Kapitel 20

Charles und ich fuhren nach Aynsford zurück.

«Du kriegst trotzdem eine ordentliche Portion Gerichtsverhandlungen ab«, sagte er.»Da sind ja noch Ashe und Deansgate.«

«Es ist nicht so schlimm, wenn man nur als ganz gewöhnlicher Zeuge hin muß.«

«Das warst du inzwischen ja auch schon ein paar Mal.«

«Ja«, sagte ich.

«Ich frage mich, was Lucas Wainwright jetzt wohl machen wird.«

«Das weiß der liebe Gott.«

Charles warf mir einen Seitenblick zu.»Freust du dich denn überhaupt nicht?«

«Worüber soll ich mich denn freuen?«Ich war erstaunt.

«Über den besiegten Feind.«

«Ach ja?«sagte ich.»Und du, bei deinen Schlachten, was hast du gemacht, wenn du einen Feind ertrinken sahst? Dich gefreut? Ihn unter Wasser gedrückt?«

«Ihn gefangengenommen«, sagte er.

Nach einer Weile sagte ich:»Sein Leben wird von jetzt an wohl Gefängnis genug sein.«

Charles lächelte sein verstohlenes Lächeln und fragte zehn Minuten später:»Und vergibst du ihm auch?«

«Stell doch nicht so schwere Fragen.«

Liebe deine Feinde. Vergib. Vergiß. Ich war noch nie ein guter Christ, dachte ich. Ich konnte es schaffen, Lucas nicht zu hassen. Daß ich ihm vergeben konnte, glaubte ich nicht — vergessen jedenfalls würde ich nie.

Wir erreichten Aynsford, wo mir Mrs. Cross, die gerade ein Tablett nach oben in ihr Zimmer trug, berichtete, daß Chico sich sehr viel besser fühle, aufgestanden und in der Küche zu finden sei. Ich begab mich dorthin und fand ihn allein am Tisch sitzen und auf einen Becher Tee hinabstarren.

«Hallo«, sagte ich.

«Hallo.«

Ihm brauchte man nichts vorzumachen. Ich goß mir auch einen Becher Tee ein und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch.

«War ziemlich übel, was?«fragte er.

«Ja.«

«Und ich war ganz schön weggetreten.«

«Mm.«

«Du nicht. Hat alles noch schlimmer gemacht.«

Wir saßen eine Weile schweigend da. In seinem Blick war eine Art Dumpfheit, die aber nichts mehr mit einer Gehirnerschütterung zu tun hatte.

«Glaubst du«, fragte er,»daß sie deinen Kopf nur deshalb in Ruhe gelassen haben?«

«Weiß ich nicht.«

«Könnte aber sein.«

Ich nickte. Wir tranken in kleinen Schlucken von unserem Tee.

«Was haben sie gesagt, heute?«fragte er.»Die Obermohren?«»Sie haben zugehört, Lucas ist zurückgetreten, Ende der Geschichte.«

«Für uns nicht.«

«Nein.«

Ich bewegte mich steif auf meinem Stuhl.

«Was machen wir?«

«Mal sehen.«

«Ich könnte nicht…«Er verstummte. Er sah müde, krank und völlig mutlos aus.

«Nein«, sagte ich,»ich auch nicht.«

«Sid… ich glaube… ich habe genug.«

«Was willst du machen?«

«Judo unterrichten.«

Und ich, dachte ich, könnte mir meinen Lebensunterhalt mit Versicherungen, Wertpapieren, Warentermingeschäften und Kapitalerträgen verdienen. Ein Lebensunterhalt. aber kein Leben.

Wir tranken deprimiert unseren Tee aus, fühlten uns zerschlagen und schwach und taten uns leid. Wenn er nicht weitermachte, dachte ich, konnte ich’s auch nicht. Ihm verdankte ich, daß mir der Job Spaß machte. Seine Natürlichkeit, seine Gutherzigkeit, seine Fröhlichkeit — ich brauchte sie. In vieler Hinsicht funktionierte ich ohne ihn einfach nicht. In vieler Hinsicht lag mir auch gar nichts daran zu funktionieren, wenn ich ihn nicht einbeziehen konnte.

Nach einer Weile sagte ich:»Du würdest dich langweilen.«

«Ich? Mit Wembley und ohne Schmerzen und mit den kleinen Scheißern?«

Ich rieb mir die juckende Schnittwunde an der Stirn.

«Und überhaupt«, sagte er,»warst du es doch, der letzte Woche schon aufgeben wollte.«»Na ja… ich laß mich nun mal nicht gern…«Ich brach ab.

«Schlagen«, ergänzte er.

Ich nahm die Hand herunter und sah ihm in die Augen. Es lag darin dasselbe, was plötzlich auch in seiner Stimme gewesen war — das Bewußtsein der Doppeldeutigkeit des Wortes. Ein Aufblitzen ironischer Amüsiertheit. Die Andeutung zurückkehrenden Lebens.

«Ja. «Ich lächelte schief.»Ich laß mich nicht gern schlagen. War noch nie mein Fall.«

«Also hol der Geier die Ganoven?«

Ich nickte.»Auf sie mit Gebrüll.«

«In Ordnung.«

Wir saßen noch lange dort am Küchentisch, aber jetzt war uns beiden sehr viel wohler.

Drei Tage später, am Montagabend, fuhren wir nach London zurück, und Chico kam, nachsichtig gegen meine Befürchtungen, die er nicht ernst nahm, mit in meine Wohnung.

Das vormals heiße Wetter hatte zur Normalität zurückgefunden, das heißt, ein warmer Sprühregen nieselte vom Himmel herab. Die Straßen waren von der öligen Patina, die die heißen, trockenen Autoreifen hinterlassen hatten, ziemlich glatt, und in Westlondon ertranken die Vorgärten in Rosen. Noch zwei Wochen bis zum Derby… und vielleicht würde >Tri-Nitro< dort laufen, wenn die Infektion abklang, denn abgesehen davon war er in guter Form.

Die Wohnung war still und leer.

«Sag ich doch«, meinte Chico und lud meine Reisetasche im Schlafzimmer ab.»Soll ich auch unterm Sofa nachschauen?«

«Wo du nun schon da bist.«

Er erhob die Augen zum Himmel und machte sich dann an eine sorgfältige Überprüfung der ganzen Wohnung.

«Nur Spinnen«, sagte er.»Und die haben alle Fliegen gefangen.«

Wir gingen wieder nach unten zu meinem Auto, und ich fuhr ihn nach Hause.

«Freitag«, sagte ich,»fahre ich für ein paar Tage weg.«

«So? Ein sündiges Wochenende?«

«Kann man nie wissen. Ich ruf dich an, wenn ich wieder da bin.«

«Und von jetzt an nur noch die lieben, sanften Gangster, okay?«

«Klar, die großen lassen wir außen vor«, sagte ich.

Er grinste, nickte mir zu und verschwand im Haus. Ich fuhr wieder zurück. In der Dämmerung gingen überall die Lichter an.

Zu Hause angekommen, fuhr ich in den Hinterhof, um den Wagen in der Garage, die ich dort gemietet hatte, zu verstecken.

Ich schloß die Rolltür auf und schob sie hoch. Knipste das Licht an. Fuhr das Auto hinein. Stieg aus. Schloß das Auto ab. Steckte die Schlüssel in die Tasche.

«Sid Halley«, sagte eine Stimme.

Eine Stimme? Seine Stimme.

Trevor Deansgate.

Ich stand noch an der Wagentür, die ich gerade abgeschlossen hatte, war zu Stein erstarrt.

«Sid Halley.«

Mir war, als hätte ich schon die ganze Zeit gewußt, daß das passieren würde. Irgendwann, irgendwo — genau wie er gesagt hatte. Seine Drohungen waren ernst gemeint gewesen. Er hatte erwartet, daß man ihnen Glauben schenkte. Ich hatte ihnen geglaubt.

O Gott, dachte ich, es ist zu früh. Es ist immer zu früh. Laß ihn nur meine Angst nicht sehen, laß ihn nichts merken. Lieber Gott… gib mir Mut.

Ich drehte mich langsam zu ihm um.

Er war einen Schritt in die Garage hereingekommen, stand im Licht, und der dünne Nieselregen war wie ein hinter ihm aufgespanntes, silbrig-graues Tuch.

Er hielt die Schrotflinte in der Hand, hatte den Doppellauf auf mich gerichtet.

Links von mir war eine Garagenwand, hinter mir ebenfalls, und rechts von mir das Auto — und bei den Garagen hinter den Wohnhäusern waren nie viele Menschen anzutreffen. Und selbst wenn jemand käme, würde er bei dem Regen wohl kaum lange hier herumtrödeln.

«Ich habe auf Sie gewartet«, sagte er.

Er steckte wie immer in feinem Nadelstreifen. Er verbreitete wie immer die Aura der Macht um sich.

Seine Augen und seine Gewehrläufe sahen mich unverwandt an, während er mit der linken Hand schnell nach oben und hinten griff und den Rand des Rolltores zu fassen bekam. Mit einem scharfen Ruck zog er es bis fast auf den Boden herunter und schloß uns damit ein. Dann hielten wieder beide sauberen, manikürten, von weißen Manschetten umgebenen Hände das Gewehr.

«Ich warte mit Unterbrechungen schon seit Tagen auf Sie. Seit letztem Donnerstag.«

Ich sagte nichts.

«Letzten Donnerstag haben mich zwei Polizisten aufgesucht. George Caspar hat angerufen. Der Jockey Club hat mir angekündigt, daß man gegen mich vorgehen würde.

Mein Anwalt hat mir gesagt, daß ich meine BuchmacherLizenz loswerden würde. Ich dürfte wahrscheinlich keine Rennbahn mehr betreten und könnte sogar im Gefängnis landen. Seit diesem Donnerstag warte ich auf Sie.«

Wie beim letzten Mal war seine Stimme an sich schon eine Drohung, schwer von der rauhen Wirklichkeit des städtischen Dschungels.

«Die Polizei ist auch im Labor gewesen. Mein Bruder verliert seinen Job. Seine Karriere, für die er so hart gearbeitet hat, ist hin.«

«Mir kommen gleich die Tränen«, sagte ich.»Sie haben beide gespielt. Sie haben verloren. Verdammtes Pech.«

Seine Augen verengten sich, und die Gewehrläufe verschoben sich ein paar Zentimeter, von der Reaktion seines Körpers bewegt.

«Ich bin hergekommen, um das zu tun, was ich gesagt habe.«

Gespielt… verloren… genau wie ich.

«Ich habe hier in der Nähe im Auto gesessen und gewartet«, sagte er.»Ich wußte, daß Sie irgendwann zurückkommen würden. Ich wußte es ganz sicher. Ich brauchte nur zu warten. Ich habe seit letzten Donnerstag den größten Teil meiner Zeit hier verbracht und auf Sie gewartet. Und heute abend sind Sie endlich nach Hause gekommen… mit Ihrem Freund da. Aber ich wollte nur Sie, allein… also habe ich weiter gewartet. Und Sie sind wieder hergekommen. Ich wußte, daß Sie am Ende wieder herkommen würden.«

Ich sagte nichts.

«Ich bin gekommen, um das zu tun, was ich zu tun versprochen habe. Ihnen die Hand wegschießen. «Er schwieg einen Augenblick.»Warum flehen Sie mich nicht an, es nicht zu tun? Warum gehen Sie nicht auf Ihre verdammten Knie und bitten mich, Sie zu schonen?«

Ich antwortete nicht, bewegte mich nicht. Er gab ein kurzes Lachen von sich, in dem keinerlei Freude lag.

«Meine Drohung hat Sie nicht aufhalten können, nicht wahr? Nicht sehr lange jedenfalls. Ich dachte, sie würde es. Ich dachte, kein Mensch würde das Risiko eingehen, beide Hände zu verlieren. Bloß um mich zu erledigen. Nicht für so eine Bagatelle. Sie sind schon ein verdammter Idiot, Sie.«

Im großen und ganzen stimmte ich ihm da zu. Und ich zitterte innerlich und war bemüht, ihn das nicht sehen zu lassen.

«Sie bringt nichts aus der Fassung, was?«

Er spielt mit mir, dachte ich. Er muß doch wissen, daß ich Angst habe. Jeder würde sich unter diesen Umständen zu Tode ängstigen. Er will, daß ich in Schweiß ausbreche… will, daß ich um Gnade flehe… und das… das tu ich nicht… auf keinen Fall.

«Ich bin hergekommen, um’s zu tun«, sagte er.»Seit Tagen sitze ich hier und denke daran. Denke an Sie, an Sie ohne Hände… nur zwei solche Stümpfe… zwei Plastikhaken.«

Geh zum Teufel, dachte ich.

«Heute«, fuhr er fort,»heute habe ich angefangen, auch an mich zu denken. Ich schieße Sid Halley die rechte Hand ab, und was habe ich davon?«Er sah mich mit noch größerer Eindringlichkeit an.»Ich habe die Genugtuung, Sie erledigt, aus dem halben Krüppel einen ganzen gemacht zu haben. Ich kriege meine Rache… eine schreckliche, schöne Rache. Und was kriege ich sonst noch? Zehn Jahre vielleicht. Man kann für schwere Körperverletzung auch lebenslänglich kriegen, wenn sie schwer genug ist. Beide Hände, das wäre vielleicht schwer genug. Das habe ich gedacht, als ich heute hier saß und wartete. Und ich habe daran gedacht, mit was für Gefühlen sie mir im Knast begegnen würden, weil ich Ihnen die andere Hand weggeschossen habe. Ausgerechnet Ihnen. Da wär's schon besser, Sie gleich umzubringen. Das habe ich gedacht.«

Ich dachte benommen, daß ich auch nicht ganz sicher war, ob ich nicht lieber tot wäre.

«Heute abend«, sagte er,»nachdem Sie für zehn Minuten zurückgekommen und dann wieder weggefahren waren, habe ich mir vorgestellt, wie ich im Gefängnis verfaule, Jahr für Jahr, und mir dabei dauernd wünsche, ich hätte genug Verstand gehabt und die Finger von Ihnen gelassen. Ich sagte mir, daß es sich nicht lohnt, bloß für die Gewißheit, Sie so oder so erledigt zu haben, jahrelang im Knast zu sitzen. Deshalb habe ich mich kurz vor Ihrer Rückkehr entschlossen, es nicht zu tun. Ich wollte Sie bloß zwingen, mich auf Knien anzuwinseln. Das sollte meine Rache sein. Ich wollte Sie immer daran erinnern, Ihr ganzes Leben lang. Ich wollte aller Welt erzählen, wie Sie vor mir gekrochen sind. Wollte alle damit zum Kichern bringen.«

Mein Gott! dachte ich.

«Ich hatte vergessen«, sagte er,»was Sie für ein Bursche sind. Daß Sie Nerven aus Stahl haben. Nein, ich werde Sie nicht erschießen. Wie ich schon sagte, es lohnt nicht.«

Er drehte sich abrupt um, bückte sich und schob eine Hand unter die Rolltür. Hob sie an, schob sie nach oben.

Der Nieselregen draußen sah im Dunkeln aus wie ein Schwarm kleiner, silberner Fischchen, und die frische Nachtluft wehte sanft zu uns in die Garage.

Er stand einen Augenblick bewegungslos da und brütete vor sich hin, das Gewehr in der Hand — und dann gab er mir zurück, was er mir in der Scheune genommen hatte.

«Gibt’s denn absolut gar nichts«, sagte er bitter,»wovor Sie sich fürchten?«

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