pause,»dann muß es wohl doch die Rechte sein, obwohl ich das nicht gewohnt bin und die Ergebnisse deshalb vielleicht nicht so gut ausfallen.«

«Ich laß es drauf ankommen«, sagte ich. Wir tauschten die Plätze auf dem Sofa, und sie hielt meine Rechte fest in ihren beiden warmen Händen. Ich beobachtete, wie mein Verfolger an der Reihe der Autos entlanglief.

«Sie haben viel gelitten«, sagte sie.

Da sie über meine linke Hand Bescheid wußte, beeindruckte mich diese Wahrsagung nicht sonderlich, und das schien sie zu spüren, denn sie hüstelte entschuldigend.

«Macht es Ihnen was aus, wenn ich meine Kristallkugel nehme?«fragte sie.

«Nein, nein, nur zu.«

Ich hatte die vage Vorstellung, daß sie nun in eine riesige, auf einem Tisch stehende Kristallkugel hineinschauen werde, aber sie holte eine ganz kleine hervor, etwa von der Größe eines Tennisballs, und legte sie in meine Hand.

«Sie sind ein lieber Mensch«, sagte sie.»Sanft. Die Leute mögen Sie und lächeln Ihnen zu.«

Draußen, nur zwanzig Meter entfernt, waren die beiden Schlägertypen wieder zusammengetroffen und hielten Kriegsrat. Bei ihnen war kein Lächeln zu entdecken.

«Sie werden von jedermann geachtet.«

Der übliche Kram, darauf angelegt, dem Kunden zu gefallen. Das sollte Chico mal hören, dachte ich. Sanft, lieb, geachtet. er würde platzen vor Lachen.

Sie sagte in zweifelndem Ton:»Ich sehe eine große Menschenmenge, man klatscht und jubelt. Laute Rufe, Applaus.«

Ich wandte mich ihr langsam zu. Ihre dunklen Augen sahen mich ruhig an.

«Das ist die Vergangenheit«, sagte ich.

«Noch nicht lange her«, entgegnete sie.»Es ist noch da.«

Ich glaubte nichts von alledem. Ich glaubte nicht an Wahrsager. Ich fragte mich, ob sie mich wohl schon mal gesehen hatte, auf einer Rennbahn oder im Fernsehen. Es konnte nicht anders sein.

Sie beugte sich erneut über die Kristallkugel, die sie in meiner Hand hielt und leicht über die Haut hin und her schob.

«Sie verfügen über eine gute Gesundheit. Sie haben Kraft. Sie sind körperlich sehr ausdauernd… Da ist noch viel zu ertragen.«

Sie brach ab, hob den Kopf ein wenig und runzelte die

Stirn. Ich hatte den Eindruck, daß das, was sie soeben gesagt hatte, sie irgendwie selbst überraschte.

Nach einer Weile meinte sie:»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

«Und warum nicht?«

«Die rechte Hand ist mir ungewohnt.«

«Sagen Sie mir, was Sie sehen.«

Sie schüttelte ganz leicht den Kopf und hob die ruhigen, dunklen Augen.

«Sie werden lange leben.«

Ich spähte durch den Plastikvorhang hinaus. Meine Verfolger waren verschwunden.

«Was bin ich Ihnen schuldig?«fragte ich. Sie nannte den Preis, ich zahlte und ging ruhig zur Tür.

«Passen Sie auf, mein Lieber«, sagte sie.»Seien Sie vorsichtig.«

Ich drehte mich zu ihr um. Ihr Gesicht war noch immer so beherrscht wie zuvor, aber in ihrer Stimme war etwas Drängendes gewesen. Ich wollte nicht wahrhaben, welche Überzeugtheit aus ihrem Blick sprach. Vielleicht hatte sie die Beunruhigung über mein derzeitiges Problem mit den beiden Verfolgern gespürt — mehr aber auch nicht. Ich schob den Vorhang sanft beiseite und trat aus der dämmri-gen Welt unbestimmter Schrecken hinaus in das helle Sonnenlicht des Maientages, wo sie vielleicht in sehr realer Form lauerten.

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