Kapitel 5

Von Oxford aus fuhr ich westwärts nach Gloucestershire und erreichte das Gestüt von Garvey zu einer schicklichen Besuchszeit — Sonntagvormittag, elf Uhr dreißig. Tom Garvey, der sich gerade auf dem Hof mit seinem Futtermeister unterhielt, kam, als ich den Wagen zum Stehen gebracht hatte, zu mir herüber.

«Sid Halley!«rief er aus.»So eine Überraschung. Was wollen Sie?«

Ich grinste ihn durch das offene Seitenfenster an.»Wieso glaubt eigentlich jeder, der mich sieht, ich wollte was von ihm?«

«Na, hören Sie mal! Der im Augenblick beste Schnüffler der Branche, wie es heißt. Wir kriegen auch das eine oder andere mit, wir tumben Landbewohner, doch, doch.«

Ich kletterte lächelnd aus dem Auto und reichte einem sechzigjährigen Beinaheschurken die Hand, der vom tum-ben Landbewohner ungefähr so weit entfernt war wie Alaska vom Kap Hoorn. Ein Baum von einem Mann mit unerschütterlichem Selbstvertrauen, einer lauten, gebieterischen Stimme und der Verschlagenheit eines Zigeuners. Seine Hand in der meinen war so hart wie sein Geschäftsgebaren und so trocken wie seine ganze Art. Grob zu Menschen, sanft zu Pferden. Sein Erfolg war dauerhaft, und wenn ich gründliche Blutuntersuchungen der Fohlen in seinem Stall hätte vornehmen lassen, ehe ich von ihrer

Abstammung überzeugt war, so hätte ich mich wohl einer Minderheit zurechnen müssen.

«Also, hinter was sind Sie denn nun her, Sid?«sagte er.

«Ich wollte mir eine Stute ansehen, Tom. Sie steht hier bei Ihnen. Bin ganz allgemein an ihr interessiert.«

«Ach ja? Welche denn?«

«>Bethesda<.«

Sein Ausdruck wechselte übergangslos von halber Belustigung zu absolutem Nichtbelustigtsein. Seine Augen verengten sich, und er sagte barsch:»Was ist mit ihr?«

«Na ja… hat sie beispielsweise gefohlt?«

«Sie ist tot.«

«Tot?«

«Sag ich doch. Sie ist tot. Sie kommen besser mal mit ins Haus.«

Er drehte sich um und stapfte mir voraus. Sein Haus war alt, dunkel und muffig. Alles Leben spielte sich draußen ab, auf den Koppeln, in der Deckstation, in den Boxen, in denen die Stuten ihre Fohlen warfen. Hier drinnen tickte eine schwere Uhr in die Stille hinein, und in der Luft lag kein Sonntagsbratenduft.

«Kommen Sie herein.«

Der Raum, in den er mich führte, war eine Mischung aus Eßzimmer und Büro — ein wuchtiger alter Tisch und ebensolche Stühle auf der einen Seite, Aktenschränke und abgewetzte Sessel auf der anderen. Kein Versuch, durch kosmetische Maßnahmen das Wohlgefallen der Besucher zu erregen. Verkäufe wurden draußen abgeschlossen, ohne große Formalitäten.

Tom setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, und ich hockte mich auf die Lehne eines der Sessel — es war nicht die Art von Unterhaltung, zu der man sich entspannt und bequem niederließ.

«Nun mal raus damit«, sagte er.»Warum erkundigen Sie sich nach>Bethesda

«Ich hab mich halt gefragt, was aus ihr geworden ist.«

«Machen Sie mir doch nichts vor, teurer Freund. Sie fahren bestimmt nicht die ganze Strecke hier raus, nur weil sie ganz allgemein an dem Pferd interessiert sind. Wozu brauchen Sie die Informationen?«

«Ein Klient von mir möchte sie haben.«

«Welcher Klient?«

«Wenn ich für Sie arbeiten würde«, sagte ich,»und Sie hätten mich um Verschwiegenheit gebeten, meinen Sie, ich würde Ihren Namen nennen?«

Er betrachtete mich mit säuerlicher Aufmerksamkeit.

«Nein, alter Junge, wahrscheinlich nicht. Und was >Be-thesda< angeht, gibt’s da eigentlich auch keine großen Geheimnisse. Sie ist beim Fohlen eingegangen. Das Fohlen hat ebenfalls nicht überlebt. Wäre ein Hengst geworden, allerdings kein sehr kräftiger.«

«Tut mir leid«, sagte ich.

Er zuckte die Achseln.»Kommt halt vor. Allerdings nicht sehr oft. Das Herz hat versagt.«

«Das Herz?«

«Genau. Das Fohlen hatte die falsche Lage, und die Stute hat sich zu lange quälen müssen. Als wir merkten, daß es Probleme gab, konnten wir das Fohlen zwar noch in ihr drehen, aber dann hat sie ganz plötzlich aufgegeben. Nichts mehr zu machen. Mitten in der Nacht, natürlich, das ist ja meistens so.«

«War ein Tierarzt da?«»Klar war einer da. Ich hab ihn angerufen, als es bei ihr losging, weil sich absehen ließ, daß es eine heikle Sache werden könnte. Erster Wurf, die Herzgeräusche und so weiter.«

Ich runzelte die Stirn.»Hatte sie den Herzfehler schon, als sie herkam?«

«Aber sicher doch, alter Junge. Deshalb ließ man sie ja auch keine Rennen mehr laufen. Sie wissen nicht sehr viel über sie, was?«

«Nein«, sagte ich.»Erzählen Sie mal.«

Er zuckte mit den Schultern.»Sie kam bekanntlich aus dem Stall von George Caspar. Ihr Besitzer wollte sie wegen ihrer Form als Zweijährige zur Zuchtstute machen, also haben wir sie von Timberley decken lassen, was uns einen Flieger hätte bescheren sollen. Tja, aber so geht’s halt manchmal. Die allerschönsten Pläne und bums, aus.«

«Wann ist sie eingegangen?«

«Vor einem Monat, so ungefähr.«

«Danke, Tom. «Ich stand auf.»Danke für die Zeit, die Sie mir geopfert haben.«

Er schob sich von der Tischkante herunter.»Ziemlich lahme Sache für Sie, diese Rumfragerei, was? Ich bringe das noch immer nicht mit dem alten Sid Halley zusammen, der mit Karacho und Mumm über die Hindernisse gesaust ist.«

«Die Zeiten ändern sich, Tom.«

«Tja, ist wohl so. Aber ich wette, daß es Ihnen fehlt, das Gebrüll auf den Tribünen, wenn Sie ans letzte Hindernis kommen und Ihr Pferd drüberlüpfen. «Sein Gesicht spiegelte erinnerte Erregung wider.»Mein Gott, das war schon toll. Als könnte Sie aber auch gar nichts erschüttern… Weiß wirklich nicht, wie Sie das immer gemacht haben.«

Wahrscheinlich meinte er es gut, aber ich wünschte mir dennoch, er würde damit aufhören.

«Schon großes Pech, daß Sie Ihre Hand verloren haben. Aber bei Jagdrennen ist das eben drin. Daß man sich das Kreuz bricht und so. «Wir setzten uns in Richtung auf die Tür in Bewegung.

«Wer solche Rennen reitet, muß die Risiken in Kauf nehmen.«

«So ist es«, sagte ich.

Wir gingen hinaus zu meinem Wagen.

«Sie kommen mit diesem Apparat da aber ganz gut zurecht, oder? Ich meine, Sie können damit Auto fahren und so.«

«Ist ’ne feine Sache.«

«Na prima, alter Junge. «Er wußte, daß es das nicht war. Er wollte mich wissen lassen, daß es ihm leid tat, und er hatte sein Bestes gegeben. Ich lächelte ihm zu, stieg ein, hob grüßend die Hand und fuhr davon.

In Aynsford hatten sie sich im Wohnzimmer versammelt und tranken einen Sherry vor dem Essen — Charles, Toby und Jenny.

Charles reichte mir ein Glas Fino, Toby sah an mir herunter, als käme ich geradewegs aus dem Schweinestall, und Jenny berichtete, daß sie mit Louise telefoniert hatte.

«Wir dachten schon, du wärst weggelaufen. Du hast die Wohnung bereits vor zwei Stunden verlassen.«

«Sid läuft nicht weg«, sagte Charles in einem Ton, als stelle er eine Tatsache fest.

«Dann hinkt er eben weg«, sagte Jenny.

Toby warf mir über den Rand seines Glases spöttische Blicke zu — er genoß den kleinen Triumph über den aus dem Feld geschlagenen Nebenbuhler. Ich fragte mich, ob er wirklich begriffen hatte, wie stark Jennys Gefühle für Nicholas Ashe waren, oder ob es ihm, wenn er es wußte, einfach egal war.

Ich nahm einen Schluck Sherry — ein dünner, trockener Geschmack, dem Anlaß durchaus angemessen. Essig wäre vielleicht noch passender gewesen.

«Wo hast du eigentlich die ganze Möbelpolitur gekauft?«fragte ich.

«Daran kann ich mich nicht erinnern. «Sie sprach deutlich, betonte jede Silbe, stellte sich absichtlich stur.

«Jenny!«protestierte Charles.

Ich seufzte.»Die Polizei hat die Rechnungen, Charles, und da stehen Name und Adresse der Wachsfirma drauf. Könntest du deinen Freund Oliver Quayle bitten, sie bei der Polizei in Erfahrung zu bringen und mir zukommen zu lassen?«

«Sicher doch«, sagte er.

«Ich sehe nicht ein«, sagte Jenny in unverändertem Tonfall,»was es nützt, wenn er weiß, wer das Wachs geliefert hat.«

Es schien, als stimme ihr Charles im stillen zu. Ich enthielt mich einer Äußerung, denn es war nicht auszuschließen, daß die beiden recht hatten.

«Louise meinte, du hättest stundenlang herumgeschnüf-felt.«

«Sie gefiel mir«, sagte ich milde.

Wie stets, verriet Jennys Nase ihr Mißfallen.»Sie ist dir haushoch über, Sid«, sagte sie.

«Inwiefern?«

«Grips, mein Liebling.«

Charles fragte besänftigend:»Jemand noch Sherry?«, und ging herum, um nachzuschenken. Zu mir bemerkte er:»Ich glaube, Louise hat ihr Mathematikstudium in Cambridge mit Prädikatsexamen abgeschlossen. Ich habe einmal mit ihr Schach gespielt… du würdest sie mit Leichtigkeit schlagen.«

«Auch ein Großmeister«, sagte Jenny,»kann Zwangsvorstellungen haben, dumm sein und unter Verfolgungswahn leiden.«

Das Essen verlief in ähnlicher Atmosphäre, und anschließend ging ich hinauf, um meine paar Sachen zu pak-ken. Während ich noch damit beschäftigt war, kam Jenny herein und sah mir zu.

«Du benutzt diese Hand aber nicht sehr oft«, sagte sie.

Ich antwortete nicht.

«Ich weiß wirklich nicht, wozu du sie überhaupt hast.«

«Hör auf, Jenny.«

«Wenn du getan hättest, worum ich dich immer gebeten habe, nämlich mit der Rennreiterei Schluß zu machen, dann hättest du sie auch nicht verloren.«

«Wahrscheinlich nicht.«

«Dann hättest du noch eine richtige Hand und nicht einen halben Arm… einen Stumpf.«

Ich warf meine Waschtasche zu heftig in den Koffer.

«Die Reiterei kam immer zuerst. Immer und ewig. Hingabe und Sieg und Ruhm. Und ich konnte sehen, wo ich blieb. Du hast es wirklich verdient. Wir wären noch verheiratet… du hättest deine Hand noch. wenn du nur deine ach so geliebte Reiterei aufgegeben hättest, als ich dich darum bat. Der Champion zu sein, das war dir immer wichtiger als ich.«

«Das haben wir uns doch alles schon wer weiß wie viele Male erzählt.«

«Jetzt ist dir nichts mehr geblieben, gar nichts mehr. Ich hoffe, du bist zufrieden.«

Das Aufladegerät für die Batterien stand auf einer Kommode, zwei steckten drin. Sie zog den Stecker heraus und warf das Gerät aufs Bett. Die Batterien fielen heraus und rollten über die Tagesdecke.

«Es ist widerlich«, sagte sie und sah darauf nieder.»Abstoßend.«

«Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. «Mehr oder weniger jedenfalls.

«Dir scheint das gar nichts auszumachen.«

Ich sagte nichts. Es machte mir sehr wohl etwas aus.

«Macht es dir Spaß, ein Krüppel zu sein, Sid?«

Spaß… du lieber Himmel!

Sie ging zur Tür, und ich stand da und sah auf das Ladegerät hinab.

Ich spürte mehr, als daß ich es sah, wie sie unter der Tür stehenblieb, und fragte mich benommen, was ihr eigentlich noch zu sagen blieb.

Ihre Stimme drang klar und deutlich an mein Ohr.

«Nicky hat ein Messer im Strumpf.«

Ich wandte schnell den Kopf. Sie sah mich trotzig, zugleich aber auch erwartungsvoll an.»Stimmt das?«fragte ich.

«Manchmal.«

«Wie pubertär«, sagte ich.

Sie erregte sich.»Und was ist so überaus erwachsen daran, auf Pferden herumzusausen und zu wissen… zu wissen, daß das zu Verletzungen und Knochenbrüchen führen muß?«

«Daran denkt man einfach nie.«

«Und das ist immer ein Irrtum.«

«Ich tu’s ja nicht mehr.«»Aber du würdest, wenn du könntest.«

Darauf gab es keine Antwort, denn wir wußten beide, daß es der Wahrheit entsprach.

«Sieh dich doch an«, sagte Jenny.»Du mußt die Rennreiterei aufgeben, und was tust du? Suchst du dir etwa einen netten, ruhigen Job als Börsenmakler, was du durchaus könntest, und fängst ein ganz normales Leben an? Aber woher denn. Du stürzt dich geradewegs in etwas hinein, was Auseinandersetzungen, Schlägereien und Verfolgungsjagden mit sich bringt. Du kannst ohne Gefahr einfach nicht leben, Sid. Du glaubst das vielleicht nicht, aber die Gefahr ist wie eine Droge für dich. Du brauchst dir nur vorzustellen, du würdest in einem Büro arbeiten, von neun bis fünf, morgens rein, abends raus, wie jeder andere vernünftige Mensch auch, dann weißt du, wie recht ich habe.«

Ich dachte schweigend darüber nach.

«So ist es doch«, sagte sie.»Du würdest in einem Büro eingehen.«

«Und welche Sicherheit verleiht ein Messer im Strumpf?«fragte ich.»Ich war schon Jockey, damals, als wir uns kennengelernt haben, und du hast gewußt, was das bedeutet.«

«Nicht im einzelnen. Nichts von all den Verletzungen, dem Verzicht auf Essen und Trinken. und die Hälfte der Zeit sogar auf Sex.«

«Hat er dir das Messer gezeigt, oder hast du es zufällig gesehen?«

«Was macht das für einen Unterschied?«

«Ist er nur pubertär… oder wirklich gefährlich?«

«Na bitte, da haben wir’s«, sagte sie.»Dir wäre es lieber, wenn er gefährlich wäre.«

«Um deinetwillen nicht.«»Na ja… ich hab’s gesehen. Er trägt es in einer schmalen Scheide ans Bein geschnallt. Und er hat einen Witz darüber gemacht.«

«Aber du hast es mir erzählt«, sagte ich.»War das als Warnung gedacht?«

Sie wirkte plötzlich unsicher und verwirrt, runzelte die Stirn und entfernte sich unvermittelt den Flur hinunter.

Falls das bedeutete, daß ihre Nachsicht gegenüber dem hochgeschätzten Nicky einen ersten Knacks bekommen hatte, so sollte es mir recht sein.

Am Dienstagmorgen holte ich Chico ab, und wir fuhren zusammen hinauf nach Newmarket. Ein windiger, heller Tag, gelegentlich Regenschauer, ziemlich kühl.

«Wie bist du denn mit deiner Verflossenen zurechtgekommen?«

Er hatte sie nur einmal erlebt und danach als unvergeßlich bezeichnet, wobei der Unterton in seiner Stimme diesem Wort Mehrdeutigkeit verliehen hatte.

«Sie hat Probleme«, sagte ich.

«Schwanger?«

«Es gibt auch noch andere Arten von Problemen.«

«Ehrlich?«

Ich erzählte ihm von dem Betrug und von Ashe und von seinem Messer.

«Da ist sie ja ganz schön im Dreck gelandet«, sagte Chico.

«Volle Bauchlandung.«

«Und wenn wir sie wieder saubermachen… bekommen wir dann was dafür?«

Ich warf ihm einen Seitenblick zu.

«Ach so«, sagte er.»Dachte ich mir’s doch. Wir ma-chen’s mal wieder umsonst, was? Ein Glück, daß du so betucht bist, Sid, von wegen meinem Honorar. Nach Weihnachten mal wieder mit irgendwas ein Vermögen gemacht, wie?«

«Im wesentlichen Silber. Und Kakao. Kauf und Verkauf.«

«Kakao?«Er war fassungslos.

«Bohnen«, sagte ich.»Schokolade.«

«Nußriegel?«

«Nein, Nüsse nicht. Zu riskant.«

«Ich weiß wirklich nicht, wo du die Zeit hernimmst.«

«Braucht nicht länger, als Miezen in der Bar anzumachen.«

«Was willst du eigentlich mit dem ganzen Geld?«

«Ist einfach eine Gewohnheit«, antwortete ich.»Wie essen.«

Wir fuhren in bester Stimmung bis kurz vor Newmarket, besahen uns die Karte, fragten dann ein paar Einheimische und gelangten schließlich zu dem unglaublich gepflegten Gestüt von Henry Thrace.

«Hör dich mal ein bißchen bei den Stallburschen um«, sagte ich, und Chico meinte:»Mach ich. «Dann stiegen wir aus und betraten den sorgfältig geharkten Kiesweg. Ich trennte mich von Chico und begab mich auf die Suche nach Henry Thrace, der sich nach Aussage einer an der Haustür erscheinenden Putzfrau» da hinten rechts, in seinem Büro «befand. Da war er tatsächlich, saß aber fest schlafend in einem Sessel.

Mein Eintritt weckte ihn, und er kam mit der Plötzlichkeit von Leuten zu sich, die an oft unterbrochenen Nachtschlaf gewöhnt sind. Ein noch junger Mann, sehr glatt, das genaue Gegenteil des derben, harten, verschlagenen Tom Garvey. Für Thrace ging es — so die landläufige Meinung — bei der Pferdezucht ausschließlich ums große Geld. Sich mit den Tieren abzugeben, das war Sache der einfacheren Sterblichen. Seine ersten Worte wollten jedoch gar nicht zu diesem Image passen.

«Pardon«, sagte er nämlich.»War die halbe Nacht auf den Beinen… äh, wie war doch gleich der Name? Sind wir miteinander verabredet?«

«Nein. «Ich schüttelte den Kopf.»Ich habe nur gehofft, Sie kurz sprechen zu können. Mein Name ist Sid Halley.«

«So? Irgendwie verwandt mit… großer Gott, Sie sind es selbst.«

«Ja.«

«Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie einen Kaffee?«Er rieb sich die Augen.»Mrs. Evans macht uns einen.«

«Bitte keine Umstände. Außer.«

«Nein. Schießen Sie los. «Er blickte auf die Uhr.»Reichen zehn Minuten? Ich habe nämlich noch einen Termin in Newmarket.«

«Es geht eigentlich um nichts Besonderes«, sagte ich.»Ich bin bloß gekommen, um mich nach dem Gesundheitszustand und so weiter von zwei Hengsten zu erkundigen, die hier bei Ihnen stehen.«

«Aha. Welche denn?«

«>Gleaner< und >Zingaloo<.«

Wir brachten das Übliche hinter uns — warum ich das wissen wolle, und wie er dazu käme, mir darüber Auskunft zu geben —, aber schließlich zuckte er wie Tom Garvey die Achseln und meinte, ich könne es wohl ruhig wissen.

«Ich nehme an, ich sollte das besser nicht sagen, aber Sie sollten Ihrem Klienten nicht dazu raten, Anteile an den

Pferden zu erwerben«, sagte er. Er ging offenbar davon aus, daß dies der eigentliche Zweck meiner Erkundigungen war.»Sie könnten beide Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer Deckquote bekommen, obwohl sie erst vier sind.«

«Wie das?«

«Beide haben ein schwaches Herz. Sind sehr schnell erschöpft.«

«Beide?«

«Ja. Deshalb war für sie als Dreijährige Schluß mit den Rennen. Und ich habe den Eindruck, daß es seitdem schlimmer geworden ist.«

«Jemand hat gemeint, >Gleaner< lahmt.«

Henry Thrace warf mir einen resignierten Blick zu.»Er hat seit neuestem Arthritis. In dieser verdammten Stadt läßt sich aber auch gar nichts geheimhalten. «Auf seinem Schreibtisch schrillte ein Wecker los. Er griff danach und stellte ihn ab.»Wird leider Zeit für mich. «Er gähnte.»Um diese Jahreszeit komme ich kaum noch aus den Kleidern. «Er nahm einen batteriebetriebenen Rasierer aus einem der Schubfächer und ging seinen Bart an.

«Ist das alles, Sid?«

«Ja«, sagte ich,»herzlichen Dank.«

Chico schloß die Autotür, und wir fuhren los, stadtwärts.

«Herzfehler«, sagte er.

«Herzfehler.«

«Ne richtige Epidemie, was?«

«Fragen wir mal Brothersmith, den Tierarzt.«

Chico nannte mir die Adresse: Middleton Road.

«Ja, ich weiß. Das war die Praxis vom alten Follett. Er war unser Tierarzt, früher, als ich noch hier war.«

Chico grinste.»Komisch, sich dich als kleinen, rotznasi-gen Lehrling vorzustellen, der vom Pferdemeister rumgescheucht wird.«

«Und mit Frostbeulen.«

«Gibt dir fast etwas Menschliches.«

Ich hatte fünf Jahre in Newmarket zugebracht, von meinem 16. bis zum 21. Lebensjahr. Lernte reiten, Rennen reiten, leben. Ich hatte einen guten Lehrer gehabt, und da ich tagtäglich seine Frau, seinen Lebensstil und seine administrativen Fähigkeiten vor Augen hatte, verwandelte sich der Junge aus ärmlichen Verhältnissen, der ich gewesen war, langsam in ein etwas kosmopolitischeres Wesen. Er brachte mir bei, mit dem Geld, das ich bald in größerem Stile zu verdienen begann, umzugehen, ohne daß es mir den Kopf verdrehte. Und als er mich dann schließlich ins Dasein entließ, merkte ich, daß er mir zu jenem Status verholfen hatte, den man allen Zöglingen seines Stalles zuerkannte. Ich hatte das Glück gehabt, bei einem solchen Lehrmeister in die Schule gehen zu dürfen, und das Glück, sehr lange in einem Beruf ganz oben sein zu können, den ich liebte. Und wenn mich mein Glück eines Tages verlassen hatte, dann war das eben Pech und nicht zu ändern.

«Weckt Erinnerungen, wie?«

«Ja.«

Wir fuhren an der weiten Fläche der Limekilns und an der Rennbahn vorbei Richtung Stadt. Es waren nicht viele Pferde zu sehen — nur in der Ferne ein spätes Lot, das von der Morgenarbeit zurückkehrte. Ich steuerte das Auto um vertraute Ecken und brachte es vor der Praxis des Tierarztes zum Stehen.

Mr. Brothersmith war nicht da. Wenn es dringend sei, sei er in einem Stall an der Bury Road zu finden, wo er nach einem Pferd schaue. Sonst sei er — wahrscheinlich — zum Lunch wieder zurück, also in etwa einer halben Stunde. Wir bedankten uns und setzten uns ins Auto, um auf ihn zu warten.

«Wir haben noch einen Auftrag bekommen«, sagte ich.»Syndikate überprüfen.«

«Ich dachte, das macht der Jockey Club immer selbst.«

«Ja, tut er auch. Unser Auftrag lautet genauer, den Mann vom Jockey Club zu überprüfen, der die Syndikate überprüft.«

Chico brauchte ein Weilchen, bis er das verdaut hatte.»Ganz schön knifflig, was?«

«Und ohne daß er was merkt.«

«Ach ja?«

Ich nickte.»Es ist der Ex-Superintendent Eddy Keith.«

Chicos Unterkiefer fiel herab.»Du machst Witze.«

«Nein.«

«Aber das ist doch ein Bulle. Der Bulle vom Jockey Club.«

Ich berichtete von Lucas Wainwrights Zweifeln, und Chico meinte, Lucas Wainwright müsse da was in den falschen Hals bekommen haben. Ich wies freundlich darauf hin, daß wir eben das ja herausfinden sollten.

«Und wie machen wir das?«

«Ich weiß es nicht. Was meinst du?«

«Du bist doch angeblich der Kopf dieses Unternehmens.«

Ein schlammbespritzter Range Rover bog in Brothers-miths Garageneinfahrt ein. Wie ein Mann entstiegen Chico und ich unserem Scimitar und gingen auf den in Tweed gekleideten Mann zu, der aus seinem Geländewagen kletterte.

«Mr. Brothersmith?«

«Ja? Was ist los?«

Er war jung und gehetzt und blickte ständig über seine Schulter, als säße ihm etwas im Nacken. Die Zeit vielleicht, dachte ich. Oder der Zeitmangel.

«Könnten wir Sie wohl mal kurz sprechen?«fragte ich.»Das ist Chico Barnes, und ich bin Sid Halley. Nur ein paar Fragen.«

Er registrierte den Namen, und sein Blick senkte sich sofort auf meine Hände und blieb schließlich an meiner Linken hängen.

«Sind Sie nicht der Mann mit der myoelektrischen Prothese?«

«Äh… ja«, sagte ich.

«Dann kommen Sie mal rein. Dürfte ich sie mir mal ansehen?«

Er drehte sich um und strebte dem Seiteneingang des Hauses zu. Ich stand bewegungslos da und wünschte, wir wären woanders.

«Los, Sid«, sagte Chico und ging ihm nach. Dann blieb er stehen und wandte sich zu mir um.»Nun tu ihm schon den Gefallen, dann hilft er uns vielleicht auch.«

Bezahlung in Naturalien, dachte ich — und der Preis gefiel mir gar nicht. Ich folgte Chico nur höchst unwillig in das, was sich als Brothersmiths Behandlungsraum herausstellte.

Er richtete in nüchtern-klinischem Ton eine Menge Fragen an mich, und ich beantwortete sie ihm ganz unpersönlich, wie ich es im orthopädischen Versorgungszentrum gelernt hatte.

«Können Sie das Gelenk auch drehen?«fragte er schließlich.

«Ja, ein wenig. «Ich führte es ihm vor.»Da ist so eine Art Pfanne drin, die genau auf meinen Armstumpf paßt, und eine zusätzliche Elektrode leitet die Drehimpulse weiter.«

Im Grunde wollte er, daß ich die Hand abnahm und sie ihm richtig zeigte, aber das hätte ich nie getan, und ihm war wohl klar, daß es keinen Zweck haben würde, mich darum zu bitten.

«Sie liegt am Ellbogen sehr eng an«, sagte er und fuhr mit dem Finger leicht über den Rand.

«Damit sie nicht abfällt.«

Er nickte.»Ist es leicht, sie anzulegen und wieder abzunehmen?«

«Talkumpuder«, sagte ich nur.

Chicos Mund ging auf und schloß sich wieder, als er meinen warnenden Blick auffing — und er sagte Brother-smith nicht, daß das Abnehmen der Prothese oft eine ganz entschieden unangenehme Sache war.

«Denken Sie daran, einem Pferd so ein Ding anzupassen?«fragte Chico.

Brothersmith hob sein immer noch gehetzt wirkendes Gesicht und antwortete ihm in vollem Ernst:»Technisch scheint das durchaus möglich zu sein, aber es ist fraglich, ob man ein Pferd so trainieren kann, daß es die Elektroden aktiviert. Und die Kosten ließen sich wohl nur schwer rechtfertigen.«

«War nur ein Scherz«, sagte Chico schwach.

«So? Verstehe. Aber das hat es durchaus schon gegeben, daß man einem Pferd eine Prothese angepaßt hat. Ich hab neulich von einer sehr wertvollen Zuchtstute gelesen, der man mit Erfolg ein künstliches Vorderbein angemessen hat. Sie wurde danach gedeckt und brachte ein gesundes Fohlen zur Welt.«»Aha«, sagte Chico.»Das ist übrigens auch der Grund unseres Kommens. Eine Zuchtstute. Nur, daß sie eingegangen ist.«

Brothersmith wandte seine Aufmerksamkeit zögernd von künstlichen Gliedmaßen ab und Pferden mit schwachen Herzen zu.

«>Bethesda<«, sagte ich, während ich meinen Hemdsärmel herunterrollte und den Manschettenknopf schloß.

«>Bethesda

«Eine Stute von George Caspar«, sagte ich.»Hat als Zweijährige alle geschlagen und konnte als Dreijährige auf Grund von Herzgeräuschen keine Rennen mehr laufen. Sie kam in die Zucht, aber ihr Herz versagte beim Fohlen.«

«Ach Gott«, sagte er, und zur Besorgtheit gesellte sich Bekümmerung.»Was für ein Jammer. Aber es tut mir leid, ich behandle so viele Pferde und weiß oft nicht einmal ihre Namen. Geht es um eine Versicherungsfrage? Oder etwa um irgendwelche Versäumnisse? Denn ich versichere Ihnen.«

«Nein, nein«, sagte ich besänftigend,»nichts dergleichen. Können Sie sich vielleicht noch erinnern, ob Sie >Gleaner< und >Zingaloo< behandelt haben?«

«Ja, natürlich. Die beiden, ja. Wirklich schade für George Caspar. Absolut enttäuschend.«

«Erzählen Sie.«

«Da gibt’s eigentlich nicht viel zu erzählen. Nichts Ungewöhnliches. Nur, daß sie beide als Zweijährige so gut waren. Wahrscheinlich war das die Ursache ihrer Probleme, wenn man’s bei Licht besieht.«

«Was wollen Sie damit sagen?«fragte ich.

Seine nervöse Angespanntheit entlud sich in kleinen, zuckenden Kopfbewegungen, während er ein paar wenig schmeichelhafte Ansichten zum besten gab.»Nun ja, man zögert natürlich, Spitzentrainern wie Caspar so etwas zu sagen, aber man kann das Herz eines zweijährigen Pferdes nur allzu leicht überfordern, und wenn die Zweijährigen gut sind, dann laufen sie in den großen Rennen, und der Leistungsdruck kann, wegen des Zuchtwertes und so weiter, enorm sein. Ein Jockey, der sich lediglich strikt an die taktischen Anweisungen hält, kann ein junges Pferd dermaßen treiben, daß es zwar gewinnt, dann aber auch für alle Zeiten ruiniert ist.«

«>Gleaner< hat das Doncaster Futurity gewonnen, bei sehr tiefem Geläuf«, sagte ich nachdenklich.»Ich habe das Rennen gesehen. Es war wirklich hart.«

«Das ist richtig«, sagte Brothersmith.»Ich habe ihn danach jedoch sehr gründlich untersucht. Die Schwierigkeiten traten nicht sofort auf, ja, eigentlich war gar nichts festzustellen. Bis er dann bei den 2000 Guineas lief. Von da kam er total erschöpft zurück. Zuerst dachten wir, es wäre das Virus, aber nach ein paar Tagen stellten wir dann einen sehr unregelmäßigen Herzschlag fest, und da war klar, was los war.«

«Was für ein Virus?«fragte ich.

«Da muß ich überlegen… Am Abend vor dem Guineas hatte er ganz leicht erhöhte Temperatur, als bekäme er die Pferdegrippe oder so etwas. Aber das Fieber klang dann wieder ab, es konnte also keine Grippe sein. Es war das Herz, aber das war nicht vorauszusehen.«

«Wie hoch ist der Prozentsatz der Pferde, die einen Herzschaden bekommen?«fragte ich.

Seine chronische Besorgtheit legte sich ein wenig, als er sich nun selbstsicher auf neutralen Boden begab.

«Vielleicht zehn Prozent haben einen unregelmäßigen Puls, was aber nicht immer etwas zu sagen hat. Besitzer kaufen solche Pferde nicht gern, aber sehen Sie sich etwa >Night Nurse< an, die das Championat gewonnen hat — sie hatte ein Herzgeräusch.«

«Aber wie oft haben Sie mit Pferden zu tun, die deswegen keine Rennen mehr laufen können?«

Er zuckte die Achseln.»Vielleicht zwei oder drei von hundert.«

George Caspar, überlegte ich, trainierte jährlich über hundertdreißig Pferde.

«Sind die Pferde von George Caspar im Durchschnitt anfälliger als die anderer Trainer?«erkundigte ich mich.

Die Besorgtheit kehrte in voller Stärke zurück.»Ich weiß nicht, ob ich diese Frage beantworten sollte.«

«Wenn die Antwort nein ist«, sagte ich,»wo liegt dann das Problem?«

«Aber der Grund Ihrer Frage.«

«Ein Klient«, log ich mit beklagenswerter Leichtigkeit,»möchte wissen, ob er George Caspar einen vielversprechenden Einjährigen anvertrauen kann. Er hat mich gebeten, mich nach >Gleaner< und >Zingaloo< zu erkundigen.«

«Ah, ich verstehe. Also nein, ich glaube nicht, daß es bei ihm mehr sind. Jedenfalls nicht signifikant mehr. Caspar ist natürlich ein vorzüglicher Trainer. Wenn Ihr Klient nicht der Habgier erliegt, sobald sein Pferd zwei Jahre alt ist, geht er nicht das geringste Risiko ein.«

«Vielen Dank«, sagte ich, stand auf und gab ihm die Hand.

«Ich nehme an, daß >Tri-Nitro< nichts am Herzen hat?«

«Überhaupt nichts. Der ist kerngesund. Sein Herz schlägt wie ein Gong, laut und rein.«

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